DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 30.9.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Bildung ohne Schule oder Die Grenzen der Freiheit Von Theo Horster URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo zur Tür hereinkommen (nachgestellt) Mann: Hallo. Jonas: Hallo. Mann: Bist du der Jonas Merten? Junge: Ja. Mann: Sind deine Eltern denn auch da? Junge: Meine Mama ist da. Mann: Darf ich denn mit deiner Mama kurz sprechen? Junge: Die ist im Bad. Die kommt gleich. Mann: Und du bist noch im Schlafanzug? Da durftest du gestern wohl lange aufbleiben, was? Junge: Ich darf so lange aufbleiben, wie ich will. Mann: Solange du willst? Junge: Ja. Du gehst doch auch ins Bett wann du willst, oder? Mann: (lacht) Das stimmt allerdings. Inga: Entschuldigung, ich war gerade im Bad. Was ist denn? Mann: Müller mein Name, Frau Merten, vom Amt für Kinder, Jugend und Familie. Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit? Inga: Vom Jugendamt? Mann: Es gab einen Hinweis aus der Nachbarschaft, Frau Merten, dem wir nachgehen müssen. Inga: Einen Hinweis? Von wem denn? Mann: Ein anonymer Hinweis. Dürfte ich reinkommen, Frau Merten? Dann kann ich das sicher besser erklären. Inga: Ja bitte, bitte kommen Sie rein. Ansage: Bildung ohne Schule oder Die Grenzen der Freiheit Ein Feature von Theo Horster Christoph: Uns hat das extrem unter Druck gesetzt. Wir haben die Tür nicht mehr aufgemacht, wenn keiner angemeldet war. Einmal hat's geklingelt, und ich sag zu unserem mittleren, Hannes, der war 4, mach nicht auf! Und er hat diese Bockigkeit, die man mit 4 halt haben kann, und tut so, als ob er zur Tür will. Ich flüsterte, weil das ist hellhörig nach vorne, komm weg von der Tür - und er grinst nur - ich sage, geh weg da, er tut so, als würde er aufmachen, für ihn war das ein Spiel! Da bin ich ausgerastet, ich hab ihn so heftig weggerissen, dass er der Länge nach hinfiel, an der Lippe geblutet hat, mit aufgeschrammtem Knie, und hat geweint, natürlich, und gezittert am ganzen Leib. Ich hab ihn nach hinten getragen, damit man vorne nichts hört, und ich hab auch gezittert, und ich hab nur gedacht, was passiert da mit dir? Atmo Bolzplatz Theo: Das ist Jonas, sieben Jahre alt. Mit seinem besten Freund Jakob spielt er auf einem heruntergekommenen Bolzplatz im Zentrum einer kleinen Stadt in Hessen. In dieser Stadt lebt Jonas mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern ? und in seinem Tagesablauf spielt der Bolzplatz eine wichtige Rolle: Jonas: Erstmal stehe ich auf, dann frühstücke ich. Dann spiele ich ein bisschen Fußball. Dann mit meinem Lego, dann esse ich Mittagessen, und dann mache ich was mit meinen Holzklötzchen. Ich hab Freunde, meistens ist das Jakob, manchmal kommen Felix und Andi. Und was ich mit denen mache, ist ja klar, Fußballspielen. Theo: Jonas heißt in Wirklichkeit anders ? seinen echten Namen muss ich verschweigen, um ihn und seine Familie zu schützen. Deshalb werden auch die Worte von Jonas und seinen Eltern - im Wortlaut des von ihnen Gesagten ? hier nachgesprochen. Man soll sie an ihren Originalstimmen nicht erkennen können. Ich bin mit den Eltern seit langem befreundet, und weil ich selbst einen kleinen Sohn habe, interessiert mich der ungewöhnliche Bildungsweg, den diese Familie geht. Die Anonymität ist nötig, denn was Jonas' Eltern, Inga und Christoph, tun, müssen sie den meisten Menschen gegenüber geheimhalten, weil es in Deutschland verboten ist: Jonas wächst, trotz Schulpflicht hierzulande, ohne Schule auf. (nachgestellt:) Mann: Frau Merten, ich sage Ihnen, was wir notiert haben: Jemandem in der Nachbarschaft fällt auf, dass Ihre Kinder spät schlafen gehen und auch sehr spät noch draußen spielen. Das hat mir Ihr Sohn gerade bestätigt. Inga: Jonas? Jonas: Er hat mich gefragt. Inga: Sie können doch hier nicht meinen Sohn ins Kreuzverhör nehmen! Mann: Frau Merten - Inga: Seit wann ist denn