Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 08. März 2014, 11.05 - 12.00 Uhr "Adéu Espanya" Der Separatismus in Katalonien und die spanische Wirtschaftskrise Mit Reportagen von Hans-Günter Kellner Moderation und Musikauswahl: Simonetta Dibbern Redaktion: Thilo Kößler (DLF 2013) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Der Bürgermeister einer Kleinstadt nördlich von Barcelona, der aus Überzeugung nicht spanisch spricht, sondern ausschließlich katalanisch: Ich bin nur in die Politik gegangen, um für die Unabhängigkeit meines Landes zu arbeiten. Ich fühle aber auch eine starke soziale Verpflichtung für meine Gesellschaft. Ich bin ein Linker, ich möchte eine andere Gesellschaft als diese, die den Unternehmern alle Rechte einräumt, während sie die Privatleute enteignet. Und ein Radiomoderator , der sich von den katalonischen Separatisten distanziert: Wenn sie eines Tages wirklich für die Unabhängigkeit entscheiden, müssen sie diese Reise ohne mich fortsetzen. Ich liebe dieses Land. Aber wenn wir auf die Straße gehen und hier die Menschen nach ihren 20 größten Problemen fragen, dann hacke ich mir die Hand ab, wenn das auch nur eines davon ist. Vielleicht sollten wir besser die echten Probleme der Menschen lösen, als uns mit unsinnigen Dingen zu beschäftigen. Gesichter Europas. Adéu Espanya. Der Separatismus in Katalonien und die spanische Wirtschaftskrise. Eine Sendung mit Reportagen von Hans-Günter Kellner. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern. Barcelona im Sommer 2010: hunderttausende Menschen ziehen durch die Innenstadt und schwenken die Senyera, die katalanische Flagge: 4 rote Streifen auf gelbem Grund. "Wir sind eine Nation, wir entscheiden!" skandieren sie und: Independencia, Unabhängigkeit. Auslöser für den Massenprotest war das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts, das einige Artikel des neuen Autonomiestatuts revidiert hatte. Inhaltlich handelte es sich um Kleinigkeiten. Es war vor allem das Vorgehen, das die Demonstranten erzürnte: weil sich die Behörde in Madrid über das hinweggesetzt hatte, was die Regionalregierung in Barcelona ausgehandelt und was anschließend die katalanische Bevölkerung per Referendum verabschiedet hatte. Katalonien. Eine von 17 Autonomen Gemeinschaften Spaniens. Neben dem Baskenland und Galicien eine der drei historischen Autonomen Gemeinschaften mit weitergehenden Autonomierechten, weil sie sich als Nation verstehen, im Sinne einer Kulturnation: mit einer eigenen Sprache, eigener Kunst, eigener Rechtstradition und eigener Geschichte. Überall in Katalonien, auch im französischen Teil, wächst das kulturelle Selbstbewusstsein. Doch die Stimmen, die darüberhinaus auch politische Autonomie fordern, werden lauter. Der Staat Katalonien wäre ein kleiner Staat: etwa so groß wie Belgien, gut 7 Millionen Einwohner. Zwischen Pyrenäen und Costa Brava gelegen, im Norden grenzend an Andorra und die französische Region Languedoc-Roussillon und im Süden an die spanische Region Valencia. Dass hier schon einmal eine Grenze verlief, davon zeugt die mittelalterliche Burgruine in Ulldecona. Das Städtchen war damals schon ein Grenzort gewesen, zwischen dem christlichen Katalonien und dem maurisch beherrschten Gebiet der iberischen Halbinsel. Die Fahrt führt durch ein weit gestrecktes, flaches Tal. Ohne sein Auto könnte Agustí Vericat seine Arbeit wohl nicht machen. Der Historiker ist in Ulldecona für das kulturelle Erbe zuständig, und das ist vielfältig und liegt in dieser Flächengemeinde weit verstreut: In Ulldecona haben wir hat sehr viele archäologische Funde, viele in sehr schlechtem Zustand. Die Felsmalereien sind Weltkulturerbe. Wir haben eine mittelalterliche Burg, 5 Dörfer aus der Zeit der Iberer. Überreste der arabischen Zeit, vor von ihrer Bewässerungstechnik. Darum sprechen wir hier von einem Spaziergang durch die Geschichte. Denn wir haben hier Zeugen von 8.000 Jahren der Geschichte der Menschheit. Augustí fährt hoch zur Burg von Ulldecona. Sie stammt aus der Zeit der muslimischen Herrschaft auf der iberischen Halbinsel. Die Christen erweiterten sie im 12. Jahrhundert nach der Vertreibung der Mauren aus dem Süden Kataloniens als letzten Vorposten vor dem muslimisch beherrschten Emirat Valencia. Eine enge Straße windet sich den Berg hinauf, in der Ferne sieht man das Meer. Jetzt im Frühling ist der Ausblick über das Tal fantastisch. Die Via Augusta lag ja dort unten im Tal. Die Soldaten Cartagos sind hier vorbeimarschiert. Da hinten ist schon die Küste Valencias, Viñaròs, dort hinten sieht man sogar die Burg von Peñiscola. Etwa 800 Meter vor uns verläuft der Fluss Cenia, der die Grenze zwischen den Regionen Valencia und Katalonien bildet. Es ist keine große Festung, eher ein kleiner Vorposten. Weit reicht der Blick in die