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Adamowsky (DR 345 / ca. 13:40) Computer bieten einen Möglichkeitsraum, einen Raum für Optionen, Potenziale, neue Perspektiven, wie das in dieser Form wenig andere Medien tun. O-Ton 4 - A. Pschera (DR 423 / 4:58) Die sozialen Medien sind an sich ja ein leeres System. Sie sind einfach ein leeres Blatt Papier. Und wir schreiben uns in dieses Medium ein. Das ist ein kollektiver Text der entsteht. O-Ton 5 - Christoph Engemann (DR 450 / 7:05) Wir selber schreiben unsere Welt, in der wir uns miteinander in Beziehung setzen können. O-Ton 6 - Wolfgang Hagen (ca. 34:58) Das ist die Vermischung von Tagebuch und Zeitung, das ist die Vermischung von privatem Schmalfilm mit großer öffentlich-rechtlicher Filmkomödie. Diese Durchmischungen sind utopische Objekte. O-Ton 7 - Natascha Adamowsky (DR 433 / 11:16) Das Versprechen ist, dass man Teil einer Gruppe ist, einer Clique, einer Community, das Versprechen ist, dass das Netzwerk es einem ermöglicht, alle Menschen, mit denen man befreundet sein könnte, auch zu finden: die Utopie der perfekten Partnervermittlung auf Freundesebene. SPRECHER: Titel-Ansage Freundschaft im Zeitalter ihrer technischen Optimierbarkeit Gesellschaftliche Utopien der sozialen Medien Von Frank Kaspar AUTOR "800 Millionen", so viele Mitglieder zählte die Internet-Plattform "Facebook" nach eigenen Angaben zum Jahresbeginn 2012. "800 Millionen" heißt auch ein Buch des Publizisten Alexander Pschera, der aus einem ungewohnten Blickwinkel über soziale Netzwerke wie "Facebook" und "Google Plus" schreibt. SPRECHER Pschera verliert kein Wort über Datenmissbrauch oder Mobbing im Netz. Er widmet sich weder den Machtkämpfen großer Online-Unternehmen noch peinlichen Fotos, Filmen oder anderen Fehltritten ihrer Nutzer und der Frage, wie sie wieder aus der Welt zu schaffen wären. Selbst auf die Bedeutung des mobilen Internets für politische Protestbewegungen kommt er nur ganz am Rande zu sprechen. AUTOR "800 Millionen" ist keine Bestandsaufnahme dessen, was im Internet oder mit ihm geschieht. Pscheras Essay eröffnet eine Diskussion über Utopien der sozialen Medien. Es geht um das Netz als "Möglichkeitsraum", um die Frage, wie es uns verändert, welche neuen Vorstellungen und Formen von Freundschaft, Gemeinschaft, Liebe oder Politik es hervorbringt. Und es geht um kulturelle Wurzeln dieser Zukunftsentwürfe. O-Ton 8 - A. Pschera (DR 423 / 0:41) Das Phänomen "digitaler Raum" wird, glaube ich, eher so als Appendix unserer Wirklichkeit wahrgenommen und nicht in seiner wirklichkeitsverändernden Dimension. Und deswegen, denke ich, ist es wichtig, verschiedene Diskursebenen zu testen. Und das heißt: "Facebook" in Zusammenhang zu bringen mit Kultur, mit Literatur, mit Religion mit Fragen der Erkenntnistheorie, mit Fragen der bildenden Kunst. Die sozialen Medien sind ein Phänomen, das sich in einen kulturellen Raum einschreibt, und sie sind kein Anhängsel dieses kulturellen Raumes. Also, wir haben es hier nicht mit einer "anderen Wirklichkeit" zu tun, sondern die sozialen Medien verändern unsere Wahrnehmung. AUTOR Pscheras Buch beginnt mit einem Wahrnehmungsschock. SPRECHER Sein erster Zeuge für die Vorgeschichte der Internet-Utopien ist ausgerechnet ein Mann, der sich von der Zivilisation bewusst abgewandt hat. