PRINZESSIN VUKOBRANKOVICS. Die 3 Leben der Elisabeth Thury. Ein Hörstück von Susanne Ayoub DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Prinzessin Vucobrancovics Die drei Leben der Elisabeth Thury Von Susanne Ayoub ORF/DLF 2014 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Sendung: Freitag, 28. März 2014, 20:10 - 21:00 Uhr Stimme 1 (Thury) Gott verdamme Vuk den Brankovicen Nichts gedeihe ihm von seinen Händen Nicht der weiße Weizen auf den Feldern Nicht die saftige Rebe auf den Bergen Nicht die Kinder im verfluchten Haus. Kaum war dieser Fluch gesprochen War das Herz der Milica gebrochen. TITEL: Prinzessin Vukobrankovics Stimme 1 Meine Vorfahren sollen Könige von Mösien gewesen sein. Dann serbische Wojwoden. Einer der Vukobrankovics hat die Tochter des serbischen Königs Lazar geehelicht und ist König von Serbien geworden. Vor der Schlacht auf dem Amselfelde 1389 soll er die Serben an die Türken verraten und dafür das halbe Königreich Serbien zum Lohne erhalten haben. Atmo Friedhof - ferne Begräbnismusik - ferne Grabrede Radiosprecher Namens der Bundesregierung ist der Herr Justizminister Broda auf den Zentralfriedhof gekommen, um Abschied von Elisabeth Thury, der Doyenne des österreichischen Journalismus zu nehmen und um die letzten Grüße von Bundeskanzler Kreisky zu überbringen... TITEL Fortsetzung: Die drei Leben der Elisabeth Thury Stimme 2 (Erzähler) Elisabeth Thury, geborene Milica von Vukobrankovics. Fürstenkind. Giftmischerin. Widerstandskämpferin. Lagerälteste von Ravensbrück. Schriftstellerin. Journalistin. TITEL Fortsetzung: Eine Spurensuche (Oder: Porträt einer Vergessenen. Oder: Auf den Spuren einer Rätselhaften). Aus Originalzitaten zu Erzähltexten und Szenen zusammengefügt. Von Susanne Ayoub Stimme 2 1. März 1894.Hermann von Vukobrankovics und seiner Frau Marie wurde ihr erstes und einziges Kind geboren. Der Vater gab ihr den Namen ihrer fernen Vorfahrin Milica, die in dem serbischen Nationalepos über die Schlacht auf dem Amselfelde verewigt ist. Dasselbe Epos, in dem das Geschlecht der Vukobrancovics' verflucht wurde. Den Stammbaum trug Vater Vukobrancovics stets bei sich. Stimme 3 (Erzählerin) Ein Narr. Wir sind die eigentlichen Könige Serbiens, behauptete er. Im Sommer, auf der Kurpromenade in Bad Ischl, zeigte er den Vorübergehenden stolz seine Ahnentafel. Er behauptete auch Anwartschaft auf den Thron zu haben. Stimme 2 Milica, das Einzelkind, wuchs einsam auf. Von der Wohnung der Eltern in der Lustkandlgasse konnte sie auf die Volksoper gegenüber sehen, durch das Fenster die Künstler beobachten. Sie schwärmte für das Theater und liebte die Literatur. In der Schule, in den Büchern fand sie ihre einzige Orientierung. Ihr Heim war freudlos, die Mutter lieblos und abwesend. Der Vater litt an einer geheimnisvollen Krankheit, woran, wurde nicht besprochen. Stimme 3 Syphilis. Gehirnparalyse. Tobsuchtsanfälle, bei denen er brüllend die Möbel zerschlug. Immer kürzer wurden die Perioden der Zurechnungsfähigkeit. Er fiel in geistige Umnachtung, wie alle seine Geschwister, wahnsinnig. Als er starb, war Milica dreizehn. Atmo Wohnung - Uhr schlägt Stimme 1 Mein unglücklicher Vater, der letzte männliche Nachkomme des Geschlechts! Mutter! Streichle mich, Mutter! Halte mich fest! Stimme 3 Milica war ein bildhübsches Kind, ihr feines, nervöses Gesichtchen wurde allgemein bewundert. Und wie sie in die Backfischjahre gekommen ist, da ist sie von den jungen Männern viel angeschwärmt worden. Aber Schmeicheleien und Galanterien haben sie gelangweilt, und sie hat sich am liebsten in ihre Bücher vergraben. Stimme 1 Durch meine traurige Kindheit war ich gewöhnt, mich in mich selber zu verschließen und mit dem, was mich bewegt, keinen zweiten Menschen zu belästigen. Stimme 3 Wenn man sie gefragt hat, ob sie denn nie heiraten werde, so hat sie immer sehr ernsthaft geantwortet: Ich möchte meine Freiheit nicht aufgeben. Stimme 1 (zitiert) Das Menschengeschlecht befindet sich im besten Zustande, wenn es möglichst frei ist. Dante Alighieri! Ende Atmo Stimme 2 Gute Noten, doch wenig Disziplin, urteilten die Lehrer. Sie las "verbotene Bücher", von Hermann Bahr, Karl Schönherr, Emile Zola. Stimme 1 Ich wurde als das schlechte Element der Klasse hingestellt, ich verdürbe meine Mitschülerinnen durch das Verleihen unsittlicher Bücher. Stimme 3 Ein hässlicher Charakter, wenig wahrheitsliebend und boshaft veranlagt, hochmütig, manchmal ganz abnorm in ihrem Verhalten, was man mit ihrer erblichen Belastung in Zusammenhang brachte. Dabei war sie außerordentlich begabt. Stimme 1 Die Reifeprüfung mit vorzüglichem