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Am Anfang, als CDU-Bundeskanzler Adenauer Mitte der 1950er Jahre die Einführung der Wehrpflicht durchsetzte, waren viele Deutsche empört - wie der Sozialdemokrat Fritz Erler bei einer Bundestagsdebatte 1956: Take 01 Erler (0:40) Unser Volk lebt in einer tiefen Tragik: Zwei Armeen werden aufgestellt in den beiden Teilen Deutschlands, das ist schon schlimm genug. Noch schlimmer ist es, dass diese beiden Armeen eingeschmolzen werden in feindlich einander gegenüberstehende Militärblöcke. Und noch schlimmer ist es, wenn durch unser Zutun dafür gesorgt wird, dass es sich bei diesen zwei Armeen dann auch noch um Wehrpflichtarmeen handelt. Sprecher Bei vielen Kritikern der Wehrpflicht ging damals die Angst um, Deutsche würden durch die Wehrpflicht gezwungen, auf Deutsche zu schießen, das wäre eine tragische Verdrehung des patriotischen, oft sogar nationalistischen Anspruchs, der einst hinter der Wehrpflicht stand. Der nationalsozialistische Durchhaltefilm "Kolberg" beschreibt die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen während der napoleonischen Kriege als patriotische Erhebung des Volkes gegen den äußeren Feind. "Kolberg" zeigt das nationalistische Verständnis von der Beteiligung des Volks am Militär. Gneisenau stürzt zu Beginn des Films in das Zimmer des preußischen Königs: Take 02 - Kolberg Aufruf (1:40) König: Gneisenau? Gneisenau: Ich bitte Euer Majestät im Namen aller Generale, einen Aufruf an unser Volk zu richten. K: Aufruf? Was für einen Aufruf? G: Einen Aufruf an Ihr Volk, Majestät. Einen Aufruf zum Krieg, der auf den Straßen, auf den Plätzen angeschlagen wird und in den Zeitungen erscheint. Die Stunde ist da! K: Aufruf zum Kriege? An das Volk? Wieso an das Volk?, Sache der Armee, Gneisenau. G: Sehr wohl, Majestät, aber das Volk wird die Armee sein, das ganze Volk. Schauen Majestät da hinaus. (Musik wird lauter, Gesang: Der Sturm bricht los) G: Das Volk steht auf. Der Sturm bricht los. Ja, Majestät. K: Rebellen, was? G: Ihr Volk, Majestät. Sprecher Und dann erklärt Gneisenau, worum es ihm geht: Take 03 Kolberg Wehrpflicht (0:19): Damals in Kolberg, da ist mir der Gedanke aufgegangen, der Gedanke eines Volksheeres. Was ich damals noch unklar erkannt habe, Scharnhorst hat es dann gestaltet. Jetzt ist die allgemeine Wehrpflicht in Kraft. Nun drängt sich das Volk zu den Waffen. Damals in Kolberg erlebte ich die Geburtsstunde der deutschen Freiheit, als Fürsten und Könige ihr Volk verlassen hatten. Sprecher Der nationalsozialistische Film-Gneisenau meint mit Freiheit offensichtlich nur die Freiheit vom französischen Feind. Und er beansprucht eine Idee für sich, auf die weder er noch Scharnhorst gekommen sind. Die Idee der allgemeinen Wehrpflicht stammte in Wirklichkeit gerade vom französischen Feind. Sie war ein Ergebnis der Französischen Revolution. Eine Koalition der europäischen Potentaten schickte 1792 ihre Armeen gegen das noch immer von Wirren geschüttelte revolutionäre Frankreich, das sich nur noch auf unzuverlässige Reste des alten königlichen Militärs stützen konnte. Da zogen Bürger freiwillig aus, um ihre Republik zu verteidigen, und das von kaum jemandem Erwartete geschah. Konrad Engelbert Oelsner, der das Geschehen auf französischer Seite beobachtete, schrieb nach der Schlacht von Valmy: Zitator Der 20. September endlich war ein merkwürdiger Tag für ganz Europa, das an diesem Tage die diszipliniertesten Truppen der ganzen Erde wirkungslos bei den rohen Banden der Freiheit vorübergehen sah. Die französischen Armeen, vor kurzem als Spießbürgertross verachtet, haben sich da gleich den besten europäischen Truppen als kriegsgewohnte Scharen gezeigt und den Hohn auf die zurückgeschleudert, welche ihrer gespottet