Region Valencia hinein. Im Burghof haben Soldaten gelebt, erzählt Agustí. Wird Katalonien ein eigener Staat, würde hier die Grenze zu Spanien verlaufen. Agustí schüttelt mit dem Kopf: Nein, eine Grenze kann er sich hier nicht vorstellen, so sehr er sich auch für die Unabhängigkeit ausspricht: Viele Leute haben Angst davor, dass hier irgendwann mal wieder eine richtige Grenze wäre. Wie im Mittelalter. Nein, wenn es zur Unabhängigkeit kommt, werden wir weiterhin ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis pflegen müssen. Grenzen sind in Europa doch eher eine Fiktion. Wir wollen hier keinen Stacheldraht. Aber die spanische Regierung macht den Menschen Angst, dass es so weit kommen könnte. Dabei wollen wir so etwas nicht. Ein paar Kilometer weiter, die Sonne steht inzwischen schon hoch im Zenit, läuft Agustí einen Weg an einem steilen Berghang entlang. Das Atmen fällt ihm schwer, er ist erkältet. Aber auf diesen Hang ist er besonders stolz. Vor 6.000 Jahren bemalten die Menschen hier die Felsen. Agustí hat die Gegend einzäunen lassen, damit niemand dieses Kulturerbe zerstört. Vor einer Felswand bleibt er stehen und erklärt die Details der Zeichnungen: Das ist eine Treibjagd. Die Jäger sind in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine kommt von rechts und jagt die Tiere auf diesen Hang zu. Die Felsen bilden ein natürliches Nadelöhr, das ist eine Falle. Diese vier Jäger rennen den Tieren hinterher. Sie haben Schmuck unter den Knien, Taschen an den Hüften und Pfeil und Bogen in den Händen. Der hier hat Federn auf dem Kopf. Weiter oben sehen wir eine zweite Gruppe. Sie schießen von oben ihre Bögen auf die Tiere ab. Diese Jäger haben Verzierungen an den Beinen. Es ist fast wie ein Comic, die Handlung beginnt rechts und erzählt chronologisch von der Jagd. Ein dreifach geschwungener Bogen fasziniert Agustí besonders. Nur ein Jäger trägt ihn. Das dokumentiere gegenüber den einfach geschwungenen Bögen der übrigen Jäger den technischen Fortschritt 4.000 vor Christus, erklärt er begeistert. In der Nähe von Castellón in der Nachbarregion Valencia sind ganz ähnliche Zeichnungen entdeckt worden: In Castellón sind sie etwas größer. Aber es gibt dort Zeichnungen, die absolut identisch mit diesen hier sind. Thematisch, die Formen, die Haartracht, die Gelenke. Es könnte Ähnlichkeiten geben, aber die sind sich so zum Verwechseln ähnlich, dass wir denken, dass hier die gleichen Maler am Werk waren. Wir wissen, dass diese Gruppen nicht weiter nördlich gezogen sind. Der Ebro-Strom bildete eine natürliche Grenze. Aber Castellón gehörte zu ihrem Gebiet dazu. Eine recht normale Situation, wie es sie noch heute gibt, meint Agustí. Die Kontakte der Menschen aus Ulldecona seien nach Viñaròs im Süden viel intensiver als etwa nach Tortosa, wohin man eigentlich nur für Behördengänge fährt, gibt er zu bedenken. Doch der Süden, das ist Valencia, Spanien. Und die Maler an diesen Felsen, waren das nun Katalanen oder Spanier? Das waren, hm... weder noch. Die Grenzen sind später entstanden. Wir arbeiten jetzt immer enger mit den Leuten aus dem Norden Castellóns zusammen. Wir haben gerade eine Vereinbarung unterzeichnet. Du siehst, wir wollen nicht dividieren, wir wollen summieren. Unabhängig von unseren nationalen Zielen. Wir können nicht ignorieren, dass wir uns gegenseitig brauchen. Wenn wir hier auf kulturellem Gebiet zusammenarbeiten, haben wir beide etwas davon. Aber auf die nationalen Ziele wollen wir nicht verzichten. Für eine bessere Zukunft. Adéu Espanya. Die Parole der katalanischen Separatisten ist nicht irgendeine Abschiedsformel. Sondern: ein Zitat. Mit diesen zwei Worten nämlich endet die "Ode an Spanien", geschrieben im Jahr 1898 von dem Dichter und Politiker Joan Margall. Ein Text, der die Idee der Nation in Worte fasste. Doch die Wiedergeburt der katalanischen Nation währte nur kurz: Unter Franco war es verboten, Katalanisch zu sprechen, sogar die Namen wurden hispanisiert. Wer konnte, floh nach Frankreich. Auch die Grande Dame der katalanischen Literatur verbrachte einen großen Teil ihres Lebens im Exil: Mercè Rodoreda. Erst in Frankreich dann in der Schweiz schrieb sie gleichwohl in ihrer Muttersprache: der Roman "Auf der Plaça del Diamant" gilt als Meisterwerk der katalanischen Literatur. Erst nach Francos Tod ist Mercè Rodoreda in ihre Heimat zurückgekehrt, nach Girona. Hier entstand ihre Sammlung von poetischen Prosastücken: "Richtige Blumen". Kurze symbolträchtige Texte, die in vielerlei Weise zu deuten sind - versponnen und surreal sind sie allemal. Verpflanzte Blume In einem kleinen Weidedorf war das Licht voller Blumen. Blumen der Familie der Rosengewächse, mit ovalen Blättern, lanzettförmig, gezackt und pelzig auf der Unterseite. Sie wechselten ihre Farbe. Das ganze Dorf war in sie