COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel - 2. Mai 2010 "Pauken unter Segeln" Jugendliche gehen auf Weltreise Autorin: Nadine Querfurth 1 Niklas Der Weg ist das Ziel. Ich finde es gibt nichts Schöneres als ein großes Segelschiff und man selber mithelfen muss, um weiter zu kommen. 2 Detlef Soitzek Segelsport hört sich immer so nach Elite an und nach feiner Kleidung, aber das ist auf der Thor Heyerdahl überhaupt nicht so. Das ist ein Arbeitsschiff. Es gibt da keine Winschen, keine Motoren und Maschinen, mit denen die Segel da bewegt werden. Das ist alles im Handbetrieb und das ist wirklich knochenharte Arbeit. 3 Jojo Wir haben uns drauf eingelassen. 4 Sebastian Die Privatsphäre beschränkt sich momentan auf 2 Kubikmeter, nämlich auf un- sere Koje, das ist alles. 5 Isabell Man wächst so zu einer Familie zusammen. 6 Niklas Mit einem Dreimaster um die halbe Welt zu segeln in dem Alter mit Schule und so, das kriegt man nicht noch mal. 7 Detlef Soiztek Ich sag's mal so, das hält natürlich auch jung und ist natürlich auch heute noch eine Herausforderung. Also mit einem Segelschiff mit jungen Menschen über den Atlantik zu gehen, ist auch heute mit aller Technik, die wir besitzen, immer noch auch anspruchsvoll. Sprecherin 1 Es ist Deltef Soitzeks 16. Reise mit Jugendlichen. Noch ist der Kapitän nicht an Bord, sondern sitzt in seinem Büro am Hafen und sieht die Thor Heyerdahl aus den Augenwinkeln ruhig im Wasser liegen, am Bollhörnkai in Kiel, ihrem Heimathafen. Noch hat sie Ruhezeit - die alte Dame. Ohne gehisste Segel sieht sie ein wenig kahl, fast nackt aus, ihre drei kräftigen Masten ragen 30 Meter in den grauen, norddeutschen Himmel. Wasser kommt an diesem Tag von oben und von unten. Kleine Wellen der Kieler Förde schwappen gegen den knapp 50 Meter langen Schiffsrumpf. ATMO Wellen am Kai Noch herrscht Chaos am Kai, seit einer Woche ist Werftzeit. 30 Schüler zwischen 14 und 16 Jahren in roten Arbeitsanzügen oder gelbem Ölzeug eilen geschäftig hin und her. Schweißarbeiten, Lackierarbeiten und Putzaktionen stehen noch an. Die einen sägen, hämmern und zimmern Regale für die Bibliothek, die anderen verstauen drei Tonnen Proviant in jeder Ritze und Nische auf der Thor - so nennen alle den Traditionssegler, wenn keine Zeit für lange Namen bleibt. Nur noch wenige Stunden sind es bis zum Auslaufen. Was den jungen Leuten bevorsteht ist vielleicht ihr größtes Abenteuer: Für sechs Monate tauschen sie die gewöhnliche Schulbank gegen ein Klassenzimmer unter Segeln. Alle gemeinsam machen das Schiff klar für die große Reise. Sie hatten Zeit sich gegenseitig kennen zu lernen, vor allem aber auch Zeit, sich mit der Thor vertraut zu machen. Für Benedikt durchaus wichtig. 8 Bendikt Ich habe das Schiff von jedem Detail kennen gelernt und ich weiß jetzt, wo jede Schraube steckt mehr oder weniger. Das ist schon wichtig, wenn ich da jetzt sechs Monate drauf lebe. Ich will mich schon auskennen in meinem Zuhause. Das Segelschiff wird für die 30 Jugendlichen und 18 Erwachsenen sechs Monate lang ihr Lebensmittelpunkt sein - ihr Zuhause. Sie segeln von Kiel, über Teneriffa in die Karibik, nach Panama und Kuba, bis zu den Bermudas und über die Azoren zurück nach Kiel. Während des halben Jahres stehen Landaufenthalte in Panama