hatten. Sprecher Nach dem ersten Erfolg geriet die Freiwilligenarmee der Republik gegen die Übermacht der Feinde allerdings bald in die Defensive. Da beschlossen Wohlfahrtsausschuss und Nationalkonvent in Paris die "levée en masse". Alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25 Jahren wurden zum Militärdienst verpflichtet. Das so entstandene Massenheer war den Armeen des alten Europa weit überlegen, patriotische Begeisterung glich die zunächst schlechtere Ausbildung aus. Patriotismus ersetzte dann unter Napoleon immer mehr den Freiheitswillen als Motivation, und die hielt meist auch noch an, als Napoleon imperiale Kriege führte, die große Lücken in die junge männliche Bevölkerung Frankreichs rissen. Der Soldat Jean-Hubert Leroy schrieb im Januar 1813 nach Hause: Zitator "Sagt mir doch, wie es in der Heimat aussieht, vor allem bei den jungen Mädchen, ob der Kaiser sie nicht langsam verdrießt mit all seinen Einberufungen. Sprecher Das französische Heer aus patriotischen Wehrpflichtigen war dem Militär alten Stils an Größe und Kampfkraft eindeutig überlegen. In den Armeen der alten Mächte standen adlige Offiziere himmelweit über den einfachen Soldaten, die mit zweifelhaften Methoden angeworben oder ausgehoben worden waren. Die "Kerls" wurden im Gefecht und in der Kaserne als willenlose Objekte behandelt und mit drakonischen Strafen ins Glied und in die Disziplin geprügelt. Regie: Preußischer Militärmarsch, möglichst aus der Zeit der Befreiungskriege, aufblenden, unterlegen unter die nächsten 3 Absätze Sprecher Das sollte nach dem Willen der preußischen Reformer anders werden. Auch der preußische Soldat sollte den Militärdienst als Ehrendienst ansehen, nicht als vom Schicksal verhängtes Unglück, dem man sich möglichst wieder entzieht. Auch Preußen sollte in der Lage sein, dem Gegner ein Massenheer entgegenzustellen. Die Prügelstrafe wurde abgeschafft, Anreize für Bürgersöhne wurden geschaffen, in der Sonderstellung des Einjährigen zu den Soldaten zu gehen und womöglich Offizier werden zu können. Allgemeine gesellschaftliche Reformen sollten einen Grund schaffen, für ein preußisches Vaterland zu kämpfen. Tatsächlich wurde das Land von patriotischer Begeisterung ergriffen. Doch die gesellschaftlichen Reformen blieben spätestens nach dem Sieg über Napoleon stecken, und die Beteiligung der Bevölkerung an ihrem Militär war vielen konservativen preußischen Offizieren ein Dorn im Auge. Besonders die Landwehr wurde als künftiger Kern des Umsturzes misstrauisch betrachtet. In der Landwehr waren alle wehrpflichtigen Zivilisten im Alter von 17 bis 40 Jahren gleichsam als Reservisten zusammengefasst. Die konservativen Befürchtungen erwiesen sich jedoch in der Revolution von 1848 als unbegründet. Nur in einigen wenigen Ausnahmefällen beteiligten sich Landwehrgruppen an den revolutionären Ereignissen. Der preußischen Nationalversammlung lag in diesem Jahr auch ein Verfassungsentwurf vor, die "Charte Waldeck", die die Einrichtung einer "Volkswehr" vorsah: Zitator: Die Volkswehr besteht aus denjenigen wehrhaften Männern vom vollendeten 21sten bis zurückgelegten 50sten Lebensjahre, welche nicht im aktiven Dienste stehen. Sie hat vorzugsweise die Pflicht, die konstituierten Gewalten zu schützen und für die Aufrechterhaltung der Ordnung und der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes zu wachen. Die Volkswehr hat das Recht, ihre Führer bis zu den Chefs der Bataillone einschließlich selbst zu wählen. Sind höhere Führer erforderlich, so hat die Regierung das Recht der Wahl unter drei von der Volkswehr vorgeschlagenen Kandidaten. Sprecher Die preußische Nationalversammlung wurde von Soldaten des Königs auseinandergetrieben, die revolutionäre Idee einer Miliz, die sich selbst verwaltet und notfalls auch die Rechte der Bürger vor der Obrigkeit schützt, blieb aber lange in den Köpfen. Noch 1890 sollten die deutschen Sozialdemokraten in ihrem Erfurter Programm die Einrichtung einer Volkswehr fordern. Die tatsächliche Entwicklung ging in eine ganz andere Richtung. 