Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 7. Dezember 2011 "Ihr kriegt uns hier nicht raus!" Ton Steine Scherben, Rio Reiser und die Hausbesetzergeschichte Von Ralf Bei der Kellen, Mitarbeit: Kai Steffen O-Ton Ausschnitt "Jour Fix 2": "Also: 8 Uhr Treffpunkt für Autobesitzer und Oftersheimer im Keller... um halb 9: Treffpunkt für Schwetzinger.. am bestehenden Jugendheim - und die marschieren dann dahinten rum, dann kommen sie genau aufs SV-Haus. Und um 9 Uhr erfolgt die Besetzung - also Verbarrikadieren des Feldweg(s)." Autor: 4. Juni 1971: An diesem Nachmittag strahlt das ARD-Fernsehen die Jugendsendung "Jour Fix" des Süddeutschen Rundfunks aus. Zuschauer im ganzen Bundesgebiet werden Zeuge einer Hausbesetzung, die vierzehn Tage zuvor in der Baden-Württembergischen Kleinstadt Schwetzingen stattgefunden hatte. O-Ton Ausschnitt "Jour Fix 2": "Die Presseerklärung von der AJ: Heute Morgen 9 Uhr wurde das alte SV-Clubhaus in der Zähringer Straße von 40 Mitgliedern des Aktionskreis Jugendzentrum besetzt und zum freien und selbstverwalteten Jugendzentrum erklärt." O-Ton Werner Schretzmeier: "Diese Hausbesetzung, die wir damals live mitgefilmt haben, ist etwa 60 Minuten lang. Und da war das interessante, dass erst nachdem das ausgestrahlt war, ist dann im Rundfunkrat ein Sturm losgegangen, dass man sozusagen eine komplett rechtswidrige Geschichte in der ARD ausstrahlt. (lacht)" Autor: Werner Schretzmeier war 1971 Redakteur von "Jour Fix". Zusammen mit seinem Team gab er Jugendlichen landauf landab Anleitungen, wie man sich ein Jugendzentrum erkämpft. Unerwartete Schützhilfe bekam die Redaktion vom damals frischgebackenen Minister für Soziales, Gesundheit und Sport des Landes Rheinland-Pfalz. O-Ton Werner Schretzmeier: "Und der Heiner Geißler hat ganz entspannt uns erwartet in seinem Büro. Wir haben unsere Kameras aufgebaut. Und dann hat er ein Büchchen [sic] aus der Schublade seines Schreibtisches gezogen und das war das Jugendwohlfahrtsgesetz, das sozusagen national galt. Und da stand ganz eindeutig drin: (...)." Heiner Geißler: Ausschnitt "Jour Fix 2": "Aufgrund des Jugendwohlfahrtsgesetzes sind die Jugendämter, das heißt, die Landkreise und die Städte, gesetzlich verpflichtet, diese Einrichtungen der Jugendhilfe zu schaffen. Das ist kein Gnadenerweis, sondern eine gesetzliche Verpflichtung." O-Ton Musik (aus "Jour Fix" 2): Ton Steine Scherben: Solidarität (instrumental) (bleibt unter dem folgenden Text liegen) Autor: In derselben Sendung war neben Heiner Geißler auch eine Rockgruppe zu sehen: In einer spärlich ausgeleuchteten Fabriketage in Berlin-Kreuzberg standen vier Anfang Zwanzigjährige Musiker. Ihr Name: Ton Steine Scherben. Musik: Ton Steine Scherben: Solidarität (instrumental) (1'17'20 - 1'17'37) Text: "Was wir wollen, können wir erreichen / Wenn wir wollen, stehen alle Räder still / Wir haben keine Angst zu kämpfen / denn die Freiheit ist unser Ziel." O-Ton Schretzmeier: (über die Musik) "Und Ton Steine Scherben war dann plötzlich unser Medium." Musik: Ton Steine Scherben: Solidarität (1'17'44 - 1'17'50) Text: "Alles, was uns fehlt / ist die Solidarität" Autor: In der Folge wurde die Gruppe um den Songschreiber und Sänger Ralph Möbius, der sich später Rio Reiser nannte, zum Sprachrohr der Hausbesetzerbewegung. Über diese Geschichte, über die prominenteste Hausbesetzung Westberlins und der Bundesrepublik, ist viel geschrieben worden, aber es gibt darüber keine allgemeingültige