und Kuba an, die Schüler leben in Gastfamilien, machen Exkursionen und Expeditionen. An Bord findet Unterricht statt. "Klassenzimmer unter Segeln - Schule einmal anders" heißt das Projekt. Initiiert ist es von der Universität Erlangen-Nürnberg und gedacht als Äquivalent für ein Auslandsjahr. Doch bevor der Schul- und Segelalltag auf hoher See beginnt, richten sich die Schüler mit ihren sieben Sachen an Bord ein: Und das ist fast wörtlich zu verstehen, denn viel Platz und Pri- vatsphäre bleiben da nicht. ATMO im Schiffsinneren Am Deckshaus geht es runter ins Trockene. An den Türen sind relativ hohe Einstiege, damit bei heftigem Seegang das Wasser nicht rein läuft. Julius, 16 Jahre, nimmt die Stufen ins Unterdeck mit Leichtigkeit, schiebt sich an seinen Schülerkollegen vorbei, die gerade Kisten auspacken, und passiert die Messe, so heißt der Speise- und Aufenthaltsraum auf einem Schiff. Bei schlechtem Wetter dient sie gleichzeitig als Klassenzimmer. 9 Julius Jetzt gehen wir mal hier durch die Kammernetage. Hier in Kammer 6 wohne ich. Ich schlafe Gott sei Dank oben, denn unten kann man die Kojen aufklappen und unter den Kojen ist alles voll mit Lebensmitteln. Julius hat seine Sachen verstaut. Was braucht man schon außer seinem Ölzeug, ein paar warmen Klamotten, Badehose, T-Shirts für warme Temperaturen und wenigen persönlichen Din- gen, sagt er. 10 Julius Wir haben drei Fächer, 60 x 60 cm, wo wir unsere Sachen reinpacken können. Die großen Gepäckstücke und die Sachen, die wir in nächster Zeit nicht brauchen, können wir unter die Unterkojen reintun. Dann haben wir relativ wenig Platz hier. Die Betten sind eigentlich sehr gemütlich, nur etwas eng, nur 70 cm breit. Aber es ist sehr gemütlich, man schläft sehr gut, vor allem kein Tageslicht. Weiter geht's zum Sanitärbereich. 11 Julius Es ist etwas eng und wir haben für 50 Leute genau zwei Duschen. Es geht die Treppen wieder hoch, fast direkt in die Kombüse, die Küche. Je eine Schülergruppe hat pro Tag Backschaft und kümmert sich um die Verpflegung der 50 Personen an Bord. Der große Vorteil bei der Backschaft ist: Die Kombüse ist der einzige Raum, in dem laut Musik hören erlaubt ist. Auch wenn die Thor noch am Kai vor Anker liegt, 50 knurrende Mägen wollen trotzdem gefüllt werden. Schiffsarbeiten sind Kräfte zehrend. Deshalb sind Barbara und Lukas fleißig am Schnippeln für eine Gemüsesuppe. ATMO Kombüse 12 Lukas Wir haben irgendwie 100 Liter Suppe. Ja, und Kartoffeln haben wir, keine Ah- nung, 20 Kilo geschält und geschnitten. Nach dem Kochdienst verschnauft Lukas kurz in seiner Koje. Er kann es kaum erwarten endlich auf große Fahrt zu gehen. 13 Lukas Ich freu' mich richtig total auf das halbe Jahr. Jetzt dann zu segeln und immer mit den Leuten zusammen zu sein. Ich freu' mich auch abends dann im Atlantik, wenn man ganz alleine ist, kein einziges Schiff, abends der Sternenhimmel, wenn es warm ist draußen. Ja, da freue ich mich einfach drauf. Das Segeln, ich hab' schon als ganz kleines Kind so große Schiffe geliebt und das war für mich immer eine Wahnsinnsfaszination. Für viele wird diese Reise zu Beginn Verzicht bedeuten. An Bord herrscht Handyverbot, Musik ist tabu außer in der Küche, der eigene Laptop darf nur benutzt werden, um Tagebuch zu schrei- ben. Sechs Monate auf Hoher See werden kein Zuckerschlecken, dessen sind sich alle bewusst. Nur als Team können die Jugendlichen die Atlantiküberquerung meistern, denn Segeln ist ein Mannschaftssport, sagt Lukas. 