Erfolg abgelegt. Was nun? Als kleines Kind wollte ich Offizier werden oder Universitätsprofessor. Ich möchte Lehrerin werden! In der Hegelgasse. Direktor Piffl wird für mich sprechen! Stimme 2 Schuldirektor Piffl wohnte mit seiner Gattin Antonie und seinem Ziehsohn Albert im Mezzanin des Schulgebäudes Hegelgasse 14. Bis zu ihrer Reifeprüfung hatte Milica öfters der Piffl'schen Wohnung einen Besuch abgestattet. Piffl war geschmeichelt über die Verehrung des jungen Mädchens. Stimme 3 Sie nahm Gesangs- und Klavierunterricht, spielte Gitarre und legte 1916 nicht nur die Lehrbefähigungsprüfung ab sondern auch die Turnlehrer-Prüfung. Stimme 1 Von der Direktorswohnung konnte man in den Turnsaal blicken. Bei spektakulären Übungen fühlte ich die Augen des Herrn Direktors auf mir ruhen. Stimme 3 Sie war sehr fleißig, in der Schule immer die Erste. Sie fasste leicht auf, sie war außerordentlich beliebt, der Stolz der ganzen Anstalt: Mit 22 Jahren die jüngste Bürgerschullehrerin von Wien! Stimme 1 Meine Fächer: Deutsch, Geographie und Geschichte. Und Turnen. Für die Mittelschulprüfung in Turnen war der Anatomiekurs an der Medizinischen Fakultät Voraussetzung, für Frauen sehr ungewöhnlich. Dazu absolvierte ich einen einjährigen Koch- und Haushaltungskurs, einen Kurs für Säuglingsfürsorge. Ich schrieb. Das Magazin "Der Erzähler" veröffentlichte einige Gedichte. Ich meldete mich auch zur Kriegshilfeleistung. Stimme 2 Bei der Direktorsfamilie Piffl ging die Junglehrerin ein und aus. Antonia Piffl bat sie, dem Sohn des Hauses Nachhilfe zu erteilen. Stimme 1 Die Piffls boten mir für Alberts Nachhilfe ein Honorar an, ich wies dieses natürlich aus Dankbarkeit für meinen alten Lehrer zurück. Stimme 2 Man pflegte gemeinsame Interessen: Kino-, Opern- und Theaterbesuche. Sogar die Sommerfrische wurde gemeinsam verbracht. Zwischen dem Schuldirektor und der jungen Lehrerin kam es zu Vertraulichkeiten, die ihrer Umgebung nicht entgingen. Milicas Mutter förderte den Umgang und stattete die Tochter mit eleganten Toiletten aus. Weil sie sich gesellschaftlichen Aufstieg erhoffte? Frau Piffl war es gar nicht recht. Stimme 1 Das sind die schwülen Nächte Da wird die Sehnsucht wach Der Liebe Zaubermächte Stellen dem Herzen nach. Stimme 3 Sie hielt sich mehr an eine fremde Familie als an ihre Mutter. Sie hatte sich regelrecht eingenistet. Ihr zudringliches Wesen wurde immer peinlicher. Atmo Salon, Klaviermusik Stimme 2 Am 13. Februar 1918 feierte Frau Piffl ihren 50. Geburtstag. Milica gratulierte mit einer Flasche Wein. Gläser klirren aneinander: Prost! Stimme 1 Ich wünsche Ihnen ein langes Leben und dass Sie mich recht lieb haben. Stimme 2 Am nächsten Tag entdeckte Frau Piffl, dass die Beruhigungspille in ihrer Medikamentenschachtel gegen eine große Tablette ausgetauscht worden war. Sie enthielt Phosphor. Schon mehrmals hatten die Piffls unter heftigem Erbrechen und Durchfall gelitten, der Hausarzt war bei der Untersuchung von Speisen und Getränken auf Arsenik gestoßen, man hatte das Dienstmädchen, die Köchin und schließlich Milica verdächtigt. Stimme 1 Das sind die schwülen Nächte Sie bringen Glück und Leid Bald sind auch sie vergangen Kommt Herbst, kommt Winterszeit. Stimme 2 Die erste polizeiliche Untersuchung blieb ergebnislos. Die zweite führte zu ihrer Verhaftung und am 28.Oktober 1918 zu ihrer Anklage. In den Zeitungen gab es nur zwei Themen: das bevorstehende Kriegsende und "die Giftmischerin". Stimme 3 Sie ist eine große schlanke Erscheinung mit regelmäßigen, hübschen Gesichtszügen, ihr reiches Haar ist sorgfältig frisiert. Ihr Äußeres fällt auf. Sie trägt ein lilafarbenes Seidenkleid im neuesten Modeschnitt mit breitem, spitzenbesetztem Samtkragen, feine Glacélederhandschuhe und schwarze, hohe, neue Schuhe. Mit ruhiger Aufmerksamkeit mustert sie die Geschworenenbank und den stark besetzten Zuhörerraum. Sie spricht ein gewähltes, reines Hochdeutsch, ihre Verantwortung ist gewandt und schlagfertig. Atmo Gerichtssaal Stimme 4 (Behörde, Justiz) Aus welchem Grund soll es die Vukobrancovics gewesen sein? Glauben Sie, dass irgendwelche unerlaubten Beziehungen zwischen Ihrem Mann und der Angeklagten bestanden? Stimme 2 Fragt der Staatsanwalt. Frau Piffl verteidigt ihren Mann: Stimme 3 Mein Mann ist ein ehrenhafter Charakter. Unser Eheleben war immer tadellos, auch in seiner Jugend hat er sich nie mit anderen Damen abgegeben. Mein Mann hielt auf die Angeklagte sehr viel und zeigte ihr als Lehrer Zuneigung. Stimme 4 Hatte die Vukobrankovics ein Interesse an Ihrem Gemahl? Stimme 3 Ich glaube, sie hatte Interesse. Auffallend war