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts zog der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau in eine selbst gebaute Blockhütte, um in seinem Buch "Walden" ein alternatives Leben jenseits der großen Städte zu entwerfen. ZITATORIN Am 3. September 1853 entdeckt Henry David Thoreau, mitten im Entstehen von Walden, die Linie. Walden ist kein Buch der Linie, kein Text des geraden Wegs. [...] Thoreaus Tagebuch, das die Entstehung von Walden begleitet, berichtet von einem wilden Gehen, das sich konzentrisch, aber nicht vorhersehbar um die Hütte im Wald bewegt. [...] Wo direkte Linien den Raum trennen, da tritt Thoreau den Rückzug an. [...] Doch am 3. September 1853 stößt er auf eine Linie, die ganz anders ist. Es ist eine Linie, die nicht teilt, sondern singt. Das Singende verbindet. SPRECHER Thoreau steht unter der ersten Telegrafenleitung, die seinen Heimatort Concord in Massachusetts erreicht. Er legt sein Ohr an den Mast und vernimmt den Klang einer neuen Zeit. Im Summen des Drahtes hört er eine zehnte Muse singen, notiert Thoreau in seinem Tagebuch: die "Muse der Kommunikation". AUTOR Wenn wir, wie Thoreau, bereit sind, in der Technik dem Mythischen zu begegnen, dann ist mit dieser Beobachtung schon alles Hörbare über die sozialen Medien gesagt, schreibt Alexander Pschera. SPRECHER Es ist die Einstimmung auf einen Essay, der selbst durchweg einen mythischen Ton anschlägt. Pschera spekuliert über die Zukunft unserer vernetzten Existenz in einer Sprache, die aus der Jugend früherer Medien herüber zu klingen scheint. Und mit dem singenden Draht, sagt der Berliner Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen, ruft er völlig zu Recht einen Urahnen der sozialen Netzwerke auf. O-Ton 9 - Wolfgang Hagen (ca. 2:50) Das erste neue Medium, das ähnlich tickte wie das neue Medium, mit dem wir es gerade zu tun haben - "Facebook", "Twitter" -, ist die Telegrafie. Was wir seit 1820, das ist ungefähr der Zeitraum, in dem in Europa und Amerika dann sehr schnell bekannt wird, dass es die Telegrafie gibt, feststellen, ist: Es sind immer extrem junge Männer, die auf dieses neue Medium fliegen, Es ist sofort überbesetzt mit Erwartungen, überdeterminiert, mit Utopien bekleidet aber auch mit großer Furcht. Beispielsweise: Die neuere Geschichte des so genannten Modern Spiritism, also die moderne Ausgabe der Geistergläubigkeit, die nämlich einen Geisterverkehr imaginiert, beginnt 1849 an einem Ort, wo sich die ersten neuen Telegrafen-Linien kreuzen, und sie wird propagiert von ganz jungen Leuten, die in ihren Zwanzigern sind. Das Radio, das Ende des 19. Jahrhunderts technisch als Radiotelegrafie möglich wird, wird von den allerjüngsten Leuten betrieben: Marconi, der große Gründer der Radiotelegrafie in England, der ist noch nicht mal zwanzig oder einundzwanzig, als er von einem hochmögenden und erfahrenen Admiral, der alle Seekabel Englands unter sich hat, geholt wird, weil er ist mit seinem nerdigen, phantasmatischen, auratischen Charakter der, den er gerade braucht, für eine völlig neue Dimension von Übertragung. AUTOR Die Liste der früh für die elektrischen Medien entflammten jungen Männer ließe sich problemlos ins Computerzeitalter fortschreiben. Auch die Gründer von "Microsoft", "Apple", "Google" und "Facebook" entsprechen dem Typus des frühreifen Tüftlers und Visionärs. SPRECHER