1860 stand in Preußen wieder eine Heeresreform an. Die ungeliebte Landwehr sollte keine Rolle mehr spielen, die Wehrpflichtdauer sollte von den zu diesem Zeitpunkt üblichen 2 Jahren wieder auf 3 Jahre erhöht werden. Die Militärs wollten lieber weniger Männer eines Jahrgangs einziehen, aber diese Rekruten fest im Griff haben. Die liberale Fortschrittspartei versuchte die kürzere Wehrpflicht festzuschreiben und die Landwehr zu erhalten, auch um zu verhindern, dass die bewaffnete Macht ausschließlich Instrument des Königs sei. Daraus entstand ein jahrelanger Verfassungskonflikt, den die Fortschrittlichen verloren. Regie: Marschierende Soldaten einblenden und unter den Sprecher legen Sprecher Nach dem Sieg über Frankreich in den Jahren 1870/71 wurde das preußische Modell in ganz Europa übernommen: Ein Wehrpflichtarmee, in der die Rekruten einer festen Struktur eingegliedert werden, die von Berufsoffizieren und -unteroffizieren bestimmt wird. Solche Armeen standen sich im Ersten Weltkrieg gegenüber. O-Ton (Regiment zieht in den 1. Weltkrieg) "Herr Oberst! Ich kann es mir in dieser schweren Stunde nicht versagen, im Namen der Stadt und ihrer Einwohner unserem geliebten Regiment "Lebewohl" zu sagen. Wie ein Mann hat sich Deutschland erhoben. Und freudig ziehen die Söhne unseres Volkes hinaus. Wir wollen einstimmen in den Ruf: "Unser geliebtes Regiment: Hurra! Hurra!" Sprecher Gerade im deutschen Kaiserreich zeigte sich, dass die liberale Vorstellung, die allgemeine Wehrpflicht könnte zur Demokratisierung des Militärs beitragen, eine Illusion war. Eher trug die Wehrpflicht zur Militarisierung der Gesellschaft bei. Für viele Bauernjungen war der Wehrdienst ein Erlebnis, das sie in guter Erinnerung behielten. Sie kamen endlich einmal weiter von zuhause weg als bis zur nächsten Kreisstadt, der Drill in der Kaserne war auch nicht schlimmer als die schwere Arbeit auf dem Gutshof oder dem eigenen Anwesen, das Gehorchen hatte man den jungen Männern ohnehin eingebläut. Beim Militär hatte man viele Kameraden und in der Uniform wurde man von den Mädchen gleich ganz anders angesehen. Die gebildeten Bürger aus der Stadt band die Möglichkeit, Reserveoffizier zu werden, in militärische Strukturen ein und vermittelte ihnen soldatische Denkweise. Regie: Marschmusik (Hohenfriedberger o. a. Marsch) unter dem Sprechertext oben aufblenden und kurz stehen lassen Sprecher Doch die Debatten des 19. Jahrhunderts um die Wehrpflicht als Ergebnis von Revolution und Nationalismus gleichermaßen waren deswegen noch nicht abgeschlossen. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach zwei verlorenen Kriegen die Aufrüstung der Bundesrepublik zur Debatte stand, fielen wieder Argumente wie im Jahrhundert zuvor. Häufig war von der Wehrpflicht als "legitimem Kind der Demokratie" die Rede, und der CDU-Abgeordnete Will Rasner sagte 1954 im Bundestag, mit Bezug auf die damalige "Ohne mich"-Kampagne gegen die Wiederbewaffnung: Take 04 Rasner Demokratie Und wir sollten bedenken, meine Herren von der Opposition, dass jede Förderung der Parole "Ohne mich" beim Wehrdienst umschlagen kann in eine Parole "Ohne mich" gegenüber unserem demokratischen Staate (Beifall) und damit zu einer nihilistischen Haltung führen kann, die den Nährboden für einen neuen Totalitarismus abgibt. Allgemeine Wehrpflicht und Demokratie gehören nämlich zusammen. "Ohne mich" und Demokratie sind zwei einander ausschließende Standpunkte (Beifall) [blenden] Sprecher Nach 