ihr Eindringen in meine Familie. Stimme 1 Was mein Verhältnis zu Herrn Inspektor Piffl betrifft, so habe ich dafür nur einen Zeugen, das ist er selber. Nie ist Schlechtes zwischen uns vorgefallen, nie dachte ich Böses. Zu Eifersucht ist wirklich kein Grund vorhanden. Stimme 4 Fräulein von Vukobrankovics, Sie sollen danach getrachtet haben, Frau Landesschulinspektor zu werden. Stimme 1 Aus welchem Grunde denn?! Stimme 4 Weil Sie ehrgeizig sind. Stimme 1 Ich wäre doch dadurch nicht in eine andere gesellschaftliche Stellung gekommen. Mein Papa war doch Bezirkshauptmann. Damit es dafür steht, hätte ich doch mindestens eine Fürstin umbringen müssen. Ende Atmo Stimme 2 31. Oktober 1918. Der Staatsanwalt wandte sich in seinem Plädoyer an die Geschworenen: Stimme 4 Meine Herren Geschworenen! Prüfen Sie den Fall nüchtern, überlegen Sie das Für und Wider. Ich will es nicht auf mein Gewissen nehmen, dass eine Unschuldige verurteilt werden könnte; denn die Verurteilung einer Unschuldigen ist etwas Furchtbares. Aber in diesem Fall wäre vielleicht der Freispruch einer Schuldigen noch furchtbarer. Stimme 2 Das Urteil: 2 Jahre schwerer Kerker, verschärft durch einmal Fasten und ein hartes Lager vierteljährig. Gemäß Paragraph 29 Strafgesetz wurde über sie der Adelsverlust ausgesprochen. Atmo Gefängnis,hallig Stimme 1 Liebe Mama! Mein körperlicher Zustand ist sehr elend und fast kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass man mich hier langsam umbringen will. In dieser Bude habe ich mir die Tuberkulose zugezogen. Gestern habe ich in meinem Bett fünf Wanzen und eine Laus gefangen. Ich habe mir das Rauchen so stark angewöhnt, dass ich manchmal vierzig Zigaretten in einem Tag rauche. Viele Küsse, Milica. Stimme 3 Im Weiberstock. Die graue Welt hinter Gittern. Nachtruhe bis 1/2 7 Uhr früh. Waschen auf dem ungeheizten Gang. Ein Viertellaib Brot Tagesration. Wer Geld hat, lässt sich das Essen aus dem Gasthaus gegenüber in die Zelle bringen. Der Wirt schickt, was ihm passt. Um 17 Uhr Abendessen. Einzelhaft. Tödliche Langeweile. Verbotene Kommunikation mit den Leidensgenossinnen in den Zellen unter ihr. Stimme 1 Wir debattierten heftig über politische Fragen und borgten einander Bücher. Auf diesem Weg erst habe ich Marx, Engels, Lassalle, Bakunin kennengelernt. Stimme 2 Während der Haft begann Milica ein Tagebuch, das später als "Weiberzelle 321" veröffentlicht wurde und ihr schriftstellerischen Ruhm brachte. Stimme 1 Ist schon eine Psychologie der Gefangenen geschrieben worden? Meines Wissens noch nicht. Ist es aber - allem Ignorantentum und Pharisäerstolz zum Trotze - nicht wichtig, zu wissen, wie über von Menschengehirnen erdachten und von Menschenherzen bestätigten Gesetze gestrauchelt, - in von Menschen bewachte Kerker geworfen werden, wie diese "Parias der Moral" denken, fühlen und leiden? Atmo Ende Stimme 2 Im Juli 1919 begnadigte Karl Seitz, Präsident der Nationalversammlung und späterer Bürgermeister von Wien, das nicht mehr adelige Fräulein Vukobrankovics. Kein großer Verlust, wurde doch im selben Jahr der Adel in Österreich abgeschafft. Schwerer wog, dass die Vorbestrafte nicht mehr als Lehrerin arbeiten durfte. Sie trat der Sozialdemokratischen Partei bei und wechselte den Beruf. Im Verlagshaus Karl Konegen nahe der Wiener Ringstraße bewarb sie sich als Sekretärin. Stimme 1 Ich trat dort am 1. Mai 1920 als Sekretärin ein, habe mich aber rasch hochgearbeitet, was in meiner Freude am schönen Buche begründet ist. Ich fand bei meinem Chef Anerkennung. Ich dachte wohl, dass er von der Giftaffaire im Hause Piffl wisse, dieser Punkt wurde nie berührt. Stimme 2 Ernst Stülpnagel erkannte die Fähigkeiten seiner jungen Angestellten und beorderte sie in die Geschäftsführung. Bald danach ernannte sie zu seiner Stellvertreterin. Die Mitarbeiter des Verlages wählten sie als Betriebsrätin. Stimme 1 Eine glückliche und friedliche Zeit. Nur manchmal habe ich das Empfinden, dass mein Bewusstsein - parzelliert ist. Wenn ich mich sehr aufrege und mich krank fühle, dann spalten sich Teile meines Bewusstseins von mir ab. Stimme 2 Nicht nur im Büro zeigte sich Ernst Stülpnagel von Milica beeindruckt. Der 25 Jahre ältere Familienvater verliebte sich. Milica nannte ihn "Stilpe". Am Abend, an den Wochenenden wurde das Büro zum Liebesnest. Auch nach Hause nahm Stilpe seine Geliebte mit. Dorothea Stülpnagel, sie hatte den Verlag in die Ehe mitgebracht, schätzte die junge Frau. An Feiertagen wurde sie zum Essen, zu gemeinsamen Ausflügen eingeladen, manchmal übernachtete sie im Haus. Stimme 1 Doch das Glück, das ist rund und es