Diesen jugendlichen Gründern stand, spätestens seit den ersten Radiojahren, eine Community begeisterter Bastler gegenüber. Wie die Hacker und freien Programmierer von heute wollten die Radio-Amateure der ersten Stunde ihr Medium mitgestalten. Sie bauten ihre eigenen Empfangsgeräte, gaben Zeitschriften heraus, und während der Rundfunk in Europa von Anfang an staatlich reguliert wurde und wenigen Sendestationen vorbehalten blieb, waren die Radiofans in Amerika frei, selbst "on Air" zu gehen. O-Ton 10 - Wolfgang Hagen (9:09) Und daraus ist diese anarchistisch-seltsame, sehr kommerzielle aber auch gleichzeitig phantasievoll-bunte erste Radiowelt in Amerika entstanden, mit sechstausend verschiedenen Serials und seriellen Formaten, die erst in der zweiten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt nach Europa kamen, inklusive der DJs und der damit verbundenen Pop-Musik. AUTOR Träumen ließ das junge Radio die Zeitgenossen auch in Europa - von völlig neuen Dimensionen der Verbundenheit, über Erdteile und Ozeane hinweg, von einer neuen Öffentlichkeit, in der es plötzlich vorstellbar war, dass jeder allen alles sagte, von unheimlichen, körperlosen Stimmen, von Gespenstern und geheimnisvollen Kräften im Äther. O-Ton 11 - Natascha Adamowsky (DR 435 / ca. 4:35//5:03) Es gibt ja dann viele Leute, die sich krank melden, schon im 19. Jahrhundert, die "magnetisch vergiftet" wurden, "hypnotisiert" wurden, "telepathiert" wurden, und auf die Strahlen und Ströme und Wellen eindringen. SPRECHER Die Angst, dass technische Medien mit bösen Mächten im Bunde seien, hat sich bis heute nicht völlig verflüchtigt, sagt Natascha Adamowsky, Computerspielexpertin und Professorin für Medienkulturwissenschaft in Freiburg. In der Furcht vor Handy-Funkströmen und anderen elektromagnetischen Strahlen kehrt sie regelmäßig wieder. AUTOR Was die Zeitzeugen der ersten Radiojahre tief beeindruckt und beunruhigt hat, waren die allgegenwärtigen Stimmen, die sich in ihren Köpfen festsetzten. O-Ton 12 - H. Kasack: "Eine Stimme von Tausend" Hörspiel, 1932 (Aufnahme DRA) Collage (Frauenstimmen): Du darfst nicht! Du sollst! Du musst! Das darfst du nicht tun! Du sollst vernünftig sein! So darfst du nicht denken! ... Alexander: Hörst du? Hörst du, wie sie mir zureden? Sie füllen meinen Mund mit ihren Worten. Sie drehen mir die Worte im Mund herum // Hörst du? Hörst du, wie sie mich umfälschen? // Ich höre: nicht mich! Es redet: nicht ich! SPRECHER Tagsüber hat ihn das Büro im Griff, und in der Nacht kommen die Stimmen. Der Angestellte Alexander findet keine Ruhe in Hermann Kasacks Hörspiel "Eine Stimme von Tausend" aus dem Jahr 1932. AUTOR Der Feuilletonist Siegfried Kracauer fühlte sich aus demselben Grund verfolgt und beklagte schon 1924 in einem Zeitungsartikel, dass der vom Radio beschallte Großstädter nicht mehr Herr im eigenen Kopf sei. ZITATORIN Das Radio zerstäubt die Wesen, noch ehe sie einen Funken gefangen haben. Da viele senden zu müssen glauben, befindet man sich in einem Zustand dauernder Empfängnis, trächtig stets mit London, dem Eiffel-Turm und Berlin. Wer wollte dem Werben der zierlichen Kopfhörer widerstehen? Sie glänzen in den Salons, sie ranken sich selbsttätig um die Häupter - und statt eine gebildete Unterhaltung zu pflegen, [...] wird man zum Tummelfeld von Weltgeräuschen. O-Ton 13 - Natascha Adamowsky (DR 434 / ca. 5:10// DR 435 ca. 1:30) Dieser Begriff der "Zerstreuung", der damals schon ins Spiel gebracht wurde, der gefällt mir sehr gut. Der erinnert mich an diese Welt der sozialen Netzwerke, die ja auch unglaublich viele Anforderungen an den einzelnen stellt, weil man dann da mit seinem i-Phone sitzt und SMS schreibt, sich aber gleichzeitig unterhält, E-Mails checkt, auf einen Anruf wartet, weil man gerade noch nicht geklärt hat, was man als nächstes tut, also, man ist in den unterschiedlichsten Räumen unterwegs oder auf verschiedene Parallelwelten zerstreut, verstreut. AUTOR "Zerstreuung" war auch ein Schlüsselwort für Walter Benjamin, der damit ein regelrechtes Trainingsprogramm für das Leben in der Moderne verband. SPRECHER In seinem Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" schrieb Benjamin: ZITATORIN Gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, beweist erst, dass sie zu lösen, einem zur Gewohnheit geworden ist. AUTOR Benjamins Kunstwerkaufsatz enthält zwischen den Zeilen die Idee einer Ko-Evolution von Menschen und Medien. SPRECHER Im brausenden Verkehr der Großstadt und in den politischen Unruhen der dreißiger Jahre haben die Zeitgenossen Grund genug, zerstreut und geistesgegenwärtig zugleich zu sein. Die Schock-Effekte des Kinos und die Attacken des Radios trainieren sie darin. Allerdings um den Preis, dass man im Kopf nicht mehr zur Ruhe kommt. SOUND - Funken & MUSIK - Console (s.o.) ZITATORIN Das soziale Netz gibt es nicht. Es kommt nicht zur Anschauung. Es scheint nur greifbar in den Knoten, die es bildet - gerade so, als würde das Material zweier Linien, die sich überschneiden, nur in der Überschneidung aufleuchten. Das Netz ist Teil von uns geworden. Es ist in unseren Köpfen. Das Netz ist kein Code, der als Film vor unseren Augen abläuft, sondern der Lebenscode, der uns umgibt und den wir durch den Vollzug unseres Lebens ständig verändern. O-Ton 14 - A. Pschera (DR 423 / 6:14) Es ist unübersichtlich, es wuselt, es hat viele Kanäle, die wir nicht sehen. Es ist eine Maschine, die ähnlich funktioniert wie ein natürlicher Zusammenhang, der in der Evolution steht. Der verändert sich durch Gebrauch, er optimiert sich permanent. Aber wichtig ist: Es ist nichts Unmenschliches, sondern es ist etwas, das wir begreifen müssen als ein Instrument. AUTOR Wenn man Alexander Pschera folgt und sich dem Netz mit mythisch eingestimmten Ohren nähert, dann erscheint es nicht als Gegenüber, sondern, im Gleichklang mit den Utopien des frühen Radios, als ein Phänomen, das uns umgibt und durchdringt, wie eine Stimme, die von Außen kommt und aus unserem Inneren zu sprechen scheint. SPRECHER "Wir stehen längst nicht mehr dem Internet gegenüber [...]; wir sind das Internet und wir sind durch das Internet", schreibt der Publizist Florian Felix Weyh. In seinem Roman "Toggle" spekuliert auch er darüber, wie soziale Netzwerke unsere Gesellschaft verändern könnten. Aber anders als Alexander Pschera geht er dabei auf konkrete politische Spielregeln ein und stellt sie in Frage. AUTOR Im Motto seines Buches zitiert Weyh den amerikanischen Staatsrechtler Lawrence Lessig, der 1999 in einem wegweisenden Aufsatz zur Internet-Gesetzgebung der USA die Formel prägte: "The Code ist the Law". O-Ton 15 - Florian Felix Weyh (DR 449 / ca. 11:00) Schon der