1918, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, hatte die erste deutsche Republik gezwungenermaßen ohne Wehrpflicht auskommen müssen. Der Versailler Vertrag verbot den Deutschen eine Wehrpflichtarmee und erlaubte nur ein kleines Berufsheer, gerade mal groß genug und ausreichend gerüstet, um innere Unruhen gewaltsam niederzuwerfen. Die Reichswehr entwickelte sich zum Staat im Staate und stand der Weimarer Demokratie distanziert bis feindlich gegenüber. Aus dieser Erfahrung kam später die tiefe Abneigung vieler Demokraten gegen eine Armee von Berufssoldaten und Freiwilligen. Übersehen wird dabei, dass Politiker der Weimarer Republik diese Entwicklung der Reichswehr geduldet oder sogar unterstützt hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde hauptsächlich die nationalistische Komponente der Wehrpflicht wahrgenommen. Im Zeitalter wehrpflichtiger Massenheere schien ein Staat ohne Wehrpflichtige den Nachbarn hilflos ausgeliefert zu sein, und in einem Weltbild des ewigen Kampfs der Völker gegeneinander musste es oberstes Ziel sein, das eigene Volk so wehrhaft wie möglich zu machen. Als Hitler 1935 die Wehrpflicht wieder einführte, erschien das vielen Zeitgenossen nur als Rückkehr zur Normalität, als Ende der Nachkriegsverhältnisse. Doch den Nationalsozialisten ging es um mehr. Die Wehrpflicht war auch ein wichtiger Schritt bei der Erziehung und Umbildung des Volkes. Im Propagandafilm Kolberg sagt Heinrich George in der Rolle des Bürgerrepräsentanten Nettelbeck über seine kampfwilligen Kolberger Mitbürger: Take 05 Kolberg: N: Die wollen doch das Richtige. O: Sieh mal einer an! Was wollen sie denn? N: Das ganze Volk wehrfähig machen, das wollen sie. Ein Volk von Soldaten wollen sie werden. Das können wir doch gebrauchen. Herr Oberst! In den Bürgern liegt die Rettung des Vaterlandes, auf ihren Mut, auf ihre Haltung kommt es an. Sprecher Doch als der Film im Januar 1945 in Berlin und im belagerten La Rochelle Premiere hatte, kam es längst nicht mehr auf Mut und Durchhaltewillen eines Volkes von Soldaten an. Die in der letzten Kriegsphase Einberufenen - Kinder, Greise und Invaliden - konnten Elend und Sterben des Krieges nur noch verlängern, wenn sie sich verheizen ließen. Nach diesem Krieg schien den Deutschen der Hang zum Militär endgültig vergangen zu sein. Die alliierten Sieger untersagten jede militärische Betätigung. Doch völlig und für alle Zeiten war nicht ausgeschlossen, dass die Deutschen wieder Soldaten werden könnten, denn dann hätte es der Parlamentarische Rat in Bonn gar nicht nötig gehabt, ein Grundrecht auf Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen in die Verfassung zu schreiben. Dieser Artikel war bei den Vätern des Grundgesetzes durchaus umstritten. Dann begann der Kalte Krieg und spätestens nach dem Ausbruch des heißen Koreakriegs war wieder von einem Wehrbeitrag der eben noch zur Waffenlosigkeit verpflichteten Deutschen die Rede. In Ost und West hatte schon eine stille Rüstung begonnen. Bundesgrenzschutz und Kasernierte Volkspolizei übten im militärischen Verband mit Kriegswaffen. Der Plan, bundesdeutsche Streitkräfte im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) aufzustellen, scheiterte an der französischen Nationalversammlung. Die traute den Deutschen auch dann nicht, wenn sie einen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisteten. Regie: Armee-Atmo einblenden - möglichst mit Befehl "Stillgestanden!" und marschierenden Soldaten Sprecher Das Scheitern der EVG änderte nichts an den Plänen zur Wiederbewaffnung. Nun rückte der Aufbau einer Bundeswehr im Rahmen des Nordatlantikpaktes, der NATO, auf die Tagesordnung. Die Nato verlangte, dass von der Bundesrepublik ein 500.000- Mann-Heer aufgestellt würde. Das war mit Berufssoldaten und Freiwilligen