wendet sich schnell. So geht es nun einmal im Leben... Atmo Büro, fern die Druckerpresse Stimme 1 Stilpe, ich erwarte ein Kind. Hörst du mir zu? Du hast mir die Treue versprochen, erinnere dich! Was soll ich tun, sag du es mir, ich weiß nicht ein noch aus. Ich habe deine Briefe gelesen, nicht nur die Geschäftspost, auch die private. Du bist verheiratet, und du hast auch andere Frauen. Das war einmal, hast du mich beruhigt, das ist längst Vergangenheit. Du warst nicht ehrlich zu mir, Stilpe. Atmo Ende Stimme 3 Seine Hure, seine Mätresse, etwas anderes bedeutete sie ihm nicht! Wut und gewalttätige Ausbrüche. Dann brach sie unter Tränen zusammen, bat um Verzeihung. Er schwor ihre seine Liebe. Sie glaubte ihm. Doch es wiederholte sich. Ein Ende, sie musste ein Ende machen! Stimme 1 Da ich über Stülpnagels Wunsch keine Vorbeugungsmittel gebrauchte, wohl aber er mir die Versicherung gab, dass ich mich ganz auf ihn verlassen könne, konnte ich mit einem solchen Falle nicht rechnen. Stülpnagel überließ es ganz mir, mit meiner Lage fertig zu werden. Stimme 3 Konsultation bei Dr. Julius Löwy in der Burggasse. Gravid, non est dubitum. Zwei Monate, eher mehr. Atmo Ordination - der Arzt schweigt, schnauft, räuspert sich Stimme 1 Es ist nicht nur die Schande, die ich fürchte, Herr Doktor. Ein Bekanntwerden meines Zustandes in meiner Stellung bei der Firma würde mich unmöglich machen, ich müsste gehen, ich müsste... (den Tränen nahe)... Herr Doktor... Dürfte ich mit meiner erblichen Belastung denn erwägen, ein Kind zur Welt zu bringen? ... Herr Doktor! Atmo Ende Stimme 2 Plötzlich klagten in der Familie Stülpnagel alle über heftige Leibschmerzen, Dorothea, ihre Kinder, die Bedienerin. Auch Herr Stülpnagel, der nur gelegentlich am Abend zu Hause speiste, erkrankte schließlich. Auf Milica fiel kein Verdacht. Erst als ihre Vergangenheit als "Giftmischerin" durch einen Bürotratsch enthüllt wurde, ließ Stülpnagel die Lebensmittel in seiner Wohnung chemisch untersuchen. Stimme 4 Die Staatsanwaltschaft erhebt die Anklage, Milica Vukobrankovics habe im Mai und Juni 1922 in Wien, in der Absicht, Dorothea Stülpnagel und deren Söhne Wolfgang und Ernst zu töten, durch Beimengen von Bleiweiß in eine Anzahl von Lebensmittelpaketen, die für den Haushalt der Familie Stülpnagel bestimmt waren, auf tückische Weise zur wirklichen Ausübung führende Handlungen unternommen, wobei die Vollbringung des Verbrechens nur wegen Unvermögenheit, wegen Dazwischenkunft eines fremden Hindernisses beziehungsweise durch Zufall unterblieb. Hiedurch hat Milica Vukobrankovics das Verbrechen des versuchten Meuchelmordes nach den Paragraphen 8, 134, 135 des Strafgesetzbuches, strafbar nach Paragraph 138 begangen. Stimme 1 Ihr ungerechten, parteiischen Richter-Hunde seid meine Mörder! Ich verfluche Euch, Ihr impertinenten Trottel! Stimme 3 Schon in der Nacht hatten sich viele Menschen vor dem Landesgerichtsgebäude angestellt, um sicher einen Platz zu erhalten und ihre Sensationslust zu befriedigen. Die "Glücklichen", die mit ihren Einlasskarten, in den Saal gelangen konnten, gehörten hauptsächlich den sogenannten "besten Ständen" an, und unter ihnen war gar ein gewesener Erzherzog! Die "vornehmen" Damen und Herrn entblödeten sich nicht, Operngucker auf die Angeklagte zu richten, und sie brachen in den unpassendsten Augenblicken in ein Gelächter aus. Milica Vukobrankovics hat eine hübsche hohe Gestalt, ein blasses, interessantes Gesicht und macht den Eindruck einer außerordentlich intelligenten, aber schwer hysterischen Person. Atmo Gerichtssaal - laute Stimmung Stimme 1 Es ist ein trauriger Anlass und man benimmt sich wie im Theater! Leute, die sich hier begeilen und ihre perversen Triebe befriedigen wollen, gehören nicht herein! Ich protestiere gegen diese - (Stimme geht im Gejohle unter) Stimme 2 Der Staatsanwalt zitiert aus einem Brief der Angeklagten: Stimme 4 Die Richter sind alle Hunde. Der Untersuchungsrichter ist genauso ein Hund wie die anderen. Stimme 1 Das über den Herrn Doktor Fischer nehme ich zurück. Stimme 4 Das andere nicht? (Lachen im Saal) In einem anderen Brief, der aus Ihrer Zelle ging, sagten sie: "Es wäre mein heißester Wunsch, dass sein Skalp auf meinem Weihnachtsbaum hängen möge!" (Stürmische Heiterkeit) Stimme 1 Diese Briefe geben nur ein Bild meiner zerrissenen Seele. Aus ihnen ersieht man, was ich gelitten habe. Atmo Ende Stimme 2 Sie empörte sich gegen die Vorverurteilung durch die Presse: Stimme 1 Ich erstatte die Anzeige gegen diese Zeitungen! Der immer wiederkehrende Ausdruck Giftmischerin in den Blättern kommt dem gleich, was das Gesetz als ein dem Urteil Vorgreifen verbietet. Stimme 3 Wir müssen in Milica Vukobrankovics selbst ein Stück Wien und zugleich ein Stück Balkan sehen. Ihre Vorfahren waren nicht wählerisch in den Mitteln, wenn es unerwünschte Konflikte zu lösen gab. Daheim herrschte Blutrache, auch für enttäuschte Liebe. - Völlig ausgestoßen aus der Gesellschaft, verelendet und abgehärmt kommt sie aus dem Gefängnis. Aber kaum hat sie Brot, Beruf, Gesellschaft und Wirkungskreis, da vergiftet sie von neuem. Eine Person, die wie eine Hexe handelt und wie eine Dame aussieht.