verliebt und sorgte für sie. Ihre Fürsorge war so groß, dass die Männer vergaßen, das Vieh auf die Weide zu treiben, und die Frauen, das Feuer anzuzünden und die Kochtöpfe mit dem Essen aufzusetzen. Wenn die Nacht floh, kamen alle aus ihren Häusern, um zu gießen, um zu schauen - um zu beten für die Blumen. Bis eines Tages der König sagte, dass er lange genug Geduld gehabt habe und dass soviel Maßlosigkeit ein Ende haben müsse. Er ließ tausend Maultierkarren bereitstellen und ließ die Blumen weit wegführen. Ohne die Blumen arbeitete jedermann. Und dann kam die große Seuche. Die Weisen forschten, der König stand vor dem Ruin. Nach und nach starben Ochsen und Kälber. Eine essigfarbene Mücke stach die Tiere mit tödlichem Stich. Bis man entdeckte, dass der Duft jener Blumen, die sie aus den Häusern fortgeschafft hatten, die Mücke fernhielt, weil er ihr wehtat. Der König in Person ging hin, um sie zu holen. Und die Blumen kehrten in ihr Land zurück. Vor jeder Staude eine Wache. Jeden Abend die Visite des Bischofs und des Königs. Die Blumen fanden die Erde mager und die Zeremonien missfielen ihnen. Ihr Land war nicht ihr Land und sie gingen bald verkümmert ein. Da ließ der König alle Mädchen in einer Reihe aufstellen und beroch sie eines nach dem andern. Die, welche nach Blumen rochen, trennte er von den andern und ließ sie bis zum Hals einpflanzen, um zu sehen, ob ihnen die Haare zu Blumen jener Art erblühten. Aber nein. Und der König schrie und riss sich die Stickereien von der Brust: "Die Mücken werden wiederkehren!" Und der Bischof sagte: "Die Mücken werden wiederkehren..." Und schon kamen sie. Barcelona ist die Hauptstadt von Katalonien. Barcelona ist auch das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Kataloniens. Und die meisten Katalanen leben im Großraum Barcelona. Und doch sind die kulturellen Traditionen weniger urban als ländlich, von der Küche bis hin zur Sardana, dem traditionellen Volkstanz. Im Kreis aufgestellt und meist mit sehr ernster Miene fassen sich die Tänzerinnen und Tänzer an der Hand und bewegen sich zu einer festgelegen Schrittfolge. Dass Arenys de Munt zur Hauptstadt der Sardana gekürt wurde, liegt weniger am tänzerischen Talent seiner Einwohner. Es ist vielmehr eine Auszeichnung in Sachen catalanitá. Das 8.000-Einwohner-Städtchen, 50 Kilometer nördlich von Barcelona, hatte als erste Gemeinde abstimmen lassen über die Unabhängigkeit Kataloniens. 41 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich, davon stimmten 96 Prozent für einen eigenen Staat. Rechtlich bindend war diese Umfrage nicht, große Wellen hat sie aber dennoch geschlagen. Mehr als 300 katalanische Städte und Gemeinden veranstalteten daraufhin ähnliche Befragungen. Auch wenn nur jeder fünfte seine Stimme abgab, war das Ergebnis dennoch beeindruckend, rund 90 Prozent davon stimmten für die Unabhängigkeit. Und alles hatte hier angefangen, in Arenys de Munt, wo der Initiator der Sezessionskampagne heute Bürgermeister ist. Arenys de Munt ist eine lebendige kleine Stadt. In fast jedem der niedrigen Häuser rechts und links der Hauptstraße findet sich ein kleines Ladengeschäft, eine Metzgerei, ein Bäcker oder ein Café. Was auffällt: Die Hauptstraße ist nicht geteert, der Straßenbelag ist loser Sand. Daher kommt ja auch der Ortsname. Arenys de Munt bedeutet so viel wie "Sand aus den Bergen", erklärt Bürgermeister Josep Manel Ximenis in katalanischer Sprache: Die Straße ist ein trockenes Flussbett. Die Wolkenbrüche sind hier immer sehr stark. Das Wasser strömt aus den Bergen durch die Stadt dann über diese Straße. Hier setzen sich dann die Sedimente ab. Wir haben diesen Fluss kanalisiert und überlegen uns, ob wir die Straße jetzt asphaltieren. Doch wir müssen die Bevölkerung befragen, sie muss das schließlich bezahlen. Das ganze Projekt kostet in etwa sechs Millionen Euro. Ohne die Plünderung durch die Spanier wäre das wohl schon seit Jahren asphaltiert. "Die Plünderung durch die Spanier" - das ist in der Region zu einer geläufigen Redewendung geworden und eines der häufigsten Schlagworte, mit dem katalanische Nationalisten ihren Ruf nach Unabhängigkeit rechtfertigen. Gemeint ist die Verteilung der Steuereinnahmen zwischen Katalonien und dem spanischen Zentralstaat. Zwischen 12 und 16 Milliarden Euro der katalanischen Steuereinnahmen behält Spanien, rechnet die katalanische Regionalregierung vor - Geld dass in der Gemeindekasse fehlt, erklärt der Bürgermeister beim Spaziergang entlang der Hauptstraße: Wir haben zum Beispiel die Hälfte der Straßenlaternen nicht mehr eingeschaltet. Damit zahle n wir 40 Prozent weniger Strom für die Straßenbeleuchtung. Wir haben bei der Pflege der öffentlichen Grünanlagen gestrichen, die kostet uns jetzt nur noch die Hälfte. Die größten Einsparungen haben wir aber bei den