Code an sich ist Gesetz. Es ist ganz einfach so: Wenn das Universum, in dem ich mich hauptsächlich bewege, mir bestimmte Wege erlaubt und bestimmte Wege ausschließt, einfach aufgrund des Codes, so wie es programmiert ist, dann ist das wesentlich mächtiger als ein Gesetz, das irgendwo im Reichstag ein Parlament verabschiedet und sagt: Ihr müsst euch so und so verhalten. SPRECHER "Toggle" ist ein Pseudonym für "Google", "Facebook" heißt in Weyhs Roman "Myface". Ein Thriller-artiger Plot setzt den Rahmen für das Gedankenspiel, was wohl passieren würde, wenn der Staat seine Bürger aufgrund digitaler Daten genauso "bewerten" würde, wie Banken, Versicherungen oder Mobilfunkanbieter es längst tun, wenn sie die Kredit- oder Vertragswürdigkeit eine Kunden überprüfen. O-Ton 16 - Florian Felix Weyh (DR 449 / 5:05//ca. 5:45) Ich hab mich einfach gefragt: Wie sieht ein demokratisches System aus, in dem jeder mitmachen kann und jeder eine Stimme hat, aber es ist ein System, das die Ungleichheit der Menschen würdigt und nicht die Gleichheit - die ja eine Fiktion ist. Daraus entsteht dann ein mathematisches System, eine Formel, ein Algorithmus, der ermittelt immer dann, wenn eine Entscheidung ansteht, den Wert eines jeden Menschen. ZITATORIN Toggle Democracy ist ein elektronisches Abstimmungstool, das von Toggle Inc. kostenlos im Internet bereitgestellt wird. Toggle Democracy wandelt das starre ganzzahlige Stimmrecht in ein liquides, den jeweiligen Umständen angepasstes Persönlichkeitswertstimmrecht um, Toggle Democracy beruht auf der freiwilligen Preisgabe persönlicher Daten und ist daher fundamental demokratisch. [...] Mathematisch schlagen sich fehlende Informationen in einem Stimmenwertabschlag nieder. O-Ton 17 - Christoph Engemann (DR 451 / 4:30//7:25) Was ich daran so treffend finde, ist, dass sich für Verwaltungsprozesse, so wie Staatlichkeit sie macht, natürlich eine ganz andere Auflösung ergeben würde, wenn man diese ganzen Daten erhebt. Man muss über Gerechtigkeit reden. Mit der Datengrundlage ändert sich die Gerechtigkeitsvorstellung, und wir wissen noch nicht genau, wie. SPRECHER Christoph Engemann forscht als Medienwissenschaftler an der Bauhaus Universität Weimar über Internet und Staatlichkeit. Soziale Medien haben zu einer ganzen Reihe von Utopien Anlass gegeben, sagt er. Und je nach den Interessen von Internet-Anbietern, -Nutzern oder gesellschaftlichen Akteuren, können diese Entwürfe sehr unterschiedlich ausfallen. O-Ton 18 - Christoph Engemann (DR 450 / ca. 3:40//5:13) Gemeinsam ist diesen Utopien die Idee, dass es ein neues Verhältnis von Schrift und dem Schreiben von Gemeinschaft gibt. Alte Gesellschafts-Formationen zeichnen sich dadurch aus, dass Menschen geschrieben werden und dass die Welt sozusagen vorgeschrieben ist. Was mit dem Internet aufkommt, ist die Vorstellung, dass man sich und die Bedingungen, unter denen man in der Welt ist, selber schreiben kann. SPRECHER In Florian Felix Weyhs provokanter Zukunfts-Version wird der Code der Politik umgeschrieben. Der Grundsatz, dass im demokratischen Prozess jede Stimme gleichviel zählt, ist gefallen. Lobbyisten und Verschwörer kämpfen darum, dass die Stimmen zu ihren Gunsten gewichtet werden. AUTOR Alexanders Pscheras optimistischer Ausblick auf eine bessere Gesellschaft erinnert dagegen an die Utopien der Tüftler