- Femme Fatale! Sirene! Fünfzehn Heiratsanträge während Prozess!- Die Anklagebank wird zum Regiepult, von dem aus sie die Verhandlung leitet! - Stimme 1 Die Richter, die nun schon fast ein Jahr den Namen Vukobrankovics immer in Verbindung mit dem Worte Giftmischerin in ihrem Leibblatte lesen, kommen notwendigerweise schon mit einer fertigen, festen Überzeugung zur Verhandlung, so dass der Staatsanwalt leichtes Spiel hat. Atmo Gerichtssaal Stimme 4 Vukobrankovics ist bereits vor wenigen Jahren im Mittelpunkte einer aufsehenerregenden Vergiftungsaffaire gestanden, an welcher der gegenwärtige Vorfall unwillkürlich die Erinnerung wachrufen musste. Stimme 1 Ich bin für diese in wahnwitziger Aufregung begangene sinnlose Handlung, aus der niemandem ein Schaden erwuchs, mit 16 Monaten strenger Haft genug bestraft worden. Ich kann nicht mehr! Stimme 4 Bleiben Sie! Das werden wir abstellen! Unruhe im Saal. Richter klopft. Stimme 1 Ich muss ein Wort sprechen. Es war ein Zustand, wie eine Art Verfolgungswahn, man sieht nur Feinde um sich, man hasst alles, man verflucht alle, auch sich selber... Ich habe niemanden töten wollen. Um des Himmels willen, immer wieder kommt man mir mit der Mordsache. Es ist grässlich! Atmo Ende Stimme 3 Bleiweiß, Bleikarbonat, ein toxisches Nervengift, verursacht schwere Koliken, Darmstörungen und führt schon in geringen Mengen zum Tod. Stimme 2 In 16 Paketen befand sich Gift: in Mehl-, Gries-, Salz- und Staubzuckerpaketen. Der Prozentsatz der Beimischung schwankte, insgesamt war mehr als ein halbes Kilogramm Bleiweiß in den Lebensmitteln verteilt. Genügend, um damit 20 bis 25 Menschen zu töten. Atmo Gerichtssaal Stimme 4 Wir kommen nun zur Aussage des Zeugen Doktor Julius Löwy. Die Angeklagte gibt an, Ende Mai 1922 ein geschmack- und geruchloses Abortivum zum Abtreiben der Leibesfrucht erhalten zu haben: Bleiweiß. Stimme 1 Ich sollte, da mein schwacher Magen für Medizinen damals nicht geeignet schien, täglich mittags und abends etwa eine Messerspitze von dem Bleiweiß zu mir nehmen, außerdem auch dem Badewasser einige Esslöffel desselben zusetzen. Stimme 3 Gellende Schreie und Pfiffe im Gerichtssaal: Abgetrieben hat sie auch noch! Pfui, Schande! Dieser Schlampen! Geile Dirne! Ehebrecherin! Hur'! Atmo Ende Stimme 4 15. Dezember 1923. Im Namen der Republik Österreich! Die Angeklagte Milica Vukobrankovics hat das Verbrechen der schweren körperlichen Beschädigung nach Paragraph 152 und Paragraph 155 begangen und wird zu einer schweren Kerkerstrafe in der Dauer von dreieinhalb Jahren verschärft mit einem harten Lager vierteljährlich und zum Strafkostenersatz verurteilt. Die Verwahrungs- und Untersuchungshaft seit 28. Juli 1922 9 Uhr Vormittag wird angerechnet. Stimme 1 (liest) Strafvermindernd das halbe Geständnis und eine auf erbliche Belastung zurückführende Charakterabartung. Stimme 3 Karl Kraus in der "Fackel": Eine Prozessführung, die sich gegen die intellektuelle Überlegenheit der Angeklagten durch Witze wehrt und wegen anhaltender Unzulänglichkeit sich durch das Strafmaß schadlos hält, eine Sachverständigenschaft, in der die geistig Minderbefähigten über die Höherorganisierten aburteilten; einer Zuschauerschaft, die die ganzen Nächte angestellt steht, um sich tagsüber an allem zu beteiligen, was die Justiz nach geheiligtem Missbrauch aufzutischen beliebt, und mit Gier und Heiterkeit der Zerfleischung von Privatlebendigem beizuwohnen. MUSIK Stimme 2 Anfang 1925, nach 2 Jahren und 4 Monaten schweren Kerkers wurde die ehemalige Bürgerschullehrerin zur Probe entlassen. Mit 31 Jahren begann sie ein neues Leben, ergriff einen neuen Beruf: Journalistin. Atmo Kaffeehaus mit Billard Stimme 1 Meine Zeitungsartikel werden aber mit einem anderen Namen gekennzeichnet sein. Fürderhin werde ich Elisabeth Thury heißen. Stimme 2 Thuryvorstadt, Thurygrund, so hieß der Teil des neunten Wiener Bezirks, in dem die frischgebackene Elisabeth Thury ihr ganzes Leben ihren einzigen Wohnsitz hatte. Die serbische Giftmischerin gab es nicht mehr, die