nicht zu schaffen. Groß war die Angst, es würde wieder ein Kommiss nach altbekanntem Muster entstehen. Schon 1952, als noch eine gemeinsame europäische Armee geplant wurde, versuchte Theodor Blank solche Sorgen zu zerstreuen. Blank leitete das so genannte "Amt Blank", das die Gründung der Bundeswehr vorbereitete. Er wurde später der erste Verteidigungsminister der Bundesrepublik. Take 06 Blank - Grundrechte (0:19) Grundsätzlich kommt es uns darauf an, dass der zukünftige europäische Soldat deutscher Nation als Mensch und als Staatsbürger respektiert und behandelt wird. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die in unserer Verfassung niedergelegten Grundrechte in der neuen Armee zur Geltung zu bringen. Sprecher Ein neues Leitbild wurde entworfen: der "Staatsbürgers in Uniform". Nach der NS- Katastrophe sollte die so genannte "Innere Führung" eine Entwicklung des Militärs weg von der Demokratie verhindern. Take 07 Blank Integration (0:30) Es kommt aber heute sowohl darauf an, dass der Soldat sich zur Demokratie bekennt, wie auch darauf, dass sich die Demokratie zu ihren Soldaten bekennt. Wie wir die europäische Integration anstreben, so müssen wir auch die Integration der Armee in den Staat und in das Volk anstreben. Sie darf und wird nicht mehr in der Isolierung leben, in der teilweise die Reichswehr vor 1933 sich befunden hat. Sprecher Mit dem grundgesetzlichen Verbot, jemanden gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe zu zwingen, hatte der künftige Verteidigungsminister allerdings erkennbar Schwierigkeiten. Zake 08 Blank - Gewissen (0:17) Es ist klar, dass das Gewissen nicht zur Tarnung einer Drückebergerei missbraucht werden darf, denn das wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber den anderen Wehrpflichtigen. Deshalb kommen nur echte Gewissensgründe in Frage, also nicht irgendwelche verschiedenen Ansichten und Meinungen. Sprecher Schärfer formulierte das der Bundestagsabgeordnete Will Rasner von der CDU. Rasner sah Ende 1954, rund zweieinhalb Jahre, bevor der erste Wehrpflichtige einberufen wurde, einen Missbrauch dieses Rechts voraus. Die Parole "ohne mich" erschien dem ehemaligen Oberleutnant der Wehrmacht auch in diesem Zusammenhang gefährlich: Take 09 Take 06- Rasner ohne mich (0:37) Und da hier gerade von der Jugend die Rede ist, ein paar Sätze zum Kapitel "ohne mich". Wir sollten sorgfältig unterscheiden zwischen Kriegsdienstverweigerern mit der Waffe aus Gewissensgründen, und denen, die "ohne mich" aus Selbstsucht oder aus politischen statt Gewissensgründen rufen, oder auch einfach gar nichts anderes tun, als mehr oder minder nachzuplappern, was eine gefährliche kommunistische Propaganda ihnen geschickt souffliert. Sprecher Bis in 70er Jahre begleitete Verweigerer die Unterstellung, wer den Dienst mit der Waffe ablehne, wäre ein egoistischer Drückeberger oder gar ein Staatsfeind. Viele Jahre versuchten amtliche Kommissionen in teilweise absurden Anhörungen das Gewissen junger Wehrpflichtiger zu erforschen. O-Ton UvD (Archiv D-Kultur, von einer Industrie-CD im Archiv, Nr. B 225 745): So, meine Herren, ich weiß natürlich Sie können es nicht, verlange es auch nicht, wenn ich Herrn Major melde, dann bitte ich alle Kameraden den Herrn Major anzusehen, ja? Die Einkleidung wird dann später stattfinden. Stillgestanden! Sehen Sie alle Herrn Major an! Die Kompanie steht mit sechs Unteroffizieren und 67 Mann! Danke schön! Sprecher Januar 1956. Die ersten Freiwilligen der Bundeswehr waren in die Kaserne eingerückt. Im Juli desselben Jahres debattierte der Bundestag in dritter Lesung die Wehrpflichtgesetze. Die Befürworter des Gesetzes verwiesen darauf, dass zur Abschreckung der expansionslüsternen Sowjetunion neben den Atomwaffen der Verbündeten