und Bastler aus der Anfangszeit des Internets. SPRECHER Für Pschera ist das Internet ein Instrument, um Nähe zu erzeugen. O-Ton 19 - Alexander Pschera (DR 423 / ca.13:25// ca. 17:00//17:20) Andere Menschen wieder wahrzunehmen, zu sehen, dass man ein kollektives Wesen ist, aber nicht im Sinne einer überblickslosen Massengesellschaft, sondern einer Struktur von vielen kleinen Zellen, ich gebrauche im Buch den Begriff der Waben, dass Waben, die miteinander kommunizieren, dass wir wieder in kleinen Strukturen leben. SPRECHER Nicht das eine "globale Dorf" ist das Versprechen, das für Pschera in den Netzen steckt, sondern das Potenzial, sich spontan zu kleinen, Dorf-artigen Gemeinschaften zusammenzuschließen. Und das geschieht auch, sagt Christoph Engemann. Zum Beispiel in der wachsenden Community von Leuten, die sich "Makers": "Macher" nennen. O-Ton 20 - Christoph Engemann (DR 450 / 21:00) Was da passiert, in diesen "Makers"-Bewegungen, das sind so Bastler ja letztlich auch, ist eine Hinwendung zur materiellen Kultur. Also, es geht wieder vielmehr darum, reale Dinge zu bauen, statt Protokolle zu schreiben oder irgendwelche Software, bis hin zu kompletten Vorstellungen von autarken oder semi-autarken Gemeinschaften und ihren Infrastrukturen. Es wird sehr viel gebastelt. Es wird sehr viel an realen Geräten, Instrumenten gebaut, und es gibt so die Vorstellung: Wir bauen uns unsere Welt. SPRECHER Sie programmieren Autos um, damit sie weniger Strom verbrauchen, rüsten Fahrräder mit Motoren nach oder errichten ganze Zivilisationen auf Zeit, wie einmal im Jahr auf dem "Burning Man Festival" in der kalifornischen Salzwüste. O-Ton 21 - Christoph Engemann (DR 450 / ca. 26:25) Man findet sich zusammen, wo nichts ist, nämlich einfach nur Salzwüste, komplett menschenfeindliche Bedingungen, und schafft eine komplette Gemeinschaft, inklusive aller Infrastruktur für den Zeitraum des Festivals, und - das ist das besondere daran - verschwindet danach spurlos wieder. AUTOR Ein Flashmob von Welt-Bastlern. O-Ton 22 - Christoph Engemann (DR 450 / 27:23) Genau! Ein Flashmob von Weltbastlern und die Frage ist halt: Verstetigt sich das an irgendeinem Punkt? SPRECHER "Die Masse der sozialen Medien ist kein Mob, sondern ein flashmob", schreibt Alexander Pschera. ZITATORIN Die Masse der sozialen Medien kann sich grundlos und spontan konkretisieren, sie nimmt den öffentlichen Raum ankündigungslos in Besitz und gibt ihn ebenso schnell wieder frei. Die unsichtbare Masse des Netzes ist paradox, weil sie eine Masse aus Einzelgängern ist, die gerade das nicht sein will: Masse. Autor Mit diesem Medium der Einzelnen in großer Zahl ist etwas grundsätzlich Neues entstanden, sagt der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen. Die Radio-Utopien eines Walter Benjamin oder Bertold Brecht waren noch Utopien der Massenmedien. O-Ton 23 - Wolfgang Hagen (27:05) Da das Radio ja ein Massenmedium ist, das Radio verbindet ja imaginärerweise zum ersten Mal die Menschen in dieser Masse, entsteht bei Brecht tatsächlichein Lehrstück, das er im Radio aufführt, und da gibt es eine Einleitung von ihm, wo er diesen Begriff des "neuen Menschen" schafft, der aus der Masse wächst. Das ist sozusagen einutopischer Proletarismus oder ein utopischer Kollektivismus, der ja alle linken Bewegungen des 20. Jahrhunderts, erste