Geschichtsschreibung, wohl bis in alle Ewigkeit nicht. Stattdessen: Geschichten. Dies ist eine davon. Musik: Ton Steine Scherben: Solidarität (1'17'44 - 1'17'50) Text: "Alles, was uns fehlt / ist die Solidarität" (harter Schnitt) Autor: Sechs Wochen nach Schwetzingen fand auch in Westberlin die Besetzung eines Jugendzentrums statt. Allerdings war die Ausgangsposition eine ganz andere. Atmo: Sirene - Bombenexplosion O-Ton Klaus Freudigmann "Als ich nach Berlin gekommen bin, '62, hatte ich den Eindruck, das ist kurz nach 1945. Also es gab h ier noch einzelne Ruinen, es gab vom Kottbusser Tor aus gesehen, Dresdner Straße, Oranienplatz runter, gab's ein riesiges, unbebautes Feld, also flächenmäßig gab's da Bombardements... und es war sehr ärmlich... als ich hier angekommen bin und Kreuzberg gesehen habe, dachte ich: Also hier halte ich das nicht lange aus." Autor: Klaus Freudigmann kam aus Ulm nach Westberlin. Wie viele andere war auch er auf der Flucht vor der Bundeswehr, zu der man ihn trotz Totalverweigerung einziehen wollte. Der gelernte Elektromechaniker wohnt noch heute in einer Kreuzberger Fabriketage - ganz in der Nähe des Stadtteil-Museums. Leiter Martin Düspohl skizziert die Situation Kreuzbergs in den 60er Jahren: O-Ton Martin Duespohl: "Wer zum Mittelstand gehörte, wer das nötige Kleingeld hatte, der hatte zu diesem Zeitpunkt eigentlich Kreuzberg bereits verlassen, in entsprechende Neubauten, in die besseren Viertel. Nach dem Mauerbau war eigentlich klar: dieses Viertel gerät ins Abseits, es ist nicht mehr Stadtmitte, es ist Stadtrand, nichts gegen Stadtrand, aber in diesen maroden Altbauten, die nicht mehr gepflegt wurden, da sahen viele keine Zukunft mehr, insofern haben diejenigen, die es konnten, dieses Viertel verlassen." Autor: Viele Kreuzberger zogen in die Gropiusstadt, eine moderne Satellitensiedlung, die später die triste Betonkulisse zum Film "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" abgab. Musik: David Bowie "Neukölln" Autor: In Westberlin gab es damals eine gesetzliche Mietpreisbindung, den sogenannten "Schwarzen Kreis". Altbauwohnraum musste billig sein, was es wiederum vielen Hausbesitzern schwer machte, in ihre Immobilien zu investieren. Die Häuser verfielen. Wer blieb, waren die Alten und die Großfamilien, die zu immobil oder zu arm waren, um das Viertel zu verlassen. Wer kam, waren die sogenannten "Gastarbeiter", die als Zwischenmieter gerne gesehen wurden. Und die Studenten, die in den Universitätsvierteln wie Charlottenburg keine Wohnungen mehr fanden. O-Ton Ringo: "Da haben die Leute sich auf die Lauer gelegt, wenn die Zeitung rauskam, hat einer die Zeitung geholt, ein anderer hatte schon eine Telefonzelle besetzt, und dann ging's im Laufschritt zur Telefonzelle und dann wurden die Sachen durchgecheckt. Und da gab's also für jede Wohnung, die angeboten worden ist, gab's 30 bis 50 Bewerber." Autor: Gerhard Gottsleben alias "Ringo" kam 1966 als Student nach Berlin. 