auch starke konventionelle Streitkräfte vorhanden sein müssten. Nur so ließen sich Frieden und Freiheit schützen. Die Gegner hielten im Zeitalter der wechselseitigen atomaren Abschreckung eine Massenarmee schlicht für überflüssig. Die unterlegene Seite bei einem Konflikt in Mitteleuropa würde ohnehin zu Atomwaffen greifen. Deshalb sei der Eingriff der Wehrpflicht in die persönliche Freiheit und Lebensplanung von jungen Männern sinnlos. Der Sozialdemokrat Fritz Erler setzte sich in seiner Rede auch mit einem altbekannten Argument für die allgemeine Wehrpflicht auseinander. Take 10 Erler Demokratie (1:36) Da ist sehr häufig, auch von der Regierung sogar - bedauerlicherweise - gesagt worden, wir müssten allein deshalb schon die Wehrpflicht einführen, weil eine Freiwilligenarmee in viel größerer Gefahr stehe, zum Staat im Staate zu werden. Meine Damen und Herren, wenn ich mich entsinne, welche überragende Rolle die Armee im kaiserlichen Deutschland gespielt hat, und auch im Preußen der Jahre vor 1918, kann ich dabei doch nicht ganz vergessen, dass es sich in beiden Fällen um eine Armee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht gehandelt hat. Das Wesentliche bei diesen Armeen etwa im Unterschied zur Schweizer Milizverfassung, aber die wollen sie ja auch nicht, das Wesentliche an diesen Armeen war eben das Bestehen, das Bestehen eines großen Körpers von Berufsoffizieren und Berufssoldaten. Den haben sie doch in beiden Fällen: Bei der Armee, die Sie jetzt aufstellen wollen und bei der Freiwilligenarmee. Die Gefahr also des Entartens der Armee im Sinne von Vorstellungen, sie würde versuchen, den Staat zu beherrschen statt ihm zu dienen- ich will die Gefahr gar nicht verkleinern - aber die Gefahr ist in beiden Fällen die gleiche. Der Geist und die Haltung der Armee gegenüber der Demokratie wird nicht von den eingezogenen Rekruten, die nichts zu sagen haben, sondern von der Zusammensetzung des Führer- und Unterführercorps bestimmt. (Beifall) [blenden] Sprecher Die Regierungsmehrheit setzte die Wehrpflicht durch, im April 1957 wurden die ersten Wehrpflichtigen vereidigt: Take11? Vereidigung 0:48 Sprecher Auffällig und unerwartet war: Nur 0,41 Prozent der ersten Gemusterten stellten einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Auch in den folgenden Jahren bewegte sich die Zahl der Verweigerer auf derart niedrigem Niveau. Zu verpönt war die Verweigerung, viele fürchteten Nachteile von so einem Fleck im Lebenslauf, und zu verbreitet war vor allem in der Vätergeneration die Meinung, es habe noch keinem geschadet, in der Kaserne die Hammelbeine langgezogen zu kriegen. Nur da lerne man wirklich Disziplin und werde ein richtiger Mann. Take 12 Umfrage (Mann:) Nun ja, ich glaube, jeder demokratische Staat muss das Recht haben, seine Bürger heranzuziehen, wenn es gilt, diesen Staat zu verteidigen. (Sehr junge Frau:) Also ich muss ehrlich sagen, ich bin sehr dafür. So kommen wenigstens die Halbstarken von der Straße. Sprecher Mit der Einführung der Wehrpflicht in der Bundesreplik endete für einige Jahre die Parallelität in der Aufrüstung der beiden deutschen Staaten. Im Januar 1956 wurde die Kasernierte Volkspolizei zu Nationalen Volksarmee umfirmiert, doch sie blieb noch länger eine Freiwilligenarmee - auch wenn man an der Freiwilligkeit vieler Soldaten Zweifel haben konnte. Die Volkskammer der DDR beschloss erst 1962, nach dem Mauerbau, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Da konnten die Einberufenen nicht mehr in den Westen abhauen. Natürlich wurde auch in der DDR die Wehrpflicht eingeführt, um Frieden und Freiheit zu schützen, diesmal vor den kriegslüsternen Imperialisten und ihren Vasallen. Das Militär wurde als Erziehungsanstalt gewürdigt. August Bach, stellvertretender