öffentlichen Beschäftigten vornehmen müssen. Wir zahlen keine Überstunden mehr und die Beschäftigten müssen schneller arbeiten. Und das macht ein Linker! Immer wieder bleibt er stehen, unterhält sich mit Passanten. Auf dem Kirchplatz spielen Kinder. Mit seinem Jackett, vollem ergrauten Haar und einer randlosen Brille wirkt er elegant und zugleich sportlich. Als er ins Rathaus eingezogen sei, hatte die Stadt schon ein Jahr lang keine Rechnungen mehr bezahlt. Inzwischen zahle sie innerhalb von einem Monat, erklärt Ximenis stolz. Dass es die spanische Regierung im entfernten Madrid war, die für die lokalen Verwaltungen einen Sonderfonds zur Begleichung alter Rechnungen aufgelegt hatte, verschweigt er hingegen. Spanien ist für ihn keine Demokratie aus 17 Regionen mit teils sehr weitreichenden autonomen Kompetenzen, sondern ein Kolonialstaat, der Katalonien vor 300 Jahren annektiert habe. Aus diesem Grund hat Ximenis ja 2009 die Umfrage über die Unabhängigkeit organisiert: Spanien ist kein demokratisches Land. Dieser sogenannte Demokratisierungsprozess Spaniens war nicht mehr als eine Fortsetzung der Franco-Diktatur. Die spanische Verfassung war ein Betrug. Die Katalanen hatten 1978 dafür gestimmt, weil sie dachten, dass sie damit einen demokratischen Staat bekommen. Ein weiterer Grund für die Unabhängigkeit ist unsere eigene Kultur, unsere Sprache. Und der dritte Grund ist die jetzige Krise. Erst der große Erfolg des von ihm initiierten Referendums zur Unabhängigkeit spülte Josep Manel Ximenis als Bürgermeister ins Rathaus. Er war 2011 für die kleine linksnationalistische Partei "Kandidatur der Volkseinheit" angetreten und gewann die Kommunalwahlen. Doch als Politiker sieht er sich noch heute nicht: Ich bin nur in die Politik gegangen, um für die Unabhängigkeit meines Landes zu arbeiten. Ich fühle aber auch eine starke soziale Verpflichtung für meine Gesellschaft. Ich bin ein Linker, ich möchte eine andere Gesellschaft als diese, die den Unternehmern alle Rechte einräumt, während sie die Privatleute enteignet. Die Gesellschaft soll von den Menschen verwaltet werden, nicht von den Unternehmen. Aber in die Politik bin ich, wegen der Unabhängigkeit! Vor dem Rathaus bleibt der Bürgermeister stehen. Am Balkon weht nur die Fahne Kataloniens mit den vier roten Streifen, nicht die Spaniens. Die für Spaniens Flagge vorgesehene Halterung ist verwaist. Die Botschaft ist klar: Katalonien ist nicht Spanien. Trotz dieser Konfrontation trifft sich der nationalistische katalanische Ministerpräsidenten Artur Mas aber auch hin und wieder auch mit dem spanischen Regierungschef Mariano Rajoy, der von einem Referendum in Katalonien zur Unabhängigkeit aber nichts wissen will. Diese Treffen seien keine Abkehr vom Sezessionskurs, sondern eine Etappe auf dem Weg zum Ziel, erklärt Josep Manel Ximenis auf der Straße: Artur Mas für mich heute glaubwürdiger als früher. Die Treffen mit Rajoy sind kein Rückzieher. Vielmehr geht es dabei darum, zu zeigen, dass man mit Madrid keine Vereinbarungen treffen kann. Damit wird Madrid vor ganz Europa bloßgestellt. Europa würde ja keine einseitige Unabhängigkeitserklärung akzeptieren, solange nicht alle Wege zur Verständigung ausgereizt sind. Ritterblumer Diese Blume ist keine Blume: sie ist ein Blumer. Wie der Nelkenwurz, der Balderich, der Goldlack, der Mohn, welche die Blumer sind. Ganz zu schweigen vom valencianischen Jasmin von König Peter, "mit großen und üppigen Blüten". Der Ritterblumer ist ruhelos. Und immer im Krieg mit dem Wind. Der Ritterblumer ist violett. Sein Stempel safranfarben. Er tut sich im Frühling auf uns dauert, bis die Kastanien reif sind. Seine Aufgabe ist, die Trompete zu blasen. Der Ritterblumer lebt zuoberst auf den Mauern und hält Wache. Der Wind will an den Blumen riechen und ihren Duft verbreiten, und der Ritterblumer warnt sie. Und kommt der Wind, findet er sie hinter Schloss und Riegel eingeschlossen. Es ist ein gekonnter Krieg: voller Schlauheit. Der Wind verbirgt sich, kommt unvermittelt hervor, verkleidet sich als Brise, bläst mit dreihundert Sachen in der Stunde. Der Ritterblumer im bischofsfarbenen Kleid und mit dem Trompetenstempel, Herr der hohen Mauer, hört, wie der Wind kommt, und freudenhell, trari! ... trara! ... Die Blüten geschlossen! - Und wenn du an ihnen riechen willst, da kannst du dich anstrengen, aber entblättern wirst du sie mir nicht. Der Nationalismus der Katalanen hat viele Facetten. Die Separatisten fordern einen eigenen Staat, sie führen in der aktuellen Debatte vor allem wirtschaftliche Argumente an. Und nutzen nebenbei die kulturellen Besonderheiten Kataloniens, um sich von Spanien abzusetzen. Doch nicht jeder, der die Sardana tanzt oder den katalanischen Esel auf sein Auto klebt, will die Unabhängigkeit. Zwar ist gerade auch die