vorgeschrieben, wann jemand ins Bett geht? Was schreiben Sie denn auf? Jonas: (liest) Nervös und aufgeregt. Mann: So gut kannst du schon lesen? Inga: Jonas, bitte. Jonas: ?Mutter ist nervös und aufgeregt.? Theo: Ich sitze in der Küche der Familie, um neun Uhr morgens. Drei Monate sind vergangen, seit der Mitarbeiter des Jugendamts hier am Tisch saß. Inga und Christoph haben drei Kinder: Jonas ist 7, Hannes 4 Jahre, Helena 6 Monate alt. Das merkt man der Wohnung an: Überall verstreut liegen Spielzeug, Kinderstrümpfe ? auf dem Tisch sind noch die Reste von Jonas' Frühstück: Müsli, Toastbrot, rote Paprika. In der Spüle türmt sich Geschirr. Die Wohnung macht den Eindruck von mühsam gebändigtem Chaos. Christoph: Wir wollten das natürlich perfekt machen. Wie das so ist, beim ersten Kind. Die Wohnung soll picobello sein, das Kind soll picobello sein, das ganze Programm: Babyschwimmen, Babymassage, da waren wir damals voll mit dabei. Wir dachten, wir dürfen uns nicht an unser Kind klammern, es soll selbstständig werden, gefördert werden, und ich hatte mit meiner eigenen Selbständigkeit jede Menge zu tun, und da passte das so wunderbar, Jonas mit 9 Monaten zur Tagesmutter zu geben. Inga: Aber das Problem war, dass Jonas da nie bleiben wollte. Wenn ich weggegangen bin, hat er immer geweint. Das kennen ja zigtausend Frauen, jeden Tag: Du musst weg, zum Termin, ins Büro, das Kind weint, was machst du da? Natürlich gehst du weg. Weil, das muss ja so sein, das macht man so, das geht nicht anders. So haben wir damals gedacht. (nachgestellt) Mann: Frau Merten, Sie haben mit Jonas zweimal die Vorsorgeuntersuchung versäumt. Inga: Ja, aber was hat das denn damit zu tun? Mann: Das hat erstmal nichts damit zu tun, es geht nur um einen Eindruck, ein Gesamtbild, und - Inga: Wir gehen ja zu diesen Untersuchungen. Mann: Das weiß ich, Frau Merten. Sonst hätten wir darüber weitere Meldungen. Ich will Ihnen nur sagen, das ist einfach alles ein Gesamtbild. Verstehen Sie? Die Wohnung ist ja relativ groß. Inga: Ja, so 120. 125 qm. Jonas: (kommt) Mama? Ich hab Durst. Inga: Komm her, ich geb dir was. Mann: Was macht die Schule, Jonas? Jonas: Schule? Ist gut. Mann: Hast du'n Lieblingsfach? Jonas: Ach, ich mag alles gern. Mann: Alles? Inga: Da habe ich erst kapiert, dass der Mann vom Jugendamt gar keine Ahnung hat, was eigentlich bei uns passiert! Verrückt, oder? Der kam wirklich nur wegen Barfußlaufen und Spätinsbettgehen. Dem war überhaupt nicht klar, dass Jonas nicht zur Schule geht! 1. Sprecherin: ?Schulpflicht besteht für alle Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden, die im Lande Hessen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Ausbildungs- oder Arbeitsstätte haben. (...) Die Eltern sind dafür verantwortlich, dass die Schulpflichtigen am Unterricht und an den Unterrichtsveranstaltungen der Schule regelmäßig teilnehmen.? §56 und 67, hessisches Schulgesetz. Inga: Auf einmal wird einem klar, was für eine Grenze man überschritten hat. Wie verwundbar man geworden ist, weil man was Kostbares gewonnen hat, da steht wirklich was auf dem Spiel. Und wie selten passiert das sonst im Leben? Alle sagen ja, schwimm gegen den Strom, sei individuell, sei eigensinnig. Aber eigentlich hatte ich das mit diesem Widerstand gegen die Schulpflicht zum allerersten Mal in meinem Leben wirklich gemacht. 