Wienerin schrieb sich eine andere Biographie. Stimme 1 Und jetzt: Champagner für alle! Atmo Ende - MUSIK Stimme 2 Sie arbeitete für die Wiener Zeitung, die Arbeiterzeitung, die Sonn- und Montags-Zeitung, für die Magazine die Frau, die Unzufriedene, ebenso für die amerikanische United Press, die französische Nachrichtenagentur, den Prager Mittag. Stimme 1 Meine Betätigung für die sozialdemokratische Arbeiterpartei führte ich - nach 1934 illegal - fort. Radiostörgeräusche - Signation BBC Stimme 2 Vom "Rosenkranzfest 1938", der einzigen Großdemonstration gegen die Nazis in Österreich, berichtete Elisabeth Thury aus einer Telefonzelle auf dem Wiener Stephansplatz für die BBC London, die noch in der Nacht sendete, während man sich in Österreich fragte, wie diese Nachricht so schnell an die Weltöffentlichkeit gelangt war. Die illegale Tätigkeit der Reporterin blieb der Gestapo nicht lange verborgen. Stimme 3 Hotel Metropol, ehemaliges Luxushotel auf dem Wiener Morzinplatz, nun Sitz der Geheimen Staatspolizei. 1. September 1939. Der Tag des deutschen Überfalls auf Polen. Kriegsbeginn. Und Tag der Verhaftung. Verhör. Stimme 1 Ich wurde verdächtigt, mich in der sozialistisch- kommunistisch-katholischen Einheitsfront konspirativ betätigt zu haben. Stimme 2 Nach einem Jahr "Schutzhaft" in den Händen der Gestapo brachte man sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in Norddeutschland, nahe von Berlin. Ohne Prozess. Stimme 3 Im Zugangsblock 8. Kloputzen. Fensterputzen. Bodenputzen. Außenarbeit, morgens und mittags am Appellhof. Steine laden. Ziegelschupfen. Sisyphusarbeiten ohne Sinn, zermürbend für die Häftlinge. Stimme 2 Eine Schreibkraft wurde benötigt, um den Zettelkasten der Bekleidungskammer zu ordnen. Thury bekam die Stelle. Stimme 3 Kleider aus dem Bunker. Dort wird gefoltert und getötet. Die Kleider der Toten kommen in die Bekleidungskammer. Sie werden in die Kartei eingetragen. Stimme 1 Die Kleider waren oft total durchnässt, blutig, in Fetzen. Die Häftlinge wurden mit kaltem Wasser begossen, Hunde auf sie gehetzt. Im Winter froren die Leichen auf dem Boden an. Mit Gewalt musste man sie losreißen. Stimme 2 1942 erfolgte eine neuerliche Versetzung. Thury mit der niedrigen Nummer 1974 gehörte nun zur Lager-Aristokratie. Sie wurde Anweisungshäftling. Kapo. Atmo Feld - Kasernenhof - Appellstehen Stimme 3 Kommando Strafblock. Abteilung Arbeit in den Kartoffelfeldern, im Kartoffelkeller. Tag für Tag ab 6 Uhr, winters 1/2 7. Eine halbe Stunde Mittagspause, oft nicht einmal Zeit genug zum Essen. Schwerarbeit. - Und schwere Verantwortung. Stimme 4 Erinnerung einer Ravensbrückerin: "Eine keineswegs mehr junge Frau mit ihrem leicht gekrümmten Rücken an der Spitze eines Kommandos aus 60 Häftlingen des Strafblocks, die in den Kartoffelkeller ausrücken. Wir wissen welche Hölle der Strafblock war. Thury hat sich für ihre Mädchen bedingungslos eingesetzt, hat aber auch die Achtung und Autorität besessen, die zur Führung von 60 Frauen des Strafblocks notwendig war." Stimme 3 Hauptnahrung der Häftlinge 2-3 Kartoffeln am Tag. Die SS wachte darüber, dass keiner ein Stück in die Tasche steckte. Drakonische Strafen dafür: Bunker. Einzelhaft. 25 Stockschläge, für viele das Todesurteil. Ende Atmo Stimme 2 Auch Thury kam in Bunkerhaft, sie hatte ihrer Arbeitskolonne Kleider und Schuhe aus der Bekleidungskammer besorgt. Stimme 1 Das zweite Mal 14 Tage, weil ich Häftlingen aus dem Strafblock Brot gab. Stimme 2 1944 wurde Elisabeth Thury in die Lagerschreibstube versetzt - Stimme 1 - wo ich die Leitung der Lagerpolizei, des Ordnungs-und Reinigungsdienstes im Lager übernehmen musste. Ich wurde später auch Lagerälteste. Stimme 4 Dienstvorschrift: Die Funktionshäftlinge -Kapos - müssen über die Stimmung der Häftlinge, ihr Wesen und Treiben, sowie über alle Vorgänge im Schutzhaftlager unterrichtet sein. Kein Häftling darf dem anderen trauen. Feste Kameradschaften unter den Häftlingen bilden eine Gefahr für die Lagersicherheit. Stimme 2 In der Lagerpolizei setzte Thury verstärkt Österreicherinnen ein. "Thurys Truppe", zuverlässige Kameradinnen, die im Bedarfsfall Befehle der SS durchzuführen hatten und möglichst vereitelten. Zu Thurys Möglichkeiten gehörte es, der Oberaufseherin Vorschläge zu unterbreiten, diese gingen in der Regel auch durch, berichteten Kameradinnen aus Ravensbrück nach dem Krieg. Doch es gab auch andere Erinnerungen. Geschichten und Gerüchte: Stimme 3 (verschiedene Distanzen zum Mikro, verschiedene Tempi und Lautstärken Atmo außen, nur letzte Sequenz innen) Herrschsüchtig! - Päpstlicher als der Papst. - Ihre