jüngere Generation, die 20 bis 30jährigen, die nach dem Tod Francos geboren sind, stolz auf ihre Geschichte und Kultur, fanatische Separatisten sind sie deshalb noch lange nicht alle. Auch wenn sie jahrhundertealte Traditionen wiederbeleben, wie etwa das Bauen von Menschentürmen: Els Castells auf Katalanisch. Eine akrobatische Kunstform, bei der bis zu 18 Meter hohe lebendige Skulpturen entstehen. Und immer wieder neu gebaut werden, bei jedem kleineren und größeren Fest in den Städten und Dörfern. Es gibt Wettbewerbe und Fernsehübertragungen, die so leidenschaftlich sind wie Fußballreportagen. Das Städtchen Valls im Hinterland von Tarragona im Süden Kataloniens kann sich rühmen, die Castells erfunden zu haben vor 200 Jahren. Trainiert wird hier auch heute noch. Ein Menschenturm entsteht. In jedem Stockwerk halten sich drei Leute gegenseitig an den Armen fest. Auf deren Schultern stehen wieder drei Menschen, und darüber wieder drei bis vier solcher Stockwerke gebildet sind. Dann klettert ein Kind, vielleicht fünf, sechs Jahre alt, auf der einen Seite des Turms hinauf und streckt den Arm in die Höhe. Es herrscht große Konzentration, nur der Trainer gibt laut Anweisungen. Auf ihn kommt alles an, erklärt Miriam Sanabra: Das ist der Cap de Colla, der Kopf der Gruppe. Er gibt die Befehle, wer wann hoch klettert. Damit das koordiniert vor sich geht, und nicht jeder hochklettert, wann er möchte und den Turm ins Wanken bringt. Wenn man im Turm steht, weiß man nicht, was dort vor sich geht, deshalb braucht man jemanden, der den Überblick hat, der den Rhythmus vorgibt. Miriam ist 22 Jahre alt und seit zwei Jahren bei der Colla Vella dabei. Sie kommt aus Valls, kennt die Castells seit ihrer Kindheit. Bei den Festen kommt die ganze Stadt zusammen, jeder macht mit. Denn nicht nur die Kletterer sind wichtig, sondern auch die, die unten stehen. Eine große Menschenmasse drückt dabei von außen ins Zentrum zum Turm hin, stabilisiert ihn so. Irgendwann wurde sie gefragt, ob sie nicht auch mittrainieren möchte: Die Frauen sind hier ja noch nicht so lange dabei. Die kleinsten klettern ganz nach oben, sowohl Jungs wie auch Mädchen. Jungen Frauen stehen oft oben, weil sei gewandter und leichter sind. Andere Frauen sind aber oft auch ganz unten, um den Turm zu stabilisieren. Sie stellen sich unter die Arme der Träger, stützen sie. Damit kontrollieren sie außerdem noch die Schwankungen zur Seite. Es ist sehr wichtig, dass er sich nicht bewegt. Miriam bindet sich das lange dunkle Haar zusammen. Nationalisten wollen in den Menschentürmen den Geist Kataloniens sehen. Jeder hat seinen Platz, seine Aufgabe und trägt so zum Erfolg bei, bei den Türmen wie in der eigenen Nation, so die Interpretation. Miriam hält das für übertrieben. Aber auch sie ist für die Unabhängigkeit. Sie ist als Medizinisch-Technische-Assistentin für die ärztliche Versorgung der Landbevölkerung zuständig und spürt die Krise jeden Tag: Ich arbeite in den Dörfern in den Bergen. Dort gibt es nachts jetzt nur noch drei ärztliche Stützpunkte und nur drei Krankenwagen für eine sehr große Gegend. Natürlich wohnen da nicht viele Leute, aber sie sind breit verstreut. Wenn wir jemanden mitnehmen müssen, brauchen wir ungefähr eineinhalb Stunden, bis wir im Krankenhaus sind. Mindestens. Das sind also drei Stunden, bis wir zurück sind und in denen niemandem sonst etwas passieren darf. Ja, so ist das nun mal heutzutage. Dazu kommen Gebühren für Autobahnen und Rezepte, hohe Steuern und Kürzungen an Schulen und Krankenhäusern. Für viele Sparmaßnahmen ist zwar die völlig überschuldete katalanische Regionalregierung mitverantwortlich. Aber wie so viele sieht auch Miriam dahinter die harte Hand der Zentralregierung in Madrid. So schwingt bei jeder schlechten Nachricht über die tiefe Wirtschaftskrise mit, dass es den Katalanen besser gehen würde, wären sie nur keine Spanier. Eine spanienweite Protestbewegung sind hingegen die sogenannten Empörten, auch sie gibt es in Barcelona. Ich bin da zwar nicht aktiv. Aber ich bin auch zur Demo nach Barcelona. Und im Fernsehen sagen sie dann, dass es nur 500.000 waren. Es waren viel mehr, die ganze Stadt war voller Leute, man konnte sich gar nicht bewegen. Und die Politiker wollen es verschweigen. Das macht wütend, dass sie nicht anerkennen, dass es diesen Verdruss gibt. So kommt das Eine zum Anderen: Spaniens tiefe Wirtschaftskrise führt zu einem tiefen Verdruss über eine Politik, die keinen Ausweg anbietet und beflügelt Sezessionswünsche. Miriam wickelt sich in eine Bauchbinde. Dabei hält einer ihrer Freunde ein drei Meter langes Tuch auf der einen Seite fest, während sie sich mehrmals um die eigene Achse dreht, bis das Tuch sie fest umschließt. Das soll nicht nur die Muskulatur festigen. Vor allem sind diese Binden für die Kletterer auf