1. Sprecherin: Wer seiner Schulpflicht nicht nachkommt, kann der Schule zwangsweise zugeführt werden, wenn andere pädagogische Mittel, insbesondere persönliche Beratung, Hinweise an die Eltern oder gemeinsame Gespräche der Beteiligten erfolglos geblieben sind. Die Entscheidung über die zwangsweise Zuführung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter im Einvernehmen mit der Schulaufsichtsbehörde.? Hessisches Schulgesetz, §68. Jonas: Ja, ich geh nicht in die Schule, das gefällt mir, nämlich eins finde ich gut, dass man den ganzen Tag zum Beispiel manchmal seine Eltern sehen kann und dass man dann nicht einfach rum- auf nem Stuhl sitzen muss und was lernen muss, dann kann ich zu Hause einfach aufm Boden liegen und in meinen Schulheften machen ? dann frage ich Mama und Papa, obs richtig ist. Theo: Jonas sitzt aufrecht, die blauen Augen blicken konzentriert, die Wangen leicht gerötet, und die Stimme nimmt unwillkürlich einen offiziellen Ton an. Ihm ist bewusst, dass das, was er sagt, das Außenbild seiner Familie prägt - und auch das Bild eines Kinderlebens ohne Schulbesuch: Jonas: Lies mal-Hefte zum Beispiel, hab ich eins. Da muss man einfach das Buch durchlesen, eine Doppelseite, und dann wieder eine Doppelseite und wieder eine Doppelseite ? wie im richtigen Buch. Also zum Beispiel wo der Fuchs ganz doll Hunger hat. Und er findet immer nix im Wald, und dann endlich sagt der Adler zu ihm, wo endlich ein kleines Häschen wohnt, nämlich in einer Höhle, ganz tief im Wald versteckt, und da geht er dann hin. Theo: Ich bin allein in der Küche. Es ist viertel nach neun. Inga, die als Sängerin arbeitet, ist zu einer Aufnahme gefahren. Christoph führt im Arbeitszimmer ein berufliches Telefonat ? er arbeitet freiberuflich als Lektor von zu Hause aus. Jonas spielt im Garten, die beiden kleineren Kinder schlafen noch. Auf dem Küchentisch liegt ungeöffnete Post neben Gemüse und Obst, über dem Fruchtfliegen kreisen, und einem alten, vergilbten Buch, das ich unwillkürlich zur Hand nehme - es ist Janusz Korczaks Klassiker über den unglücklichen Kinderkönig Hänschen, der viel zu früh auf den Thron kommt: Sprecherin 2 (Korczak): Da muss ich euch erklären, dass es an den Königshöfen eine strenge Etikette gibt. Das heißt, dass es die Könige immer so gemacht haben, und dass ein neuer König daran nichts ändern darf, denn wenn er irgendetwas anders machen wollte, dann würde er seine Ehre verlieren. Wenn ein König irgendetwas anders machen will, dann muss er erst den Zeremonienmeister fragen, der über die Hofetikette wacht und der weiß, was die Könige immer gemacht haben. Theo: Es ist jetzt halb elf. Jonas' Bruder Hannes ist aufgestanden und in den Garten gegangen; dort hüpft er mit Jonas auf einem riesigen Trampolin. Christoph hat das Baby gefüttert und ist mit ihm auf dem Arm erneut im Arbeitszimmer verschwunden, wo er wieder telefonieren muss. Es ist Stress in diesem Haushalt, zwei Jobs, drei Kinder, die ständig da sind, hier herrscht Herzlichkeit, zugleich aber hohes Tempo, viel Multitasking ? es geht gar nicht anders. Christoph: Nach drei Monaten Tagesmutter haben wir gesagt: Wenn er nicht hingehen will, dann soll er doch bei uns zuhause bleiben! Da hat uns schon eine gute Freundin gewarnt, das werde ich nie vergessen, die hat mir gesagt: Spätestens in der Schule muss er ja doch von euch weg. Da soll er sich doch früh dran gewöhnen, und passt bloß auf, hat sie gesagt, dass der euch nicht bald auf der Nase rumtanzt. Inga: Für mich war klar, dass Jonas einen Kindergarten besucht ? auch nach der Tagesmuttergeschichte. Ein Kind nur zuhause, das war mir unvorstellbar. Aber da gab's ein ziemlich banales Problem: Der schlief zu lange. Im Urlaub, 2009, haben wir angefangen, dass Jonas nicht ins Bett gesteckt wird. Wir haben ihn einfach gelassen, bis er müde wurde, irgendwann sind wir alle zusammen schlafen gegangen. Kein Stress und Streit ums Schlafengehen! Christoph: Aber versuch mal eine Einrichtung zu finden, wo das Kind um 10, 11 Uhr hingeht. Das gibt's gar nicht. Die sagen dir alle, um 9:00 Uhr ist Morgenkreis, und einmal hat eine Erzieherin gesagt, bei so einem Tag der offenen Tür: Lang schlafen ist ja sicher schön. Aber wenn Jonas in die Schule kommt, kann er ja auch nicht aufstehen, wann er will. Irgendwann muss er lernen, sich zu arrangieren. Da habe ich das zum zweiten Mal gehört. ?Sich arrangieren.? Sprecherin 1 (Korczak): Ich habe schon gesagt, dass das Frühstück des Königs Hänschen sechzehn Minuten und fünfunddreißig