1969 zog er nach Kreuzberg zu Klaus Freudigmann in die Admiralstraße. Im selben Jahr zogen auch die drei Brüder Peter, Gert und Ralph Möbius von Charlottenburg und Schöneberg in die Kreuzberger Oranienstraße. Genau wie Klaus Freudigmann und Ringo mieteten sie eine der vielen Fabriketagen, die durch die Abwanderung der Industrie leer standen. Die Brüder machten hier ein Improvisations- und Mitmachtheater, das sich vor allem an junge Lehrlinge wandte. Berlin war in diesen Jahren nicht nur Frontstadt des Kalten Krieges, sondern auch Labor für neue Lebensentwürfe. Und diese gediehen in Kreuzberg, im Schatten der Mauer, am besten. O-Ton Wolfgang Seidel: "Es gab zu dieser Zeit ein ungeheures Bedürfnis, miteinander zu reden." Autor: - erinnert sich Wolfgang Seidel, Ur-Kreuzberger und erster Schlagzeuger von Ton Steine Scherben. O-Ton Wolfgang Seidel: "Also, das ist die erstaunlichste Sache an dieser Zeit, dass jeder mit jedem redete. Manche Sachen wirken von heute aus befremdlich, also, wenn man hört, dass 'ne Theateraufführung unmöglich war (lacht) fast, wo nicht irgendwann einer im Publikum aufstand und sagte: ,Da müssen wir jetzt drüber diskutieren', äh, aber das gibt ganz gut die Stimmung in dieser Zeit wieder, nach Jahrzehnten des Schweigens war ein ungeheures Bedürfnis da, miteinander zu reden." Autor: Das Problem: fast alle Angebote für Jugendliche in Kreuzberg waren damals kommerzieller Natur. O-Ton Wolfgang Seidel: "Man wollte nicht in der Disko hängen, zugedröhnt werden und dafür auch noch bezahlen." Autor: Zwar gab es in Kreuzberg ein Jugendfreizeitheim, aber das machte in der Woche um 19 Uhr zu, hatte am Wochenende überhaupt nicht auf und unterstand zudem einer rigiden Leitung, wie die Jugendlichen fanden. Was also tun? Atmo: 1'14 - 1'20 Rote Steine (aus "Jour Fix 3) nur kurz, schlechte Klangqualität "Ich bin Lehrling und kein Akkordarbeiter. (...) Der Chef wird bestimmt ankommen, wir sollen Überstunden machen." Autor: In Kreuzberg probte zu Beginn des Jahres 1970 auch die Theatergruppe "Rote Steine". Die Kreuzberger Lehrlinge hatten sich vom Mitmach-Theater der Möbius-Brüder abgespalten. Sie spielten Szenen aus ihrem Alltag - über Ausbeutung am Arbeitsplatz und beengte Wohnverhältnisse. Zwischen ihren Improvisationen spielte eine Musikgruppe, die damals noch keinen Namen hatte. Die Botschaft: Wir wollen anders leben. Musik: Ton Steine Scherben Jour Fix 2: "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" Text: "Aber ich will nicht werden, was mein Alter ist, nee! (...)" Autor: Kurz darauf gründete sich in Kreuzberg eine Schülerarbeitsgruppe, in der politisch bewegte Studenten Schüler bei ihren Hausaufgaben halfen. Sie bezogne ein altes Fabrikgebäude in der Mariannenstraße. O-Ton Klaus Freudigmann: "Erst war eine Etage direkt angemietet und der Hausbesitzer, der war so der Meinung, das ist so'n linker Treff, also links-beeinflusst. Und wir wollten mehr Räume anmieten und der hat sich geweigert - die standen leer - die zu vermieten. Und erst dann gab's die Besetzung." Autor: Die "Roten Steine" und andere Gruppen verbreiteten den Plan im Kiez. Am 3. Juni gaben Ton Stein Scherben ein Konzert in der Mensa der Technischen Universität. Die damalige Kinderkrankenschwester und heutige Mediengestalterin Irina Hoppe erinnert sich: O-Ton Irina Hoppe: "Na, das war'n Konzert in der Mensa der TU. Und da gab es 'nen Aufruf am Ende des Konzertes oder so: Die Jugendlichen, die da sind, haben überhaupt kein Jugendzentrum, nichts, überhaupt keinen Treffpunkt, und dass man Räume bräuchte und da steht ein leeres Haus... und ob wir da mit- und dann sind alle da hingefahren." Autor: Für die gebürtige Berlinerin war es das erste Mal, dass sie nach Kreuzberg fuhr. Heute wohnt sie dort. O-Ton Irina Hoppe: "Und dann war da kein Licht, da war ja kein Strom, nichts, aber das ist ja total romantisch und... war schön. Und dann kam die Polizei. Und das war das erste Mal, für die Polizei glaube ich, dass es so 