ihrem Weg nach oben ein guter Ansatzpunkt für Finger oder Fußzehen. Ganz nach oben klettern die Jüngsten. Sie trainieren jetzt in einer Ecke der Halle: Die dort üben jetzt den obersten Teil des Turms für die Kinder. Um nicht die ganze Konstruktion zu errichten, wird dort nur ein Teil aufgebaut. Wieder ruft der Cap de Colla zur Ordnung. Er läuft von einer Seite zur anderen, blickt ernst und gibt laut Anweisungen. Auch der Abbau ist wichtig. Denn oft fallen die Türme in sich zusammen, alle Beteiligten fallen dann übereinander. Das tut schon beim Zusehen weh. Jetzt wird Miriam gerufen. Sie soll in das erste Stockwerk, das die Last vieler anderer trägt. Angst hat sie keine: Von außen mag das chaotisch aussehen. Die unten bekommen das meiste ab, könnte man denken. Aber so ist es nicht. Ein Stockwerk trägt ja das andere. Man spürt also nicht, dass da 50 Leute auf einen drauf fallen, sondern höchstens Einer oder Zwei. Es ist eher hinterher der Ärger, dass der Turm zusammengefallen ist. Die Enttäuschung. Aber körperlich schmerzt es nicht. Wer katalanisch spricht. Wer die Geschichte kennt und wer dafür sorgt, die Kultur lebendig zu halten, der, so die Idee der Nation in Katalonien, ist Katalane. Weder geographische noch familiäre Abstammung spielt dann noch eine Rolle. Und so sind auch all diejenigen Teil der katalanischen Nation, die zugezogen sind. In den sechziger und siebziger Jahren kam mehr als eine Million Menschen aus dem verarmten Andalusien in das damals schon hoch industrialisierte Katalonien. Sie sind geblieben, haben Familien gegründet und ihre Kultur mitgebracht, die Semana Santa etwa. Und ihre Musik: Saetas und Flamenco. Die Gemeinde der eingewanderten Katalanen ist inzwischen so groß, dass es ein eigenes Radioprogramm gibt. Radio-Teletaxi. Es ist einer der erfolgreichsten Sender der Region. Erfunden hat es Justo Molino, 64 Jahre alt und selbst ein Zugezogener, der sich nie auf ein einziges Talent festlegen wollte. Sein Motto: Im Leben muss man auf vielen Hochzeiten tanzen. Und so moderiert der Medienunternehmer in seinem Sender auch noch selbst. Wer ruft uns an, guten Morgen! Justo Molinero ist in seinem Element. Immer im Gespräch mit seinen Hörern. Von seiner etwas erhöhten Kanzel im Studio aus fährt er seine Radiosendungen ganz ohne Techniker, beantwortet Anrufe der Hörer, sucht deren Wünsche aus dem digitalen Musikarchiv und vor allem, manchmal macht er auch derbe Scherze: Ob sie viele Männer gehabt habe im Leben, fragt er eine Hörerin, die den Namen des Mannes nicht verraten möchte, für den sie sich eine andalusische Saeta wünscht. Und dann fragt er sie noch, ob er ihr denn auch treu sei ...Doch die Hörerin schweigt: Na, dann nennen wir Sie jetzt Doña Geheimnis. Gut, wir spielen gleich eine Saeta für Sie. Passen Sie auf sich auf! Und während die Musik im Radio läuft, sagt er: Andere Moderatoren sagen solche Dinge nicht mehr. Dabei stimmen mir die Hörer zu Hause am Radio dann doch zu. Ohne Humor wäre das Leben doch langweilig. Wir hätten nur noch politische Talkrunden mit Leuten, die von allem eine Ahnung haben, aber nichts wissen. Zu allem haben die etwas zu sagen! Justo Molinero kann sich das erlauben. Er gehört für die Hörer zur Familie. Die Armut vertrieb auch ihn Ende der sechziger Jahre aus Andalusien. 1967 stieg er mit seinen Eltern und drei weiteren Geschwistern in Córdoba in einen Bus nach Barcelona. Da war er 18 Jahre alt. Noch heute hat der erfolgreiche Moderator einen spitzbübischen und freundlichen Blick. Er nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche und steigt von seinem Pult herunter. Werbepause: 67 war ein hartes Jahr. Die Banken vergaben keine Kredite, es gab kaum Arbeit. Von Santa Coloma sind wir mehrmals zu Fuß bis nach Hospitalet gegangen, quer durch Barcelona, von einer Werkstatt zur nächsten, und haben nach Arbeit gefragt. Fanden wir was, war der Lohn niedrig. So fingen wir an. Meine beiden Brüder und ich heirateten Katalaninen, nur meine Schwester ging zurück nach Córdoba. Der Rest ist noch heute hier. Das war der Anfang eines steilen Aufstiegs. Weil er als Mechaniker zu wenig verdiente, begann er als Taxifahrer zu arbeiten. 