Präsident der Volkskammer, erklärte: Take 13- August Bach, Sozialistische Erziehung,0:36 Unsere Nationale Volksarmee ist eine große Schule der sozialistischen Erziehung. Hier wird das edle sozialistische Erziehungswerk, an dem alle gesellschaftlichen Einrichtungen und Organisationen unseres Staates, wie Schule, Freie Deutsche Jugend und andere erfolgreich mitwirken, fortgeführt und ergänzt. Einer solchen Armee die Söhne unseres Volkes zum Ehrendienst anzuvertrauen, erfüllt uns mit berechtigtem Stolz und großer Genugtuung. Sprecher Im Westen sank die Neigung zum "Ehrendienst". Der Vietnamkrieg und die Jugendproteste in der zweiten Hälfte der 60 Jahre veränderten das Verhältnis zum Militär. Neben politischen und moralischen Zweifeln am Sinn des Wehrdienstes stand immer mehr der Unwille, sich dem militärischen System von Befehl und Gehorsam und der Entmündigung des Kasernenlebens zu unterwerfen. Die Zeit beim "Bund" wurde zunehmend als vertane Lebenszeit empfunden. Die Zahl der Verweigerer stieg rapide, das Ableisten des Zivildienstes wurde zur gesellschaftlich anerkannten Alternative. Diese Entwicklung bereitet den meisten etablierten Politikern Unbehagen. Der damalige Bundespräsident Walter Scheel erklärte 1978: Take 14 Scheel Nagelprobe Die Frage, welchen Stellenwert die Freiheit für die Menschen in unserem Lande besitzt, beantwortet sich deutlicher und klarer, als es viele schöne Worte vermögen, durch die Haltung, die der Bürger gegenüber der allgemeinen Wehrpflicht einnimmt. Die Erziehung zur Freiheit, und nichts anderes sollte die Erziehung in einem demokratischen Land sein, erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit der allgemeinen Wehrpflicht, denn sie ist die wirkliche Nagelprobe darauf, wie wir es denn eigentlich mit der Freiheit halten. Wie eine demokratische Erziehung in unseren Bildungsstätten ohne eine intensive geistige Auseinandersetzung mit den sittlichen Grundfragen unserer Verteidigung erfolgen kann, ist mir ehrlich gesagt rätselhaft. Sprecher Die allgemeine Wehrpflicht war zum festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Politik geworden, zur Nagelprobe, wie man es mit Sittlichkeit, Freiheit und Demokratie halte. Nur unkonventionelle Außenseiter rührten an das Tabu. Dabei spielte keine Rolle, dass verbündete Demokratien eben diese Nagelprobe und die Wehrpflicht einfach abschaffen konnten - die Briten schon 1960, die USA 1973, als sie sich aus dem Vietnamkrieg befreit hatten. Nicht einmal die Auflösung des Warschauer Paktes und damit das Verschwinden der Bedrohung durch konventionelle Truppen konnte an diesem Tabu etwas ändern. Bei den neuen Aufgaben und veränderten Einsätzen der Bundeswehr nützten die Wehrpflichtigen jedoch nichts mehr, schon aus politischen Gründen konnte man sie nicht gegen ihren Willen zur Verteidigung der Freiheit am Hindukusch oder zum Schutz der Handelswege am Horn von Afrika einsetzen. Es wurde für die Bundeswehr zur zusätzlichen Belastung, ständig zehntausende junger Männer ausbilden und verpflegen zu müssen, um sie nach kurzer Zeit wieder ins Zivilleben zu entlassen. Aber weder die rot-grüne noch die schwarz-rote Koalition wagte, die Konsequenz zu ziehen. Erst die schwarz-gelbe Koalition und ihr junger konservativer Vereidigungsminister sah der veränderten Wirklichkeit ins Auge: Der alte Kaiser trug keine Kleider, die Wehrpflicht hatte keinen Sinn mehr, sie wurde zwar nicht gesetzlich abgeschafft, aber ausgesetzt. Im Januar 2011 leisteten die letzten Wehrpflichtigen ihr Gelöbnis. Nach einem nur sechsmonatigen Wehrdienst gehen sie nach Hause. Die allgemeine Wehrpflicht, das Kind einer Revolution und des Nationalismus, lange Zeit Hoffnung der Demokratie, dürfte damit in Deutschland endgültig Geschichte sein. 1