'ne Besetzung- die wussten überhaupt nicht, was sie machen sollten! Und haben dann erst mal alle mitgenommen, weil ja gar kein Licht da war. Da rauchten alle weiter in den Zellen, das waren so zehn Leute in einer Zelle. Und die Polizei war eigentlich - das war nicht ihre Hausmarke, da jetzt Jugendliche aus irgendwelchen Häusern, die man nicht mehr brauchte, rauszuholen. Das fanden sie, glaube ich, absurd." Autor: Wie die Polizei auf die Besetzer aufmerksam wurde, ist - wie vieles aus dieser Zeit - nicht eindeutig überliefert. Die einen vermuten, dass einer der politisch motivierten Besetzer die Polizei anrief, um die Besetzung quasi aktenkundig zu machen; andere glauben, dass ein CDU-Abgeordneter auf seinem Heimweg Licht in dem Gebäude gesehen hatte. Wie dem auch gewesen sein mag: die Besetzung hatte Erfolg. O-Ton Irina Hoppe: "Und dann war aber jeder morgens wieder raus, weil... die haben dann einfach nur die Personalien kontrolliert. Und dann wusste man ja nicht, wohin jetzt und dann ist man da wieder hingegangen. Und dann war's das Jugendzentrum." Autor: Wie unbedarft die Polizei dem Phänomen Hausbesetzung damals noch gegenüberstand, zeigt sich auch in dem Nachspiel, von dem Klaus Freudigmann berichtet: O-Ton Klaus Freudigmann: "Das stellte sich raus, dass die Hausbesitzer oder der Hausbesitzer, dass die gar keine Anzeige gestellt hatten, und - die Räumung war widerrechtlich. Und einige Zeit später, ich kann das nicht mehr genau datieren, kam jemand von der Polizeiführung und musste sich entschuldigen." Autor: Man begann, das stark beschädigte Haus zu renovieren. Die Polizei steuerte als "Wiedergutmachung" ein paar Kartons eingetrockneter Farben und Notfall-Hämmerchen aus Bussen als "Werkzeugspende" bei. Nun hatte man einen Ort zum Treffen, zum Diskutieren, zum Arbeiten. Aber: O-Ton Ringo: "Das hat sich gezeigt, dass ein eigentlich größeres Problem von den meisten Jugendlichen, die ins Jugendzentrum kamen, weniger die Freizeitgestaltung war - dass ganz viele halt was zum Wohnen haben wollten. Und man kann sagen: Wo sie auch repressionsfrei wohnen konnten." Autor: Immer mehr Jugendliche blieben auch über Nacht im Jugendzentrum, was dazu führte, dass die "normale" Arbeit bald stark eingeschränkt war. Von der Mariannenstraße, in der das Jugendzentrum lag, sahen die Jugendzentrumsbesucher direkt auf das 1847 erbaute Bethanien-Krankenhaus, das seit 1970 leer stand, nahe an der Mauer, sozusagen: am Ende der Welt. O-Ton Klaus Freudigmann: "Die Räume waren leer, und das Haus wurde beheizt, im Winter durchgeheizt. Wir waren unter den geschilderten schlechten Bedingungen im Jugendzentrum, wo's auch kalt war - wir haben zwar auch viel renoviert, aber gerade im Winter war's da nicht angenehm. Und da stand dieser Riesenkomplex und man wusste, es ist voll geheizt ... dit hat natürlich Begehrlichkeiten geweckt..." (Stimme leicht oben) O-Ton Gert Möbius: "Und dann haben wir auch den Heizer da getroffen, der das Ganze beheizen musste, weil das war ja im Winter... und der hat gesagt, er macht die Heizung dann an, wenn wir kommen (lacht) das war'n alter KPD-Mann... ." Autor: Gert Möbius war der Mittlere der drei Möbius-Brüder. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt wieder den Aktivitäten der Roten Steine und der Band seines kleinen Bruders zugewandt. Letztere waren wieder mal im Fokus, als die Redaktion von "Jour Fix" nun auch in Berlin auftauchte, um dort die Arbeit im Jugendzentrum zu filmen. Der Ruf von Ton Steine Scherben als Band, die den Soundtrack zu Hausbesetzungen machte, festigte sich. Musik: Ton Steine Scherben: "Allein machen sie Dich ein" (live im Jugendzentrum) Autor: Die Gruppe, die zuvor schon die Besetzung des Jugendzentrums geplant hatte, machte sich nun an die nächste Besetzung. Das ganze Bethanien-Krankenhaus war zu groß, aber das Martha-Maria-Haus, ein ehemaliges Schwesternwohnheim, schien ideal: Kleine Zimmer zum Wohnen, große Räume für Versammlungen, Essen und andere gemeinsame Aktivitäten. Als Stichtag für die Besetzung wurde kurzfristig der 8. Dezember 1971 gewählt - aus zwei sehr pragmatischen Gründen, wie Ringo erläutert: O-Ton Ringo: "Das eine war, dass wir von Leuten vom Bezirksamt gehört haben, dass der Erwin Beck von der linken SPD, der Jugendstadtrat in Kreuzberg war, dass der in Urlaub gehen würde in der nächsten Woche. Also, man hat erwartet, dass mit Erwin Beck unsere Möglichkeiten, das Haus zu halten, höher sind. Und dass, wenn der nicht da ist, wir das besser gar nicht besetzen. Und das andere war, dass am 8. Dezember das Konzert von Ton Steine Scherben im Audimax der TU stattfinden sollte." Autor: Mitten in die Vorbereitungen platzten die Ereignisse des 4. Dezember. An diesem Tag wurde in Berlin-Schöneberg der Stadtguerillero Georg von Rauch erschossen, ein Student aus dem Umfeld des sogenannten "Blues", dem anarchistischen Westberliner Untergrund. Die politische Stimmung war aufgeheizt. Dreieinhalb Jahre waren seit dem Mordversuch an Rudi Dutschke vergangen. Der große Traum der Studentenbewegung von der Weltrevolution hatte sich aufgelöst in viele linke Träume, Utopien, Strategien: kommunistische, leninistische, maoistische, anarchistische, reformistische, autonome. An der Spitze revolutionärer Entschlossenheit: die im Mai 1970 gebildete Rote Armee Fraktion und die Stadtguerilleros, aus denen an der Jahreswende 1971/72 die militante Bewegung 2. Juni hervorging. Nach dem Tod Georg von Rauchs gab es für die Besetzer keine Zeit mehr, ein Plenum einzuberufen, die Anwesenden entschieden sich im Jugendzentrum spontan dafür, das Haus nach Georg von Rauch zu benennen. Am Abend des 8. Dezember 1971 wurde nach dem Ton Steine Scherben-Konzert der Aufruf zur Besetzung verlesen. Ein Teil der Kreuzberger Jugendlichen war bereits am Bethanien, um die Besetzung vorzubereiten. Als die Unterstützer vom Konzert kamen, ging ein Teil der Gruppe in das Haus und verbarrikadierte sich, in der Nacht tauchte dann wie erhofft Jugendstadtrat Erwin Beck auf. O-Ton Klaus Freudigmann: "Ich fand's immer sehr mutig, Erwin Beck war nicht mehr der Jüngste zu der Zeit, dass er darauf eingegangen ist, auch für ihn eine unbestimmte Situation: Wer ist da drin? Was sind das für Leute? Sind die aggressiv? Also, wir haben ihn zum Fenster reingehievt und dann im späteren Kinoraum also waren fast alle Leute, es war brechend voll... und da ist mit Erwin Beck dann verhandelt worden, praktisch, er ist aus seiner Sicht in die Höhle des Löwen gegangen." O-Ton Martin Düspohl: "Beck stand auch persönlich in einem großen Konflikt, sie müssen überlegen, Beck stammt aus dem Jugendwiderstand gegen die Nazis - der hat ganz andere Sachen erlebt als jetzt die Rauch-Haus-Besetzung." Autor: Die Verhandlungen dieser Nacht und auch die darauffolgenden verliefen erfolgreich. Erwin Beck verwendete sich für das Experiment, das er in einem Fernsehinterview 1972 folgendermaßen beschrieb: O-Ton Erwin Beck: (Jour Fix 