Sekunden dauerte, weil sein Großvater es so gemacht hatte, und dass es im Thronsaal keinen Ofen gab, weil seine Urgroßmutter das so gewollt hatte, die aber war schon lange tot, und man konnte sie nicht mehr fragen, ob sie nun vielleicht doch erlaubte, einen Ofen aufzustellen. Manchmal kann ein König etwas ein ganz klein bisschen ändern, aber dann gibt es lange Beratungen, und darum macht es gar keinen Spaß. Inga: Es gab genau eine Kita, die gesagt hat, Jonas kann spät kommen. Aber nachdem wir uns so dran gewöhnt hatten, dass die ganze Stadt unsere Kita war, wenn wir wollten, das war ? ich weiß nicht, das war irgendwie so klein! So ein Spielzeug-Puppenstubenland. So unecht, so weit entfernt von der Welt! Christoph: Begeistert war Jonas auch nicht. Mit den Kindern hat er sich gut verstanden, aber der Blick beim Weggehen hat immer gesagt: Bleib hier ? wo willst du denn hin? Inga: Trotzdem wollte ich ihn nicht abmelden. Gar nicht! Ich habe gedacht: Schon wieder? Zum zweiten Mal? Vielleicht stimmt ja mit uns was nicht! Wie kann man gegen Kita sein? Telefonat (nachgestellt): Hoffmann: Herr Merten? Mein Name ist Hoffmann, vom Schulamt. Christoph: Hallo. Hoffmann: Ich beziehe mich auf ein Gespräch, das Sie vor kurzem mit einem Kollegen vom Jugendamt hatten, Herr Müller, richtig? Christoph: Meine Frau. Ja. Genau. Hoffmann: Da haben sich im Nachgang jetzt einige Fragen ergeben, und zwar zum Schulbesuch Ihres Sohnes Jonas. Deshalb wollte ich fragen, ob wir hier mal darüber mit Ihnen sprechen können. Christoph: Im Schulamt? Hoffmann: Das wäre ideal, ja. Christoph: Okay ? klar, wann denn? Hoffmann: Sobald Sie es einrichten können, Herr Merten. Morgen früh, geht das? Theo: Es ist ein Uhr. In der Küche füttert Christoph die kleine Helena. Ich stehe im Kinderzimmer und sehe in den Garten hinaus. Inzwischen hüpfen fünf, sechs Kinder auf dem Trampolin ? die Schule ist aus, und Freunde aus der Nachbarschaft sind zu Besuch gekommen. Da liegt plötzlich Hannes am Boden, hat sich wehgetan. Ich sehe, wie Christoph mit Helena auf dem Arm herauskommt, um ihn zu trösten. Währenddessen klingelt im Arbeitszimmer wieder sein Handy. Inga: Ich war eine gute Schülerin! Christoph: Ich hab mich nie anstrengen müssen, mir fiel das immer alles immer in den Schoß ? Inga: Ja, du bist ja auch ein Gymnasiallehrerkind. Christoph: Das stimmt. Wirklich! Ich wusste einfach immer, wie man sich geben muss, damit man klug wirkt. (lacht) Inga: Meine Eltern sind einfache Leute, die haben als Apothekenhelferin und Seemann angefangen! Ich wollte einfach sehr gut sein, das war Arbeit, Arbeit, ich hab wahnsinnig geackert, ich hatte wahnsinnigen Ehrgeiz, dieses Notensystem, dieses Belohnungssystem, das hat mich - Christoph (fällt ihr ins Wort): Korrumpiert. Das korrumpiert. Obwohl alle so tun, als ob sich das geändert hätte, und jetzt wäre alles viel individueller, ganz frei ? das stimmt ja im Alltag gar nicht! Das ist ja weiterhin total hierarchisch und entfremdet, es ist alles bis ins Kleinste vorgegeben, außer dass es im Unterschied zur alten Paukschule jetzt jede Menge wunderschöner Überschriften gibt, was angeblich da stattfindet: Sprecherin 1: ?Die Schulen sollen die Schülerinnen und Schüler befähigen, 1. staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen, 2. nach ethischen Grundsätzen zu handeln, 3. die Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Solidarität zu gestalten, 4. die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft zu erfahren, 5. die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die natürlichen Lebensgrundlagen zu erkennen und die Notwendigkeit einzusehen, diese Lebensgrundlagen für die folgenden Generationen zu erhalten, 6. die Freizeit sinnvoll zu nutzen.? §2, hessisches Schulgesetz. Christoph: Und alle glauben, das soll alles in einer Struktur passieren, die kommt noch komplett aus dem 19. Jahrhundert, mit Stundentakt, mit immer noch, und