1982, als die Fußballweltmeisterschaft in Spanien ausgetragen wurde, dachte er sich, ein Radiosender für die Taxis könnte Erfolg haben. Die Idee schlug ein. Aus dem Taxifahrer wurde ein Medienunternehmer, der heute in Anzug und Krawatte Radio und inzwischen auch Fernsehen macht. Mit seinen Wunschsendungen hat er eine Marktlücke gefunden für die Katalanen, die wie er aus Andalusien stammen. Dabei müsste er den komplizierten Sprachgesetzen der Regionalregierung zufolge, die auch Mindestzeiten für den Gebrauch der katalanischen Sprache in den Radioprogrammen festlegen, viel mehr Katalanisch senden: Wir müssten, glaube ich, 20 oder 30 Prozent unserer Sendezeit auf Katalanisch senden. Aber die Behörden sind großzügig mit den Regeln. Gleich spiele ich einen Titel von Sergio del Alma, der katalanisch singt. Wir sind keine Bremse für das Katalanische. Vorhin habe ich die Uhrzeit auf Katalanisch angesagt. Aber gut, die fordern immer "Katalanisch, Katalanisch, Katalanisch". Die leben nicht in der Wirklichkeit. Wir sind keine schlechteren Katalanen. Aber gut. Außenstehende mögen diese Unterscheidungen merkwürdig finden. Wir sind das gewohnt. Denn der Argwohn ist immer noch groß und auch Justo redet von "wir" und "denen", also von den Einwanderern auf der einen und den Einheimischen auf der anderen Seite. Eine Frau hat sich beschwert, er habe einen falschen Musiktitel herausgesucht. Jetzt klickt er sich mit der Computermaus durch das digitale Archiv und ruft dann doch eine Mitarbeiterin an. Mit der Musik holt er seinen Hörern ihre andalusische Heimat ein wenig nach Katalonien. Immer wieder hört er, sein Erfolgsmodell werde irgendwann nicht mehr funktionieren. Denn die Kinder der Einwanderer kennen Andalusiens Bräuche und Gesänge nur noch aus Erzählungen: Das genau ist der Fehler! Wir glauben, wir sind nicht so unterschiedlich. Wir wollen alle essen, müssen auf Toilette, uns waschen und lieben. Wir sind sehr primitiv. Zumindest, wenn wir alleine sind. Als Gruppe müssen wir uns dann von anderen abgrenzen. Irgendwann haben die Nationalisten mir dann gesagt: 'Nein, Justo, Du bist anders, Du gehörst zu uns!' Aber da müssen sie immer aufpassen, vor wem sie das sagen. "Du gehörst zu uns!" - Diese Einladung des langjährigen nationalistischen Regierungschefs Kataloniens Jordi Pujol an Justo Molinero, Mitglied bei der nationalistischen Partei zu werden, hatte hohen Symbolwert. Das sollte heißen: Auch die vielen Einwanderer aus Andalusien sind Katalanen. Ich bin, wie ich bin. Und wenn Euch das nicht gefällt, könnt ihr mich mal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem katalanische Musik an der Seele rührt, spanische aber nicht. Entweder ist der vollgestopft mit Vorurteilen oder das ist nicht möglich. Doch als er schließlich eintrat, plädierte die Partei noch nicht für einen eigenen Staat, sondern rang mit Madrid stets erfolgreich um mehr Autonomie. Justo Molinero nimmt einen letzten Schluck aus einer fast schon leeren Wasserflasche. Nach fünf Stunden ist die Morgenshow vorbei. Wenn sie eines Tages wirklich für die Unabhängigkeit entscheiden, müssen sie diese Reise ohne mich fortsetzen. In diese Richtung fuhr der Zug nicht, als ich eingestiegen bin. Ich liebe dieses Land. Aber wer mich zwingen will, zwischen meiner Mutter und meinem Vater zu entscheiden, ist ein Hurensohn. Wenn die Mehrheit von uns Katalanen mit dem Kopf durch die Wand will, gut. Aber wenn wir auf die Straße gehen und hier die Menschen nach ihren 20 größten Problemen fragen, dann hacke ich mir die Hand ab, wenn das auch nur eines davon ist. Vielleicht sollten wir besser die echten Probleme der Menschen lösen, als uns mit unsinnigen Dingen zu beschäftigen. Eine autonome Gemeinschaft Spaniens ist Katalonien seit dem 29. September 1977, als nach fast 40 Jahren Unterdrückung durch die franquistische Diktatur die Eigenständigkeit wieder hergestellt wurde. Doch nicht der 29. September ist katalonischer Nationalfeiertag, sondern der 11., in Erinnerung an den 11. September 1714. An diesem Tag besiegte die Armee des spanischen Königs Philip V. den letzten Rest des katalanischen Heers in Barcelona. Es ist also eigentlich ein Tag der Niederlage. Für die katalanischen Nationalisten jedoch eine Verneigung vor den Kämpfern von damals. Und kurz vor dem 300. Jahrestag mehr denn je eine Gelegenheit, für Unabhängigkeit zu demonstrieren: auf den Straßen. Und: im Fußballstadion. Zuerst bei einem Spiel gegen Real Madrid ist es inzwischen zur Regel geworden, dass die Anhänger des FC Barcelona aufstehen und Independencia rufen: und zwar genau nach 17 Minuten und 14 Sekunden Spielzeit. Dass die Jahreszahl 1714 auf diese Weise zunehmend ins Bewusstsein der katalanischen Gesellschaft rückt und dadurch auch der Rest Europas dieses Kapitel der katalanischen Geschichte wahrnimmt, könnte Historiker freuen. Doch der Professor für Geschichte an der Autonomen Universität von Barcelona hat für solche Mythenbildung nur Kopfschütteln übrig. Es ist ein nie versiegender Strom. Tausende, zehntausende Touristen strömen jeden Tag durch die Altstadt von Barcelona. Eine der Attraktionen: Die Basilika Santa Maria del Mar, eines der Schmuckstücke katalanischer Gotik. Doch für die ewige Flamme auf einem Platz an einem Seitenschiff dieser "Kathedrale des Meeres" interessieren sich nur wenige. "In Gedenken an die Gefallenen für die Freiheiten und Konstitutionen Kataloniens", steht auf einem Denkmal aus