14 Lukas Da muss man sich auf jeden Einzelnen verlassen können. Segeln ist halt, zumindest auf so großen Schiffen und so einer weiten Strecke, noch mal viel intensiver, weil man ja doch die ganze Zeit zusammen ist und wirklich die ganze Zeit mit jedem mehr oder wenig klarkommen muss, um zumindest die Sachen zu schaffen. Und ich denke, das ist total fördernd für das Gemeinschaftswesen. ATMO Fanfare Dann heißt es Abschied nehmen. Die Schüler, alle Lehrer und die Besatzung stehen an Deck, alle Eltern am Kai. Schülerin Johanna wendet sich der Menge zu: 15 Johanna: Wir möchten auf das Schiff anstoßen, das sechs Monate unser Zuhause sein wird. Wir hoffen, dass die Thor immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel hat und uns Heil über den Ozean bringt. Wir erheben unsere Gläser auf die Thor. ATMO Klatschen und Abschied Zum letzen Mal gehen alle an Land. Kinder und Eltern fallen sich noch einmal um den Hals. Das eine oder andere "Notfall-Proviant-Päckchen" oder Weihnachtsgeschenk wechselt noch schnell den Besitzer. 16 Ciao, mein Schatz. Wir denken an Dich, habe ne gute Zeit, ich habe dich lieb, viel Spaß. ATMO (Tschüss, Gute Reise) Kapitän Detlef Soitzek ist mittlerweile auch an Bord. Er ruft alle Mitsegler zurück aufs Schiff und gibt die ersten Kommandos. 17 Soitzek Sobald wir abgelegt haben werden wir die Gaffensegel setzen und unter Motor- unterstützung ausfahren. Dann heißt es Leinen los. Die Thor Heyerdahl ist OUTWARD BOUND - klar zum Aufbruch. ATMO Typhon MUSIK 2700 Seemeilen, knapp 5000 Kilometer, liegen nun vor ihnen: einmal über den großen Teich in die neue Welt und wieder zurück. Schiffsbetrieb ist 24 Stunden lang - nonstop. Die Thor ist immer in Bewegung. Jeder Handgriff, jedes Manöver muss schnell gelernt werden und dann sitzen. Die Stammbesatzung steht den Schülern dabei stets zur Seite. 18 Kapitän Soitzek: Klar zur Wende, die Stationen klar melden, Groß klar, Vorsegel klar. Segelstellung hoch am Wind, Schneller, schneller. Klar zur Wende. Alle Schoten los, Steuerbord, Hart Steuerbord, los. Um den Schiffsbetrieb rund um die Uhr am Laufen zu halten, sind die Schüler in vier Gruppen eingeteilt und müssen zu unterschiedlichen Zeiten Wache schieben - egal, ob sie Erfahrungen mit dem Schiffsbetrieb haben oder nicht. Jeder muss ran. 19 Julius Ich hab' eine ganz gute Wache erwischt von fünf bis acht Uhr. Das ist zwar immer während den Essenszeiten, während dem Frühstück und dem A- bendessen, aber es ist immerhin nicht die Wache von zwei bis fünf, die so genannte "Hundewache", weil man da mitten in der Nacht Wache schieben darf. Während der Wachen lernen die Schüler die Grundzüge der Nautik und routinemäßige Arbeiten an Bord: Navigation und Wetterkunde. Sie müssen in den Ausguck steigen, das Wetter oder andere Schiffe beobachten. Die Maschine schmieren gehört genauso dazu wie Kontrollgänge an Bord. Der Wachführer ist in seiner Schicht mit seinen Wachmitgliedern für das Schiff und die Sicherheit an Bord zuständig. Die Ablösung der Wachen läuft wie ein Ritual ab. 20 Wachablösung Dann wünscht