das ist ja nachgewiesen, über 80 % Frontalunterricht, in sterilen Räumen, von der Außenwelt abgeschottet, da sollen Lehrer, die im Schnitt täglich über 100 Schüler unterrichten, dann dieses Wunder vollbringen von umfassender Persönlichkeitsbildung? Theo: Du hast gerade gesagt, Schule ist fremdbestimmt. Aber ist ein Kind in der Familie selbstbestimmt? Ihr entscheidet doch auch über eure Kinder, nur in viel engerem Rahmen, ist das nicht auch ein Raster, in das ihr sie presst? Christoph: Ich glaube, das ist eine Aufgabe. Das muss man als Aufgabe begreifen, für mich war das immer klar: dass Familie offen sein muss, nach außen. Dass man verhandelt, dass man möglichst wenig Grenzen zieht, und dass man diese Elternrolle reflektiert. Letztlich ist das alles eine Frage von Kinderrechten, damit hat das Ganze ja zu tun, dass ich das Recht von Kindern ernstnehme, ihr Leben so zu leben, wie sie gern wollen. So gut ich das kann. Theo: Nur ? sehen das alle so, die vielleicht ohne Schule leben würden, wenn es die Schulpflicht nicht gäbe? Christoph: Wahrscheinlich nicht, das ist die ehrliche Antwort. Aber Gegenfrage, wie sieht es jetzt aus? Da sind die meisten Kinder doch in genau den konventionellen Kleinfamilien, in denen du dieses enge Raster hast, von dem du sprichst: Abendessen, ab ins Bett, und Zwangsausflüge am Sonntag und Familienfeste mit Oma-die-Hand-geben, und dann sind die auch noch in der Schule im Raster. Wenn ich Kinderrechte ernstnehme, dann habe ich in der Familie zumindest die Chance dazu. In der Schule? Guck dir die Regularien an! Sprecherin 1: Die Schülerinnen und Schüler sind verpflichtet, regelmäßig am Unterricht und den Schulveranstaltungen teilzunehmen, die erforderlichen Arbeiten anzufertigen und die Hausaufgaben zu erledigen. Sie haben die Weisungen der Lehrkräfte zu befolgen, die dazu bestimmt sind, das Bildungs- und Erziehungsziel der Schule zu erreichen und die Ordnung in der Schule aufrechtzuerhalten. Soweit schulärztliche oder schulpsychologische Untersuchungen sowie sonderpädagogische Überprüfungen erforderlich werden, sind die (?) Schülerinnen und Schüler verpflichtet, sich untersuchen zu lassen und an wissenschaftlich anerkannten Testverfahren teilzunehmen. (hess. SchG, §69, 71) Inga: Wie absurd das alles ist, ist mir erst klargeworden, als ich angefangen habe, mich mit der alternativen Schulidee zu beschäftigen. Christoph: In dieser komischen Kindergartenzeit, wo wir immer seltener hingegangen sind, bin ich über einen Artikel gestolpert. Über demokratische Schulen, nach dem Sudbury Valley-Modell. Das ist eine Schule in den USA, die ist 1968 gegründet, in der die Schüler konsequent entscheiden, was sie tun. Da gibt?s keine Klassen, keinen Lehrplan, Unterricht gibt?s nur, wenn er von Schülern aktiv gewünscht wird ? also, da entscheidet jeder den ganzen Tag selbst, was er tut. Inga: Das ist wie schulfrei. Nur in der Schule. Aber die lernen Lesen, Schreiben, Rechnen, ohne jeden Zwang, einfach, weil sie irgendwann merken, dass man das gebrauchen kann! Das Modell gibt?s in verschiedenen Ländern jetzt, und ich hatte mich mit Schule nie beschäftigt, das war ja auch noch viel zu weit weg. Aber wir dachten beide sofort: Das passt zu uns. Zu unserem Leben, damit bewegen wir was! Christoph: Ziemlich naiv, im Rückblick. Inga: Ja, aber erstmal haben wir losgelegt, Leute gesucht, wir haben eine Gruppe ins Leben gerufen, und wir waren einfach begeistert ? ja, vielleicht naiv. Aber das war auch toll, weil uns da so viel klar wurde, was wir bisher nur intuitiv gemacht haben: Kindern Freiheit zu lassen, auf den Wissensdrang zu vertrauen, dass man sie nicht ständig behandelt, als wäre der Kopf ein leerer Kanister, den man befüllt. Theo: Aber das ist doch inzwischen Konsens in der Schule! Und es gibt jede Menge freier Schulen, die in Frage kommen ? Montessori, Waldorf, andere freie Varianten, da gibt es doch viel in Deutschland. Warum