Hälfte, durchzieht, weil man einfach glaubt, dass dadurch, dass Menschen sich in die Masse formen, sozusagen das Gute in ihnen aufsteigt. Zitator Der Glaube an das Gute in der Masse und die Angst vor ihrer Verführbarkeit sind einem paradoxen Verhältnis vom Einzelnen zur Gesellschaft gewichen. O-Ton 24 - Alexander Pschera (DR 423 / ca 10:25) Individualität und Kollektivität sind ganz eng miteinander verklammert. Und diese Ausgestaltung von Kollektivität kann natürlich nur geschehen, indem jeder einzelne sein Profil wählt und diesem Profil eine Gestalt gibt, die vor den anderen Bestand hat. Das ist ganz wichtig, denn "Facebook" funktioniert ja nicht so, dass man einfach blind drauflos redet oder blind drauflos postet, sondern man steht ja unter permanenter Beobachtung, und ich denke, dass man eben da auch sehr viel Autokorrektur erfährt. SPRECHER Das Internet ist ein Instrument, das einem helfen kann, sich zu verändern. Und das müssen wir auch, sagt Wolfgang Hagen. Der "neue Mensch" des Internets hat ein Profil und viele Identitäten. O-Ton 25 - Wolfgang Hagen (38:42//39:28//39:04) Wir sind viele! Und ich bin nicht "Ich". Wir müssen uns, ganz anders als vor hundert Jahren, anpassen an ganz schnelle Wandlungen. So schnell, wie sich die Dinge in dieser Welt entwickeln, heißt das, dass man in einem Leben möglicherweise sieben Mal grundsätzlich die Haut zu wechseln hat. Und diese Multiplizierung des Menschen, also diese Streams of Consciousness,diese Multipersonalitäten, die werden ja extrem durch das Internet und durch die neuen Medien gefördert. Und wahrscheinlich ist das auch der Sinn - der, wenn Sie so wollen, soziologisch-evolutionäre Sinn dieser Medien. Man muss also Abwechslung und Identität gleichzeitig lernen. Das ist dann aber nicht "Der Neue Mensch", sondern es sind "Die Neuen Menschen" in "Dem Neuen Menschen". O-Ton 26 - H. Kasack: "Eine Stimme von Tausend" Hörspiel, 1932 (Aufnahme DRA) Es ist Nacht, später als sonst. In dieser Minute ist alles von mir abgestreift, was das Leben klein macht und fronen lässt - der Bürotag, der Alltag. Es wacht etwas auf in mir, was ist das? Wer hört ihm zu? O-Ton 27 - Mahret Kupka ... DR 452 / 14:04//14:35 Für mich war das Internet von Anfang an so ein Fenster zur Welt, dass ich da einfach andere Leute irgendwo finden konnte und denen erzählen konnte: Ich sitze hier in Heidelberg, und ich hab mir bei H&M diese Hose gekauft, und da habe ich mich sehr drüber gefreut, weil die eben so ähnlich aussieht wie die Hose aus der und der Kollektion, die gerade in Paris über den Laufsteg lief. Also, es war schon auch so ein gewisses Solidaritäts-Ding, dass man da wirklich in seinem kleinen Ort in seinem kleinen Zimmer sitzen konnte und wusste, irgendwo sitzt halt auch eine andere, gleichaltrige Frau in ihrem Zimmer am ihrem Computer und hat das gleiche Interesse und träumt von dieser großen weiten Welt, und davon konnte man sich so ein bisschen erzählen. SPRECHER Mahret Kupka ist Kunstwissenschaftlerin und schreibt als freie Publizistin über Mode und zeitgenössische Kunst. Für ihre Dissertation untersucht sie, wie die Autorinnen von Modeblogs sich in Text und Bild selbst porträtieren. Während ihres Studiums hat sie selbst begonnen ein Modeblog zu führen und hat ihre eigenen Erfahrungen mit der Zwiesprache gemacht, die man am Bildschirm mit