die abziehende Wach der aufziehenden Wache eine gute Wacht und die aufziehende der abziehenden Wache eine gute Ruh. Julius löst Julian am Steuer ab. 21 Ich habe die Ehre Dich abzulösen. Das ist wunderbar. Also Kurs 2.0. Geht gut, macht keine Probleme, Schiffslage 10 Grad Steuerbord. Gut. Ich übernehme das Steuer. MUSIK Im Onlinetagebuch steht: Sprecher Mittagsposition: Dover Wetterlage: wechselhaft Eine gute halbe Stunde später war Wachwechsel vorbei und ich stand am Ruder. Das Segeltuch schlägt in regelmäßigen Zeitabständen, die Wellen krachen, die Gischt spritzt laut über das Deck. Nachts, im Dunkeln, wenn alle schlafen, das kalte Holz des Ruders in der Hand zu haben und zu wissen, das ich in diesem Moment die Kontrolle über das Schiff habe, ist ein unmöglich zu beschreibendes Gefühl. Ein bisschen Angst und eine gehörige Portion Stolz gehören auf jeden Fall dazu und irgendwie auch Bewunderung. Nie hätte ich mir träumen lassen, nach knapp zwei Wochen schon das Ruder in der Hand zu haben. ATMO Wellen, Sturm Sprecherin 1 Die See ist unberechenbar: Mal unschuldig wie ein Lamm mit spiegelglatter Oberfläche, dann wieder tobt sie und die Wellen sind so hoch, dass sie über das Achterdeck hinweg fegen. Meer und Wind spielen mit der Thor, als sei sie eine Nussschale, enorme Wellen heben sie empor und werfen sie wieder zurück in das Wellental. Viele Schüler an Bord kämpfen in den ersten Wochen mit der Seekrankheit. Tamara schreibt im Onlinetagebuch: MUSIK Sprecherin 2 Mittagsposition: Nordsee Wetterlage: stürmisch Der Tag heute war echt zum Kotzen - im wahrsten Sinne des Wortes. Die darauf folgenden 3 Stunden Nachtwache waren eine einzige Tortur. Seekrankheit ist schrecklich!!! Der Kopf ist wie in Watte gepackt, man kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, der Gleichgewichtssinn setzt aus, man wankt. Dann fängt der Magen an zu rebellieren. Das Schlimme unter Deck ist, dass das Gehirn die Schaukelei nicht begreifen kann. Im Kopf herrscht vollkommene Leere. Mein Frühstücksversuch, eine halbe Scheibe Zwieback, ist fünf Minuten später Fischfutter. Ich glaube, wenn man die Seekrankheit nicht selbst erlebt, ist es schwer, sich vorzustellen, was für Auswirkungen der Seegang auf den menschlichen Körper haben kann. Doch ich glaube, das gehört auch zu unserem Projekt dazu: an seine Grenzen zu stoßen. Meine Grenzen habe ich heute Nacht ganz deutlich gemerkt. Sprecherin 1 Dass die jungen Leute an ihre Grenzen stoßen, ist ein ganz wichtiges Ziel des Projekts "Klas- senzimmer unter Segeln" - kurz KUS. Bereits die zweite Reise dieser Art mit 14- bis 16- Jährigen leitet die Professorin Claudia Kugelmann von der Universität Erlangen-Nürnberg, an der sie den Lehrstuhl für Sportpädagogik und Didaktik innehat. Das Konzept von KUS geht auf Ideen des Pädagogen Kurt Hahn zurück, der, so Claudia Kugelmann, gefordert hat: 22 Claudia Kugelmann Die Jugendlichen durch Abenteuer und besondere Erlebnisse zu stärken und sie an ihre Grenzen zu führen und so eben in einer Weise zu erziehen, dass sie starke Persönlichkeiten werden und vor allem auch teamfähig werden. Die 30 beteiligten Schüler wurden in einem Bewerbungsverfahren, das auch einen kurzen Probetörn auf der Ostsee beinhaltete, ausgewählt. Wie auch für einen "normalen" Aufenthalt im Ausland zahlen die Eltern für dieses Privatvergnügen ihrer Kinder. Bei einigen Schülern stand die Teilnahme am Projekt aus finanziellen Gründen auf der Kippe. Für solche hat Claudia Kugelmann durch private Sponsoren Stipendien auftreiben können und sechs Schülern so ermöglicht, doch auf der Thor Heyerdahl mitzusegeln. 