Stahl. Historiker Joaquím Coll schüttelt mit dem Kopf. Das ist Geschichtsfälschung. Das war kein Krieg um Unabhängigkeit und Freiheit. Es ging um die spanische Thronfolge. Die Habsburger hatten das Land bis zum Tod von Karl II. im Jahr 1700 regiert. Doch der König hatte keine Kinder und bestimmte Philipp von Anjou aus dem Bourbonengeschlecht zu seinem Nachfolger. Doch auch die Habsburger aus Österreich erhoben Ansprüche auf die spanische Thronfolge, erzählt der hagere Geschichtsprofessor, hebt immer wieder die Augenbrauen und rückt sich die modische Hornbrille zurecht. Es kam zu einem internationalen Krieg mit England, Holland und Österreich auf der einen Seite und Frankreich auf der anderen. Katalonien schloss sich der internationalen Koalition an. Es gab einen Pakt zwischen Katalanen und Engländern über gegenseitige Unterstützung. Die Engländer versprachen den Katalanen, ihre Selbstbestimmungsrechte zu unterstützen. Spanien war ja ein zusammengesetztes Reich. England erfüllte sein Versprechen nicht. Dafür bekam England dann Gibraltar zugesprochen. Darüber wird ja auch noch heute gestritten. Die spanischen Nationalisten halten Gibraltar ja auch für einen Teil Spaniens. Dieser Krieg ist also für viele Geschichten gut. Allerdings: Der letztlich inthronisierte Philip V. als König sei tatsächlich ein Racheengel gewesen. Er gewährte den ihm im Erbfolgekrieg treuen Regionen wie etwa den Basken weiterhin ihre Autonomierechte, entzog sie aber den Katalanen. Joaquím Coll ist in Katalonien kein Unbekannter. Immer wieder schreibt er lange Analysen in den großen Tageszeitungen der Region. Seine letzte große Kritik galt den Rufen nach Unabhängigkeit nach 17 Minuten und 14 Sekunden im Stadion des FC Barcelona beim letzten Aufeinandertreffen mit Real Madrid - in Anlehnung an die Jahreszahl 1714. Es stört ihn zum einen, weil auch er Anhänger des FC Barcelona, aber nicht der Unabhängigkeit ist. Und zum anderen, weil sich damit die nationalistische Interpretation dieses Erbfolgekriegs festschreibe. Geschichte ist für mich eine Leidenschaft. Aber sie zu instrumentalisieren ist gefährlich. Man kann sie manipulieren und verfälschen. So denkt jetzt ein beachtlicher Teil dieser Gesellschaft, dass wir seit 300 Jahren um unsere Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen würden. Die Konzepte vermischen sich. Unabhängigkeit, Souveränität, dazu der Begriff Plünderung - und man hat einen Molotowcocktail. Der Historiker zieht sich den Kragen des Jacketts nach oben und verschließt die Arme. Es ist Abend und vom Meer zieht eine frische Brise durch die Altstadt Barcelonas. Das Neue an der Auseinandersetzung: Für die Nationalisten sei die Unabhängigkeit immer eine schöne und romantische Utopie gewesen. Aber jetzt sei sie Grundlage konkreter Politik. Sie werden die Konfrontation mit dem Staat suchen. Sie werden versuchen, ihn herausfordern. Sie werden zu einem Referendum aufrufen. Der Staat wird versuchen, es zu verhindern, sonst hätten wir ja einen verfassungsleeren Raum. Notfalls könnte die spanische Polizei entsendet werden, Mitglieder der katalanischen Regierung könnten vor Gericht gestellt werden. Das würde wieder die Thesen von der 300-jährigen Verfolgung rechtfertigen. Das ist gefährlich. Bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit, enormen sozialen Problemen führt das zu Situationen, die wir uns heute kaum vorstellen können. Coll sieht einen Ausweg: Eine Verfassungsreform, die aus Spaniens Staat der Autonomen Regionen eine echte Föderation machen würde. Bei den letzten katalanischen Parlamentswahlen verteidigten ein solches Modell jedoch nur die Sozialisten und sie erzielten damit kein gutes Ergebnis. Und auch im Rest Spaniens findet sich dafür noch keine Mehrheit. Doch das sei die letzte Chance, sagt der Geschichtsprofessor: Ohne Verfassungsreform hat Spanien keine Zukunft. Es geht um viel mehr als nur um Katalonien, es geht um Spaniens Demokratie, die nicht nur wegen Katalonien in der Krise steckt. Wir brauchen offene Wahllisten, das politische System, die Monarchie müssen reformiert werden. Wir brauchen einen neuen Pakt zwischen den Regionen und Generationen. Die nächsten Parlamentswahlen müssen dafür ein Zeichen geben. Entweder zerbricht der Staat an diesem Konflikt oder er geht daraus gestärkt hervor. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Adéu Espanya. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Der Separatismus in Katalonien und die spanische Wirtschaftskrise. Eine Sendung mit Reportagen von Hans-Günter Kellner. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Prosaband "Richtige Blumen" von Mercè Rodoreda , Claudia Mischke hat sie gelesen. Ton und Technik: Daniel Dietmann und Anne Bartel. Im Namen des ganzen Teams verabschiedet sich am Mikrophon Simonetta Dibbern. 18 18