7) "Für uns war eines eine neue Sache und das hat also auch unsere Senatsverwaltung als sehr günstig angesehen und von einer Arbeit neuer Qualität gesprochen: nämlich, weil hier Lehrlinge und junge Sozialarbeiter sich um diese am Rande der Gesellschaft lebende Schicht von Trebegängern kümmern wollen." Autor: Trebegänger waren ausgerissene Heimzöglinge oder aus dem Elternhaus abgehauene Kinder und Jugendliche. Unter ihnen verbreitete sich die Nachricht von der Besetzung wie ein Lauffeuer. So kam es, dass die Lehrlinge im Rauch-Haus plötzlich auch Sozialarbeit leisteten. Da sie vom Senat, der anfangs noch Gelder zur Verfügung stellte, finanziell unabhängig sein wollten, gingen sie arbeiten und hielten die Trebegänger zum Schulbesuch an. Alle mussten in eine Gemeinschaftskasse einzahlen. Wer sich nicht um Arbeit kümmerte oder nicht zur Schule ging, für den konnte es auf dem nächsten Plenum unangenehm werden. O-Ton Plenum WDR-Film (Dialog) Autor: Auch Ton Steine Scherben blieben nicht untätig. Rio Reiser schrieb den Rauch-Haus-Song. 1993 sprach er dem Ghostwriter seiner Autobiographie Folgendes ins Mikrofon: O-Ton Rio Reiser: "Rauch-Haus-Song war auch'n Auftragssong eigentlich, aber nicht, würde man nicht sagen, da müsste man eigentlich fragen: Wer hat denn da den Auftrag gegeben vom Rauch Haus? Sondern, das stand so da und hatte irgendwas damit zu tun, dass es ein großes Rauch-Haus- Teach-In geben sollte, mit der Bedrohung, dass also wieder da geräumt werden sollte... also, da war der für das Teach-In geschrieben. Also, wir wollten auch, wurde so angedacht, man müsste auch mal so´ne Hymne machen fürs Rauch-Haus. Also und auch das dadurch stärken - " Autor: Hier endet die Aufnahme. Mit der Hymne sorgte Rio Reiser dafür, dass das Rauch-Haus bundesweit zu einem festen Begriff unter Jugendlichen wurde. Musik: Rauch Haus Song (1'38 - 1'56) "Doch die Leute im Rauch-Haus / die riefen: 'Ihr kriegt uns hier nicht raus / Das ist unser Haus! / Schmeißt doch erst mal Schmidt und Press uns Mosch aus Kreuzberg raus!'" O-Ton Düspohl: "Schmidt und Press und Mosch - das sind stadtbekannte Spekulanten gewesen in der damaligen Zeit... ich weiß nicht, wie man sich die vorstellen soll, aber das waren nicht unbedingt Leute, die jetzt Geld hatten oder reich waren und... die taten nur so. Die hatten ein paar Ideen, und die wussten vor allen Dingen, wie man mit den für West-Berlin geschaffenen Subventionsmöglichkeiten im öffentlichen Wohnungsbau umgehen konnte." (0'25) O-Ton Wolfgang Seidel: "Die Folgen kann man sich ja heute noch ansehen - jeder, der am Kottbusser Tor aus der U- Bahn aussteigt, sieht ja dieses damals "Neues Kreuzberger Zentrum" getaufte Betonmonstrum. Da war der Herr Schmidt, dem wurde dann später von bezahlten Revolvermännern in der Tiefgarage aufgelauert. Aber das war nicht die RAF, sondern das waren seine Geschäftsfreunde, mit denen er sich bei der Verteilung der Beute irgendwie überworfen hatte... (lacht)." Autor: -vermutet Wolfgang Seidel. Unter dem Generalverdacht, Verbindungen zur RAF zu haben, stehen zu dieser Zeit alle irgendwie als "linksorientiert" eingestuften Projekte. Im April 1972 findet im Rauch-Haus eine Razzia statt, an der laut Selbstauskunft 600 Polizisten teilnehmen. Das Ergebnis war spärlich, reichte aber für die Verhaftung des Trebegängers John Banse, der 14 Tage später wieder freigelassen wurde. Und es reichte auch für eine Schlagzeile in der Bild-Zeitung. Zitator: Großrazzia. Kripo