gleich eine eigene Schule? Christoph: Frei heißt bei den meisten Schulen ja nur: private Trägerschaft. Waldorf finde ich unheimlich ideologisch, autoritär, und Montessori hat doch auch den Lehrplan, nur versteckt in diesem berühmten Material. Viele finden es schon wahnsinnig frei, wenn's bis zur vierten Klasse keine Noten gibt, oder Jahrgangsmischung. Aber wenn ich in einer Zwangsgruppe mit anderen sein muss, dann ist mir eigentlich egal, was da für Altersgruppen dabei sind, das bleibt eine Zwangsgemeinschaft. Theo: Aber es gibt demokratische Schulen, wie ihr wolltet. In Hamburg zum Beispiel, oder Berlin, oder - Inga: Aber wir können beruflich nicht umziehen, wir sind hier auch verwurzelt, und das finde ich einfach dann so empörend in Deutschland, alles mögliche muss demokratisch sein, du darfst nicht mal einen Verein ins Vereinsregister eintragen, der undemokratisch ist, aber Schulen? Die sind per definitionem undemokratisch. Man lacht sogar über den Gedanken, die Leute lachen dich aus ? Christoph: Nicht nur wir, so viele andere klagen über das System, viele leiden stark, aber dann: ohne Noten, ohne Hausaufgaben? Fast keiner will diese Dinge loslassen. Diese ganze Kontrolle ist beruhigend. Die Illusion, dass man weiß, wo's langgeht. Stück für Stück. Häppchen für Häppchen. Eine wirklich freie Schule? Demokratie nicht nur als Lehrstoff, sondern als Realität? Kinder, die wirklich bestimmen, was sie tun? Das funktioniert ja, das ist ja alles nachgewiesen! Diese Schulen gibt es, die funktionieren! Theo: Wenn es diese anderen Gründungen aber gibt, woran seid ihr mit Eurem Schulversuch dann gescheitert? Christoph: Vor dir sitzen ja Bürokraten, die fragen dich nur nach Noten, Kontrolle, Überprüfung, Abschlüsse. Die haben gar kein Interesse an deinem Projekt, die sehen private Schulen als Konkurrenz. Und weil die Vorschriften so eng sind, kann jede Behörde so eine demokratische Schulgründung sofort verhindern. Theo: Was ja auch notwendig sein kann, oder? Als Kontrolle, als Vorbeugung gegen Missbrauch. Christoph: Ganz ehrlich, ich finde, das existierende Schulsystem ist ein tagtäglicher, massenhafter Missbrauch von Macht. Kontrolle und Zwang. Der Gedanke, weil das eine staatliche Veranstaltung ist, wäre daran irgendetwas besser oder harmloser, den finde ich politisch grenzenlos naiv. Im Schulamt (nachgestellt) Hoffmann: Ich habe Herrn Meier dazugeholt, das ist unser Amtsleiter. Meine Frage wäre zunächst: Ist es korrekt, dass Ihr Sohn Jonas seit Beginn der Schulpflicht keine Schule besucht? Christoph: Das ist korrekt. Hoffmann: Ihnen ist aber klar, dass er zum Schulbesuch verpflichtet ist? Christoph: Mir ist das nicht klar, nein. Ich finde nicht, dass er dazu verpflichtet ist. Hoffman: Wir haben eine Schulpflicht, Herr Merten, und - Christoph: Ich denke, dass die Schulpflicht verfassungswidrig ist, und ich glaube nicht, dass ein Schulbesuch für die Bildung meines Kindes - Meier: Darüber haben Sie aber nicht zu bestimmen, Herr Merten. Wo kommen wir hin, wenn jeder Gesetze nach Gutdünken auslegt? Christoph: Verfassungsmäßig - Meier: Herr Merten, ich möchte hier nicht diskutieren, was verfassungsmäßig ist. Sie stehen mit dieser Auslegung ziemlich alleine da. Inga: Deutschland steht mit diesen Gesetzen ziemlich allein da. Meier: Sie leben aber in Deutschland, Frau Merten. Sie halten Ihren Sohn vorsätzlich vom Schulbesuch fern, und jetzt kommen Sie her und erklären mir, dass sowieso alles verfassungswidrig ist, bitte sagen Sie mir, weshalb ich auch nur eine Sekunde darüber nachdenken sollte, diese Situation zu akzeptieren? Theo: Gute Frage, oder? Was habt ihr gesagt? Christoph: Ich weiß es nicht mehr. Aus seiner Sicht, klar, gute Frage. Verstehe ich ja, und ich war in dem Gespräch nicht wirklich souverän. Inga: Wir hatten beide Angst. Wir hatten ganz einfach Angst! Theo: Aber könnt ihr mir allgemeinverständlich erklären, was daran verfassungswidrig