Schläge: schmerzhaft und gezielt. - - Sie gebrauchte und missbrauchte ihre Macht. Sie hatte ihre kommunistische Vergangenheit völlig abgelegt. - Sie schlug nicht, tat aber auch selten Gutes für die anderen. - Ihr bemerkenswertes Äußeres: ein großer Kopf mit grauen Haaren im Herrenschnitt, eine große Nase und eine fürchterliche Stimme. Einen Hals hatte sie nicht, unter dem Hinterkopf saß gleich der etwas gebuckelte Rücken. - Sie war einmal unter der Anklage des Gattenmordes gestanden, aber auf Grund mildernder Umstände freigesprochen worden und zwar vom alten Bürgermeister Seitz, der auch in Ravensbrück im Zellenbau saß. Einmal, als Thury wartend vor der Zellenbautür stand, wurde er gerade zum Spaziergang herausgelassen. Mit dem ganzen Charme seiner altfränkischen Courtoisie zog er den Hut gegen sie, und Thury sackte zusammen unter dieser ritterlichen Geste. Gerade diese Geste hatte sie wohl schon seit langer Zeit vergessen. Sie war außerordentlich verroht im Lager. Stimme 1 Hinter Stacheldraht: gequälte Frau'n Wie Tiere im Schlachthof anzuschau'n Manch blühendes Leben ward hier zerstört Manch Aschenurne zur Heimat kehrt--- Stimme 2 Jedoch blieb es für die Häftlinge undurchschaubar, ob Thurys Verhalten Teil ihrer Strategie eines doppelten Spiels war oder ob sie tatsächlich mit der SS zusammenarbeitete. Stimme 1 Wann werden wir der Freiheit Lieder singen? Und wann der Heimat Glocken uns klingen? Geduld nur, gedulde! Das Leid ertrag: Bald muss ja kommen der Rettung Tag. Und Austria wird das Haupt stolz erheben! Die Stunde kommt: Wer wird sie erleben? Stimme 2 Die Ambivalenz ihrer Position kam nach dem Krieg zur Sprache, als 1946 in Hamburg die Ravensbrück-Verfahren gegen Ärzte und Lager-Personal, aber auch gegen Häftlinge, die Mithäftlinge misshandelt hatten, eröffnet wurden. Stimme 3 Zeugin Thury klagte den Lagerkommandanten Suhren, die grausame Oberaufseherin Dorothea Binz und weitere zehn SS-Angehörige namentlich an. Sie kannte die Gaskammer, sie wusste von den medizinischen Versuchen an Häftlingen. Stimme 2 Gegen Elisabeth Thurys Zeugnis erhoben ehemalige Häftlinge international Einspruch. Sie wurde trotzdem vorgeladen. Die Stimmen gegen sie verstummten nie. Historischer Radioton: Musik Stimme 3 1. September 1946. Das dritte Leben begann - mit der Gründung der APA Austria Presseagentur. Stimme 4 Gründungsstatut: Ziel und Zweck ist es, einen unabhängigen Nachrichtendienst für die österreichischen Zeitungen zu schaffen. Stimme 2 Aus dem Widerstand kamen der Chefredakteur, die Auslandsressortleiter, die Innenpolitik-Redakteurin. Man nannte sie auch "Frau APA": Elisabeth Thury. Stimme 1 Als Arbeitstische hatten wir grob gezimmerte Möbel wie man sie in alten Waschküchen findet. Fernschreiber schrieben damals auf langen Bändern - wenn sie nicht streikten. Es war ja alles Kriegsbeutegut, von den Besatzern den zugelassenen Redaktionen zur Verfügung überlassen. Stimme 2 Schnell teilte die Politik die APA in eine linke und eine rechte Reichshälfte. Dazwischen herrschte Feindschaft. Auch Thurys Vergangenheit wurde wieder ausgegraben. Atmo Büro mit Fernschreiber Stimme 1 Kaffee? Unterdrücktes Lachen der Kollegen Stimme 3 (halblaut) Nein, danke, wenn die Thury Kaffee kocht, verzicht ich lieber. Ende Atmo Stimme 2 Der Schreibtisch war das Zentrum ihres Lebens, den sie nur bei Pressekonferenzen verließ. In ihre Wohnung in der Lustkandlgasse ging sie für ein paar Stunden zum Schlafen. Stimme 1 Die beste Zeit zum Arbeiten, die Nacht. Kaffee, Zigaretten, Kaffee. Einmal im Jahr nach Venedig. Der Lido. Stimme 2 Doch selbst dort hielt es sie nur kurz, nach wenigen Tagen war sie wieder in Wien. Die Kollegenschaft bezweifelte, dass sie überhaupt weg gewesen war. Atmo Büro Stimme 3 Die Thury? Kann ja gar nicht schwimmen. Die war auf Heimaturlaub, und jetzt ist ihr schon fad. Reaktion: Lachen - Ende Atmo Stimme 2 (oder Stimme 4) 1956 - Anekdote: Das Büro der Austria Presseagentur in der Wiener Börse brannte aus. Elisabeth Thury rettete sich erst in letzter Sekunde von ihrem Schreibtisch, Augenblicke später stürzte das Dach des Gebäudes hinter ihr ein. Die unerschrockene Journalistin berichtete vom Schauplatz, einer nahe gelegenen Telegraphenstation aus direkt an die Zeitungen. Wählscheibe Telefon - Freizeichen Stimme 1 Dienstzeiten? Kenne ich nicht. Ich leb im Büro. Stimme 3 In der Schreibtischlandschaft, hinter ihren Büchern, Zeitungen und Papierstößen beinahe verschwunden. Mehr und mehr Zeit verbrachte sie in der Redaktion, schlief manchmal sogar am Schreibtisch ein und ging nach dem Erwachen auch nicht mehr heim. Mit