entdeckte Bombenwerkstatt. Gruppenschlafzimmer, Protestlieder, stinkende Küche und eine Katze. Musik: Rauch-Haus-Song: 1'22 - 1'37 Text: "Und vier Monate später stand in Springers heißem Blatt / das Georg-von-Rauch-Haus hat eine Bombenwerkstatt. Und die deutlichen Beweise sind zehn leere Flaschen Wein / und zehn leere Flaschen können schnell / zehn Mollis sein." O-Ton Rio Reiser: "Also Bomben oder so was wurden darin nicht gebaut, das war nicht, das wollte auch keiner. Also das wär' nicht gegangen." Autor Sagte Rio Reiser später. Und Ringo: O-Ton Ringo: "Wenn da irgendjemand rein wollte, auch wenn jemand von der RAF unerkannt da reinkommen wollte, dann hätte er sich nur einen greifen brauchen... also, das war halt nicht geschlossen, nicht gesichert und nix. Aber dass es irgendwas organisiert gegeben hätte, das kann ich ausschließen. Also das hätten wir mitgekriegt." O-Ton Rio Reiser: "Ich glaub, die RAF hätte da keine großen Stiche gemacht, dazu hätten sie zu hochgestochen gesprochen, aber Bommi zum Beispiel, der hatte ne Berliner Schnauze und der hat nicht lang was von Lenin und Marx erzählt. Und wenn, dann hat er dabei höchstens noch irgendwie gegrinst, ja? Und hat eben auch einen Joint geraucht. Gut, und sie wussten, dass da gekifft wird." Autor: Ausgerechnet die Aufnahme des Liedes, das das Rauch-Haus zum "role model" aller Besetzungsvorhaben werden ließ, führte zu einem ersten Bruch zwischen Ton Steine Scherben und den Bewohnern des ehemaligen Schwesternheims. Der Grund: Auf Anregung von Ringo forderten die Besetzer eine Veränderung im Text. Klaus Freudigmann erinnert sich: O-Ton Klaus Freudigmann: "Die Formulierung war, dass der Mensch Meier den Bullen "auf die Fingerlein" haut. Und du hattest vertreten: "die Köppe einhaut", entsinne ich mich, weil (lacht) damit musste ich mich ja ständig auseinandersetzen. Und bis heute im Text, ich hab' da öfters geguckt, steht da "Fingerlein". Also, das war Ralph zu drastisch, sozusagen, dass Mensch Meier, wenn das Rauch-Haus geräumt wird, den Bullen die Köppe einhaut."] O-Ton Rio Reiser: "..und da wurde dann von ner Fraktion, allen voran Ringo, witzigerweise, der auch in der Admiralstraße gewohnt hat, mittlerweile ins Rauch-Haus übergesiedelt war, der dann sagte: Also, das heißt nicht "Fingerlein", sondern "Köppe ein", ja? Worauf natürlich alle lautstark einstimmten, weil das natürlich viel martialischer klingt... da war ich natürlich überstimmt und dann wurde eben "dann schlagen wir den Bullen ihre Köppe ein" gesungen." Autor: Womit Ralph Möbius alias Rio Reiser auch 1993 noch hörbar unzufrieden war - weshalb er bei Auftritten der Gruppe, wo das Lied immer wieder gewünscht wurde - stets seine Version sang. Musik: Rauch-Haus-Song (live München 1982) (2:21 - 2'42) Text: "Sach' mir eins: haben die da oben Stroh oder Scheiße in ihrem Kopp? / Die wohnen in den schärfsten Villen, unsereins im letzten Loch./ Wenn die das Rauch-Haus wirklich räumen, bin ich aber mit dabei / und hau den ersten Bullen, die da auftauchen / was auf ihre Fingerlein. Und ich schrei es laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus...." Crossfade zu Jan Plewka: Rauch-Haus-Song: "Das ist unser Haus / schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!" Autor: Schmidt und Press und Mosch sind heute längst vergessen - der Rauch-Haus-Song ist dagegen fast zu einer Art modernem Volkslied geworden. Mittlerweile gibt es unzählige Versionen - von HipHop über Punk bis