ist? An der Schulpflicht? Christoph: Weil sie das Elternrecht auf Erziehung einschränkt, das ist ein Grundrecht. Aber auch Grundrechte der Kinder, vor allem freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das sind ja so mit die heiligsten Grundrechte der Verfassung überhaupt! Von Schulpflicht steht da nichts. Das steht erst in den Landesverfassungen, im Grundgesetz steht nur, der Staat hat die Aufsicht über das Schulwesen. Und inzwischen gibt's einige Juristen, die anfangen sich zu fragen, wieso der Staat mich eigentlich zwingen darf, diese Schulen zu besuchen? Inga: Als Hilfskonstruktion sagen sie dann, um Parallelgesellschaften zu verhindern. Aber es gibt ja gar kein Gesetz, das Parallelgesellschaften verbietet! Ich meine, die gibt?s sowieso, trotz Schule, die sind ja real: also Subkulturen, Sekten, Ghettos, und eigentlich gehören die doch zu einer Gesellschaft auch dazu! In einem Land leben, wo es keine Nischen gibt, das will ich nicht. Theo: Nur, wie viele Juristen sehen das so? Das sind doch Einzelfälle, Ausnahmen. Christoph: Aber denk doch mal an 1950, wenn du da jemand nach Frauenrechten gefragt hättest, nach Minderheitenrechten, wie wir sie heute kennen, dann hätten dich die meisten Leute für verrückt erklärt. Wir haben in der BRD seit Jahrzehnten eine Liberalisierungsbewegung, in so vielen Bereichen, die füllt ja das Grundgesetz erst mit Leben. Nur in einem einzigen Bereich ist diese Liberalisierungstendenz nicht angekommen, weil da eine Betonmauer drumgezogen ist: Das ist die Schulpflicht. Theo: Hättet ihr mit dieser Argumentation eine Chance? Vor Gericht, meine ich. Inga: Niemals. Vor Gericht, nie ? das sitzt so fest in allen Köpfen, auch in denen von Richtern. Es gibt ja immer wieder Eltern, die vor Gericht landen, weil sie denunziert werden. Oft ist das die eigene Verwandtschaft, die denken noch, sie tun den Leuten was Gutes! Und die Gerichte leiern wie so ein Textbaustein diese Sache von den Parallelgesellschaften runter, da wird gar nicht nachgedacht. Darum verstecken wir uns ja. (nachgestellt) Inga: Es ist aus! Es ist vorbei! Christoph: Nein, wir - Inga: Christoph! Es ist vorbei! Es ist vorbei, hast du nicht gehört, was der gesagt hat? Christoph: Dann ziehen wir das vor Gericht durch. Inga: Das halte ich nicht aus. Christoph: Irgendjemand muss das mal durchkämpfen. Inga: Hast du's nicht kapiert? Wir verlieren das! Ich kann mit meinem Kind nicht vor Gericht stehen, das mache ich nicht, ich mache das nicht, ich stelle nicht mit meinem Baby vor Gericht und verliere am Ende noch das Sorgerecht. Christoph: Teile vom Sorgerecht. Inga: Ja, großartig! Teile vom Sorgerecht! Wir wollten, dass er frei ist. Die sollen alle drei frei sein. Christoph: Werden sie auch. Inga: Aber wie? Christoph, wie? Wie denn? Theo: Es geht auf zwei Uhr zu. Inga ist nach Hause gekommen und stillt Helena im Schlafzimmer. Christoph hat jetzt einen Termin und ist weggegangen. Der Garten ist verwaist ? die Kinder sind auf eines der Nachbargrundstücke weitergezogen, und auf einmal ist es sehr still. Ich sitze an Jonas' kleinem Schreibtisch. Hier türmen sich gebrauchte Schul- und Übungshefte, die die Familie von Freunden bekommt: Rechenhefte, Schreibhefte der verschiedensten Verlage und Schulstufen. Daneben ein Wasserfarbkasten, ein kaputtes Legoraumschiff, und an der Wand ein Internetausdruck des großen Einmaleins. Sprecherin 2: (Mail von Oma): Hallo Inga, wir möchten euch dringend bitten, eure Idee doch noch mal zu überdenken. Ihr merkt ja selbst, dass ihr gar keine Zeit habt, Jonas' Lerneifer zu befriedigen, und diese Phase der Lernbereitschaft dauert nicht ewig - das werdet ihr auch noch feststellen. Irgendwann ist da der Zug abgefahren. Wir halten Jonas für ein sehr intelligentes Kind. Wir fänden es schlimm, wenn er sich nicht entfalten könnte. Soll er doch ruhig die Angebote der Schule erst mal annehmen, was er dann daraus macht, wird man ja