zunehmendem Alter genehmigte sie sich auch während langer Pressekonferenzen ein Schläfchen. Stimme 1 Haushalt? Führe ich nicht. Stimme 3 Wenn sie zu Hause essen wollte, stampfte sie einfach auf den Fußboden und der Kellner aus dem Café Volksoper unter ihrer Wohnung brachte ihr das Menü hinauf. Atmo Büro Stimme 2 Sie wusste von jedem etwas... Stimme 1 (blättert in Akten, zählt auf) Geheimnisse - Gerüchte - Stimme 2 ...von jedem hatte sie ein Dossier angelegt... Stimme 1 - Skandale - Stimme 2 ...von ihr wusste man nicht einmal, mit wem sie ein Verhältnis hatte... Stimme 3 Mit dem Bürgermeister? Mit dem Landeshauptmann? War doch etwas dran an der Nachred', dass sie eine Homosexuelle war? Ende Atmo - MUSIK Stimme 2 (oder Stimme 4) Geschenke von Politikern aus aller Welt füllten die Wohnung der Allwissenden. Lustkandlgasse 11, Tür 4, ein Leben lang die einzige Adresse der Thury, war ein Museum der Erinnerungsstücke: Das Aktbild im Vorzimmer - die junge Milica? Im Salon ein Flügel, schwarze Jugendstilmeublage mit Perlmutteinlagen. Im Speisezimmer die Gemäldesammlung ihrer adeligen Vorfahren, darunter ein von Maria Theresias Hofmaler Martin van Meytens gemaltes Porträt. Stimme 3 Die Vergangenheit, niemals erwähnt, doch allgegenwärtig. Kollegen, die munkelten und nicht offen zu fragen wagten. 1970 erschien eine Neuauflage des Kolportageromans von Ernst Weiß: "Der Fall Vukobrankovics". Jemand legte ihn auf ihren Schreibtisch. Sie schob das Buch wortlos zur Seite. Stimme 2 Wie Elisabeth Thurys Leben war auch ihr Sterben: geheimnisumwittert. Sie starb an einem Wochenende. An ihrem Schreibtisch sitzend? Oder im Krankenhaus? Und ihre Todesursache? Perforation des Zwerchfells? Darmkrebs? Ein kaputtes Herz? Nur so viel steht fest: Es war ein Samstag. Radiosprecher 9. Juni 1973. Die Doyenne des österreichischen Journalismus ist heute Morgen im 80. Lebensjahr verstorben. Atmo Friedhof - Begräbniszug - ferne die Grabrede: Stimme 4 ...Dem durchschnittlichen Zeitungsleser wird der Name Elisabeth Thury wenig sagen. Vielleicht hat er sich, wenn er Zeuge eines Staatsbesuchs oder offiziellen Empfanges wurde, einmal gewundert, wer denn die gebeugte alte Dame mit der riesigen Handtasche ist, die offensichtlich Gott und die Welt kannte und mit allen per Du war... Radiosprecher Sie gehörte zu jenem Journalistentypus, Reporter und Redakteur zugleich... Eine Persönlichkeit, ein Original... ein Symbol... Schritte auf dem Kies, die sich entfernen - verklingende Musik Ende Atmo Stimme 2 Ein Testament existierte nicht. Angehörige fanden sich keine. Der bestellte Notar versäumte es, wie von Gesetzes wegen vorgesehen, einen Erbaufruf in die Amtliche Wiener Zeitung zu setzen. Warum, blieb ungeklärt. Sicher war jedoch, dass so mancher darüber erleichtert aufatmen konnte. Den Nachlass bekam ein Altwarenhändler, der in Windeseile die Wohnung in der Lustkandlgasse leerte. Stimme 3 Die Gemäldesammlung, das wertvolle Mobiliar, die Bibliothek samt geheimer Korrespondenz. Die Tagebücher mit ihrem unbekannten Inhalt. Das Erbe der Elisabeth Thury, der Letzten aus dem Geschlecht Vukobrankovics, brachte alles in allem 7000 Schilling - 500 Euro ein. Ihre Geheimnisse nahm sie mit. MUSIK Thury-Gedicht? Schlusstitel Bibliothek: Milica von Vukobrankovics, Weiberzelle 321. Tagebuch aus der Haft, Verlag Löwit Wien/Leipzig 1924 Ernst Weiß, Der Fall Vukobrankovics, Verlag Die Schmiede Wien 1924 Erich Wulffen, Psychologie des Giftmordes, Urania Bücherei Wien 1918 Rudolf Preyer, Die Thury. Mit Gift und Feder, Edition Steinbauer Wien 2010 Die zitierten Gedichte stammen von Milica Vukobrankovics alias Elisabeth Thury Drei Gedichte NICHT FRAGEN Traf einen Menschen schweres Leid So quäl' ihn nicht mit Fragen Hat er Vertrau'n, wird mit der Zeit Er dir's von selber sagen. 'S gibt Stunden, wo das Mitleid schwer Demütigend er findet Und wo die kleinste Frage er Als Neugier bloß empfindet. Dann musst du doppelt taktvoll sein Darfst drängen nicht und fragen Wenn er den schweren Kummer sein Dir nicht von selbst will sagen. WUNDEN GIBT'S DIE NIE VERHEILEN Wunden gibt's die nie verheilen Immer weiter, weiter fressen Ach, da kommt kein sanft Vergessen Mag die Zeit auch schnell enteilen. Nie vernarben solche Wunden Senden ihre stummen Klagen Gegen den, der sie geschlagen Vorwurfsvoll zu allen Stunden. MÄRCHEN (unveröffentlicht) "Es war einmal..." - Andächtig lauscht die Kinderschar im Kreise. "Es war einmal..." - Melodisch rauscht die alte Märchenweise. "Es war einmal..." - Welch tiefes Weh da durch die Seele geht die dort, an ihres Glückes Grab einsam, verlassen steht... 1