23 Claudia Kugelmann Wobei man aber sagen muss, auch die anderen sind mitnichten aus lauter reichen Elternhäusern, sondern es sind Familien mit mehreren Kindern, es sind die meisten aus Familien mit mittlerem Einkommen, die Sparbücher auflösen, die Kredite aufnehmen, um hier das zu ermöglichen. Also ein Großteil der Familien, die hier ihre Kinder bei uns mitfahren lassen, die sparen es sich wirklich vom Munde ab. Das Segelschiff ist ein ideales Medium für ein solches Projekt. Es ist eine kleine Welt für sich, ein Mikrokosmos mit klaren Regeln und Hierarchien. Ruth Merk leitet das KUS-Projekt in der Praxis und ist seit fast zehn Jahren mit Schülergruppen viele Monate am Stück auf See. Für unser Projekt ist das Segelschiff ein ideales Gefährt, sagt sie. 24 Ruth Merk Ein Segelschiff ist ja eine Gesellschaft im Kleinen. Diese Gesellschaft ist ein Spiegelbild der Gesellschaft an Land, aber eben alles im Kleinen und auf sehr engem Raum. Und durch diese Situation werden bestimmte Situationen ver- stärkt, wie wenn jemand nicht aufräumt z.B. und es ist ein Gemeinschaftsraum. Also die Möglichkeit, soziale und personale Kompetenzen auszubauen, ist da- durch einfach sehr groß zum Einen, aber zum Anderen bietet dieses Segelschiff ein sehr großes Naturerlebnis, das die Schüler in der Form bislang nie wahr- nehmen. Zwar ist der individuelle Bewegungsradius auf dem 50 Meter langen Schiff eingeschränkt, trotzdem sind die Schüler auch sportlich gefordert. Fähigkeiten wie Geschicklichkeit zum Beispiel werden trainiert, wenn sie die steilen, schmalen Treppen rauf- und runtersteigen und dabei noch Gläser, Geschirr oder schwere Lasten balancieren. Bei heftigem Seegang ist der Gleichgewichtssinn gefragt. Wenn die Schüler in die bis zu 30 Meter hohen Rahen klettern zum Bergen oder Setzen von Segeln, müssen einige Höhenangst überwinden. Auf der Schiffreise geht es auch darum, sich vom Elternhaus zu lösen. Louis schreibt im Onlinetagebuch: MUSIK Sprecher Luft: 19° C; Wasser: 20° C leichte Bewölkung, sonst wunderbarer Sonnen- schein Ich nutze die Zeit im Ausguck, von den Wogen der Wellen getragen, um meine Gedanken schweifen zu lassen. Eigentlich heißt das auch immer, dass Heimweh aufkommt, aber das ist nicht schlimm. Mir macht es nichts aus über Zuhause nachzudenken, ein wenig traurig zu sein und trotzdem die Zeit zu genießen, die ich hier bin. Im Ausguck habe ich wichtige Dinge erkannt. Ich denke, dass jeder von uns einen "Abkapslungsprozess" durchgeht und genau dieser fand bei mir im Ausguck nach der Kursänderung Richtung Süden statt. Ich merkte, dass ich einen Punkt überwunden hatte, bei dem ich begriffen hatte, dass jetzt ein Abenteuer vor mir liegt und ich erst in einem halben Jahre meine Liebsten wiedersehen würde. Sprecherin 1 Das dritte wichtige Standbein des Projekts "Klassenzimmer unter Segeln" - neben Projektarbeit an Bord und dem alltäglichen Schiffsbetrieb - ist der Unterricht. Da die Lehrer Teil der Crew sind und sechs Monate gemeinsam mit den jungen Leuten an Bord verbringen, entwickelt sich ein sehr vertrautes Verhältnis zwischen ihnen. Gefühle, Stärken und Schwächen haben Raum. Die Philosophie, mit der bei KUS Wissenswertes vermittelt wird, ist eine ganz andere, als an normalen öffentlichen Schulen, an denen besonders hoher Leistungsdruck herrscht. Claudia Kugelmann. 