der weiten Welt führt. AUTOR Es ist ein seltsames Wechselspiel von Intimität und Öffentlichkeit, von großer Bühne und Selbstbegegnung. SPRECHER "Facebook" ist eine "Kammer der Selbsterkenntnis", sagt Alexander Pschera, ein Raum, in dem wir uns ganz authentisch geben und ein entsprechend ehrliches feedback erhalten können - anders als in vielen Alltagssituationen, wo wir die unterschiedlichsten Rollen spielen müssen. O-Ton 28 - Natascha Adamowsky (433 / 18:22// ca. 19:20) Ich würde den Begriff "authentisch? für soziale Netzwerke nicht benutzen, was ich aber sofort zugestehen würde, ist, dass man sich einen Raum einrichtet, in dem man vielleicht auch vor sich visualisiert, verbalisiert, wer man glaubt zu sein und darüber auch in einem geschützten Raum meint so sprechen zu können, dass das für einen ein Aushandlungsprozess ist, ein Prozess nicht des Ausprobierens des ganz Anderen, sondern sich vielleicht auch zu spiegeln, und gerade für jüngere Menschen ist so eine Form der Selbstbeschäftigung ganz zentral - also, das ist ja immer die Frage, die man als Heranwachsender vor sich hat und die so schwierig und schmerzhaft ist zu beantworten: wer man eigentlich ist und wer man sein möchte, wo die Reise hingeht. AUTOR Einmal habe sie erlebt, wie das ist, sagt Mahret Kupka, wenn man sich ganz privat an eine unbekannte Menge wendet, wenn anonyme Leser plötzlich Anteil nehmen, Mut machen und sich solidarisch zeigen. Ein Flashmob aufrichtiger Freundschaft. Es klingt nach einem eigenen Forschungsprojekt, wenn sie sich jetzt daran erinnert. O-Ton 33 - Mahret Kupka ... DR 452 / 1h00:05 Ich hatte eine wahnsinnig schwierige Zeit, und die hab ich geteilt auf meinem Blog. Ich habe mir selbst viele Fragen gestellt: Wo stehe ich gerade? Wo will ich eigentlich hin? Das war wie so ein nach außen gerichteter Monolog. Es war einfach so wie: sich nackt auf den Marktplatz stellen und zu sagen: Das bin ich. So sieht es bei mir aus. Ich war sogar überrascht in einer gewissen Weise, dass dann plötzlich solche Reaktionen kamen, so wie - ich steh nackt auf dem Marktplatz, und plötzlich stellen sich da andere Menschen nackt dazu, das war so OK. AUTOR Man muss seine eigene Kultur entwickeln für diese Art von elektrisch verstärkter Freundschaft, sagt Mahret Kupka. Damit man sie genießen kann und sich über ihre Grenzen nichts vormacht. O-Ton 34 - Mahret Kupka ... DR 452 / 1h07:48 Es gibt natürlich auch die andere Seite, dass man sich da auch drin verlieren kann, und dass man vielleicht einfach den Moment verpasst, an dem es Zeit ist, sich wieder anzuziehen auf dem Marktplatz und nach Hause zu gehen. Aber ich glaube, dass man mit einer gewissen Kompetenz, die man ja lernen kann, merkt: Jetzt habe ich genug erzählt, jetzt hab ich das bekommen, was ich brauche, jetzt geht es mir wieder gut, und jetzt kann ich das Buch auch wieder zu klappen. SOUND - Funken (s.o.) SPRECHER: Freundschaft im Zeitalter ihrer technischen Optimierbarkeit Gesellschaftliche Utopien der sozialen Medien Von Frank Kaspar Sie hörten im O-Ton: Natascha Adamowsky, Christoph Engemann, Wolfgang Hagen, Mahret Kupka, Alexander Pschera und Florian Felix Weyh Die Sprecher waren: Markus Hoffmann, Ilka Teichmann und Frank Kaspar Ton und Technik: Andreas Krause Regie: Frank Kaspar Redaktion: Jana Wuttke Eine Produktion des Deutschlandradio 2012. 15