Jazz. Musik: Nadine Germann - Rauch-Haus-Song (nur Kontrabass und Gesang) (2'39 - 2'55) Text: "Und die Leute im Rauch-Haus sagten: / Ihr kriegt uns hier nicht raus / Das ist unser Haus." Autor Auch Jan Plewka, Sänger der Gruppe Selig, singt das Lied auf seinen Rio Reiser-Abenden. O-Ton Jan Plewka: "Die Bühne ist dunkel... und vorher war Live-Musik, also als Rockband dann performt. Und dann geht das Licht aus und ein kleines Theaterfeuer wird nach vorne getragen und dann setzen wir uns da drum als Band und interpretieren dieses Lied - wie wir's damals kennengelernt haben - am Lagerfeuer." O-Ton Werner Schretzmeier: "...und ich hatte neulich erst den Jan Plewka im Theaterhaus mit seinem Rio Reiser-Abend... und das Interessante ist bei so einem Abend: man hat nicht nur ein Klassentreffen, sondern es sind überdurchschnittlich viele junge Leute da." Autor: Werner Schretzmeier, ehemals Redakteur der Jungendsendung "Jour Fix" und heute Leiter des Theaterhauses in Stuttgart. Der Rauch-Haus-Song ist heute ein Protest-Klassiker, der zu vielen Gelegenheiten gesungen oder gespielt wird. Man könnte auch sagen: Das Lied ist zu einem Stimmungsmacher für ein diffus empfundenes Protest-Gefühl geworden, es ist entkontextualisiert worden. So sang Jan Plewka das Lied beispielsweise im März 2011 auf einer Anti-AKW-Kundgebung. Die Hausbesetzer der ersten Stunde, Klaus Freudigmann und Gerhard "Ringo" Gottsleben, verließen beide Mitte der 70er Jahre das Rauch-Haus -beide hatten eine Frau kennengelernt, mit der sie zusammenziehen wollten. Ringo hatte während seiner Zeit im Rauch Haus eine Lehre als Werkzeugmacher absolviert. Gegen Ende der 70er Jahre ging er nach Nicaragua. Das Land war nach dem Sturz des Diktators Somoza und der sandinistischen Revolution zu einem Hoffnungsträger für die linke Bewegung geworden. 30 Jahre später lebt Ringo heute wieder in Kreuzberg. Klaus Freudigmann demonstriert seit sieben Jahren jeden Montag gegen die Auswirkungen der Agenda 2010. Beide sehen in Stadtteilen wie Kreuzberg die Gefahr der Verdrängung der einkommensschwachen Bewohner durch Gentrifizierung. Und beide sehen in den heutigen Protesten gegen Hartz IV und die Macht der Banken eine notwendige Fortsetzung dessen, was sie 1971 begonnen haben. Auf jeden Fall empfinden sie ihre Zeit im Rauch-Haus nicht als verlorene Zeit, auch wenn sie die Ziele, die sie damals im Kopf hatten, nicht erreicht haben: O-Ton Ringo: "Gesellschaftlich können wir sagen, ja, also, das war nicht ganz umsonst, aber das, was wir letztlich erreichen wollten, haben wir bei Weitem nicht erreicht, im Gegenteil, die Widersprüche, die Lebensfeindlichkeit dieser Gesellschaft, die hat sich also noch sehr verschärft, ja?!" O-Ton Klaus Freudigmann: "Ja, ich sehe eine Entwicklung, dass es schon vielen Leuten, die da drin gelebt haben, eine neue Perspektive eröffnet hat. Und ich sag' von mir selbst: Es war mit die wichtigste Zeit in meinem Leben. Nämlich zu begreifen, man kann sein Leben selbst organisieren, man kann das auch demokratisch untereinander organisieren, trotz aller Widersprüche, da gab's natürlich auch oft Schwierigkeiten, es gab harte Auseinandersetzungen, aber dass die lösbar sind. Und das ist so eine kleine Spur von... klarzumachen, es ist eine andere Gesellschaft möglich." O-Ton Ringo: "Also, in der Essenz: Allein machen sie dich ein!" Musik: Ton Steine Scherben: "Allein machen sie Dich ein" (je nach Wortende in Produktion auf Schluss stehen lassen bis Ende) 2