25 Claudia Kugelmann Die Schule hat ja eine Selektionsfunktion; über Noten wird ausgewählt, wer er- folgreich sein darf im Leben und das führt dann dazu, dass die Kinder oft als Stopfgänse der Nation behandelt werden. Es wird Wissen in sie reingestopft ohne Ende und das müssen sie dann irgendwie wieder ausspucken, ohne eine kritische Distanz herstellen zu können, ohne richtig reflektieren zu können und ohne auch eine eigene Meinung dazu entwickeln zu können. Unterricht auf der Thor Heyerdahl ist anders. Zwangsweise, wenn sich das Schiff derart neigt, dass alles vom Tisch rutscht oder die Wellen fast die Kreide von der Tafel wischen. Da fällt es ab und zu schwer bei der Sache zu bleiben, schreibt Verena im Onlinetagebuch. ATMO Wellen Sprecherin 2 Wetterlage: blauer Himmel mit einzelnen Wolken Wassertemperatur: 24°C Wir hatten Unterricht draußen an Deck und so spülte die ganze Zeit das Meerwasser um meine Füße. Unten an den Beinen kommt das komplette "Summerfeeling" rüber, der Unterricht macht wirklich Spaß. Besonders die Lehrer sind witzig, wenn sie mal wieder versuchen, gegen das laute Rauschen der Wellen anzuschreien, auch wenn ich viel mehr damit beschäftigt bin, meinem weg gespülten Flip-Flop nachzujagen, den mir ein Schwall von Wasser vom Fuß gerissen hat. Da ließ sich auch bei keinem der nasse Hintern vermeiden. Sprecherin 1 Plötzlich schreit jemand: Delfine, steuerbord. 20 Tiere springen aus dem Wasser empor und schwimmen dann eine ganze Weile auf gleichem Kurs wie die Thor. Da fällt es auch Biologielehrer Boris Wolter manchmal schwer, mit dem Unterricht fortzufahren. 26 Boris Wolter Der Schwerpunkt liegt deswegen meines Erachtens auch nicht wirklich auf dem Unterricht, sondern größtenteils halt in dem Lernen an der Situation, also dort halt wirklich das zu sehen, was man sonst nur als theoretische Information bekommt und einfach das Verkopfte da herauskriegen, sondern es wirklich mit Leib und Leben irgendwie alles erleben, was da passiert. Noch hautnaher und unmittelbarer kann Biologieunterricht nicht sein. Boris Wolter lernt seine Schüler so intensiv und persönlich kennen wie Lehrer selten Gelegenheit dazu haben. Nach sechs Stunden Unterricht ist nicht Schluss und jeder geht seiner Wege, sondern er erfährt auch, was seinen Schülern nach dem Lernen durch den Kopf geht. Schule und Freizeit vermischen sich hier, dennoch stellt niemand seine Autorität als Lehrer in Frage. 27 Boris Wolter Weil Autorität nichts mit einer Distanz zu tun hat, sondern mit einem Respekt, den man sich erarbeiten muss. Auf einem Segelschiff in derart anderer Unterrichtsatmosphäre kann es sogar vorkommen, dass Lehrer und Schüler die Rollen tauschen. 28 Boris Wolter Es ist einfach unglaublich spannend, dass die Schüler vielleicht irgendwann mal mehr Ahnung von dem haben, was auf dem Schiff passiert, als ich selbst und ich selbst in die lernende Rolle nochmal zurück komme; die Schüler plötzlich meine Lehrer sind, wenn es darum geht, irgendwie in die Masten hochzukrabbeln oder sonst was. Ein besonderes Wahlpflichtfach im Schiffsbetrieb ist die Astronavigation, das Schiff also nur anhand von Sonne, Mond, Sternen und Planeten zu navigieren. Um die Position des Schiffes zu bestimmen, schießt man Sterne und die Sonne ab - so heißt es im Seemannsjargon. Die so genannte Schiffsübergabe an die Schüler ist ein absoluter Höhepunkt auf der gesamten Reise. ATMO Schiff, Kommandos, Wellen Dreimal findet sie statt. Eine komplette Mannschaft aus Schülern stellt dann Kapitän, Steu- ermann, Bootsmann, Maschinist, Wachführer und Proviantmeister und segelt die Thor völlig selbständig. Während der zweiten Schiffsübergabe schaltet Kapitän Detlef Soitzek alle Geräte ab oder überklebt sie mit Klebeband. Die Schüler müssen das Schiff dann ausschließlich durch Astronomie navigieren. Detlef Soitzek zieht sich währenddessen zurück und harrt der Dinge. Nur im Notfall greift er ein, aber der ist so gut wie noch nie vorgekommen. Astronavigation hat er die Schülern höchstpersönlich gelehrt. 29 Soitzek Was heute die Berufsseefahrer gar nicht mehr so auf dem Zettel haben, muss ich mal sagen, weil durch die moderne Elektronik ist es eigentlich auch nicht mehr nötig; das ist eigentlich nur ein Anhängsel. Aber wenn mal wirklich alles ausfällt, gut, Elektronik kann eben auch ausfallen, wenn man dann eben auch noch einen Sextanten bedienen kann, dann ist man in der Großschifffahrt auf der sicheren Seite. Und unsere Schüler kommen zurück und könnten so ein Schiff dann auch astronomisch navigieren und das ist schon was Besonderes. Die zweite Schiffsübergabe steht kurz bevor. Die Schüler haben Bewerbungen für bestimmte Positionen geschrieben und ihre Kenntnisse noch einmal aufgefrischt. Julian schreibt im On- linetagebuch: MUSIK Sprecher Luft: 17° , Wasser: 21° Dass wir heute ein bisschen Freizeit hatten, kam mir ziemlich recht, weil ich für die bevorstehende Schiffsübergabe noch meine Astro-Navi Kenntnisse aufpolieren wollte. Also schoss ich mit Lukas eine Sonne. Das heißt wir haben mit Hilfe eines Sextanten den Winkel zwischen uns und der Sonne gemessen und unsere Position berechnete. Gleich danach gingen wir aufs Achterdeck und guckten uns nach Sternen um. Das blöde war bloß, dass der ganze Himmel mit Wolken verhangen war. Jetzt wurde uns langsam klar, wie schwierig es werden kann, astronomisch zu navigieren, wenn man länger keine Sonne und keine Sterne sieht. Sprecherin 1 Die Schüler segelten die Thor während der zweiten Schiffsübergabe vier Tage lang erfolgreich und eigenständig nur durch astronomische Navigation durch das mysteriöse Bermudadreieck. Der 16 jährige Niklas war bei dieser Etappe Bootsmann. Da er an Bord einen sehr guten Überblick hat und weiß, wie die einzelnen Dinge funktionieren und zu reparieren sind, war er DER Mann für diese Position. Segeln konnte er schon bevor er an Bord der Thor Heyerdahl gegangen ist. Sein Berufswunsch ist Kapitän. Seitdem er nun seit einigen Monaten auf hoher See ist, kommen ihm langsam Zweifel, erzählt er bei einem Satelliten-Telefongespräch aus 3000 Seemeilen Entfernung. 30 Niklas Ich würde es auch immer noch gerne machen, kann mich auch hier mit vielen unterhalten, die Nautik studieren. Ich weiß nur momentan nicht mehr, ob ich wirklich auf große Containerschiffe will. Auf dem Traditionssegler ist es sehr natürlich. Auf den Containerschiffen ist es ja alles nur Technik, man macht ja kaum noch was selber. Du stehst auf der Brücke und die ganzen Geräte arbeiten für Dich. Ich weiß nicht, ob es wirklich das ist, was ich will. Wenn Niklas an Landshut in Bayern denkt, wo er mit seiner Familie wohnt, kommt ihm das Leben dort extrem bequem vor. Als er während der Landaufenthalte in Kuba und Panama bei Gastfamilien wohnt, wird ihm klar, wie gut es ihm eigentlich geht. 31 Niklas Man muss sich das immer wieder bewusst machen und auch mal dran denken, auf was man verzichten kann. Es gibt eine Menge Dinge zu Hause, die ich eigentlich nicht brauche, die ich aber trotzdem habe. Dass ich ständig am Musik hören bin, dass ich immer meinen Ipod habe, dass ich meistens tun kann, was ich will. Auch alleine schon der Luxus, das klingt jetzt vielleicht blöd, aber alleine schon die Tatsache, dass ich zur Schule gehen darf, was mir eigentlich für Möglichkeiten gegeben werden. Da wird man mit der Zeit ziemlich dankbar, weil man erst erkennt, was einem gegeben ist. Niklas haben die Landaufenthalte in Kuba und Panama gefallen, doch ist er froh, wieder auf See und auf der Thor zu sein. Er sei eben durch und durch ein Seemensch. So viele Erfahrungen wie in diesen sechs Monaten hat er bisher in seinem ganz Leben nicht gemacht. Davon wird er lange zehren, sagt er. 32 Niklas Es ist eine einzigartige Sache, so was kriegt man nicht noch mal im Leben, es ist eine wunderschöne Erfahrung, egal, ob es reiberein an Bord gibt oder Konflikte. Das Segelnde Klassenzimmer befindet sich mittlerweile schon wieder auf Kurs Richtung Heimat. Wenn Niklas nach Hause zurückgekehrt ist, hat er sich vorgenommen, Dinge abzu- schaffen, die er nicht mehr braucht, mit denen er eigentlich nur die Zeit totschlägt. Er möchte sich nützliche Dinge anschaffen wie Seekarten und Bücher über Navigation, um mehr Zeit auf See zu verbringen. Nach wie vor will er Nautik studieren. Sein größter Wunsch auf den letzten Seemeilen der KUS-Reise ist, während der dritten Schiffsübergabe die Thor durch den Ärmelkanal zu segeln - als Kapitän. Nur noch wenige hundert Seemeilen liegen vor der Thor Heyerdahl bis in ihren Heimathafen Kiel - mit Niklas als Steuermann. In einem der letzten Einträge im Onlinetagebuch der Schüler steht: MUSIK Sprecher Position: kurz vor Europa Wetter: freundlich Was ich sah, das schien für uns genau das Richtige zu sein: es war gerade so- weit Europa, gerade soweit Heimat, dass wir zwar erinnert wurden an unsere baldige Heimkehr, an das Ende dieses halben Jahres, aber gerade nur soweit, dass es uns nicht hart und schmerzlich traf, sondern sanft und leicht, nicht Heimweh, sondern Vorfreude weckend; Keiner weiß, ob er sich freuen oder wei- nen soll, doch es drehen sich immer mehr Gespräche um zu Hause. Doch wo ist eigentlich zu Hause? Deutschland? Die Thor? Das Meer? Die Welt? TEXTENDE Verwendete Musik: * Soundtrack zum Film "Babel", Concord Music Group, CD2 Track 10, LC15025 * "Maritime" von Tri Yann, Track 5 (L'éopée de Monsieur Cassrad) und 6 (Nantillaise in- strumental), Label Epic 15 1