sehen. Viele liebe Grüße von Oma und Opa Inga: Unsere Eltern verstehen das nicht. Das war uns auch von vornherein schon klar, dass die anderer Meinung sind. Die machen sich schon Sorgen ? vor allem am Anfang war das so, gerade Christophs Eltern waren geschockt, als Lehrer! Jetzt sprechen wir darüber wenig. Ganz ehrlich gesagt - ich glaube, die merken, dass Jonas sich prima entwickelt. Theo: Aber was ist mit seinem Lerneifer - wie geht ihr damit um? Bei eurem beruflichen Pensum? Inga: Wie geht denn Schule damit um? Ich meine, da sitzen 25, 30 Leute in einer Klasse zusammengepfercht, mit einem Lehrer. Bei uns fällt ja die ganze Reibung weg, die ständige Ruhestörung, das Organisieren, wir machen ja kein Homeschooling. Wir unterrichten ja nicht, wir haben gar nichts, was man stören könnte! Christoph: Unschooling, heißt es. Inga: Ja, Unschooling, statt Homeschooling. Ich hole mir ja Schule nicht nach Hause, Unterricht ist einfach nichts, was gut ist für Bildung! Wir greifen Interessen und Fragen auf, wenn sie kommen. Das ist alles so viel einfacher! Wie beim Lesen, da haben wir's erlebt, es kommt, wirklich, es kommt von selbst, die wollen die Welt entdecken! Kinder sind Weltentdeckungsmaschinen, die muss ich zu nichts zwingen. Ich muss nur warten, warten und da sein. Theo: Aber viele Fragen stellen die Kinder doch nicht, oder? Inga: Aber wer bin ich denn, dass ich festlege, was die richtigen Fragen an diese Welt sind! Man muss einfach mal diesen Drang loslassen, Kinder dauernd mit Antworten auf Fragen zu behelligen, die sie selber nie gestellt haben. Das ist das Schlimme an Schule finde ich, dass man ständig Fragen untergeschoben bekommt, für die man dann Interesse heuchelt, dabei waren das nie die eigenen Fragen. Sprecherin 2: (Mail von Oma väterlicherseits): Ich finde ein "Abnabeln" von der Familie in diesem Alter wichtig. Die Kinder sollten sich von ihren Eltern lösen, Schule bringt neue Bekanntschaften, Erfahrungen, was sich in einer größeren Gruppe so alles ergibt. Gelegentliche Frustrationen eingeschlossen! Ich halte es nicht für ideal, den Kindern Frustrationen zu ersparen. Die gehören zum Leben dazu, in jeder Hinsicht. Eure Oma Christoph: Wir lassen sie ja frei, wir lassen sie um die Häuser ziehen ? was heute so viele Kinder in den Städten gar nicht mehr dürfen. Und wir wollten ja eine Schule, wir haben's ja versucht. Zwei Jahre haben wir Gesetze gebüffelt, mit Politikern gesprochen, wir haben Veranstaltungen gemacht, und Ende 2011 hat die Behörde das Konzept dann abgelehnt. Zu wenig Struktur, zu wenig Kontrolle. Theo: Zwei Jahre Arbeit, umsonst. Christoph: Ja, nur als die Ablehnung kam ? das war im Dezember 2011, waren wir längst auf einem ganz anderen Dampfer. Da waren wir in England. Inga: Im Urlaub. Da haben wir Freunden von allem erzählt. Und weißt du, was die sagten? Wenn Ihr Schule so schlecht findet, warum gründet Ihr eine? Schickt ihn doch einfach gar nicht hin! Christoph: Und wir, als brave Deutsche: Das ist doch verboten! Da haben die uns nur angeschaut: Wie, verboten? Inga: Die waren fassungslos! Christoph: In Deutschland ist das verboten? Da ist uns erst klargeworden, Deutschland ist fast das einzige Land in Europa, das so eine rigide Schulpflicht hat. Du kannst fast überall sonst ohne Schule leben, wenn du das willst. Theo: Aber es tut keiner, oder? Kaum einer. Christoph: Ja, aber es geht! Kaum ein anderes europäisches Land, außer neuerdings Schweden, hat eine Schulpflicht, so eine Schulanwesenheitspflicht. Manchmal eine Lehrpflicht, die kontrollieren die Österreicher einmal im Jahr mit Prüfungen. In Belgien gibt es Inspektoren, die machen jährlich einen Hausbesuch. In England gibt's gar keine Auflagen, Frankreich hat auch keine Schulpflicht ? und so weiter, quer durch Europa. Inga: Ich war da nicht drauf vorbereitet. Ich wollte das nicht, ich meine nicht Auswandern, das geht sowieso nicht, beruflich. Ich wollte ja lange Zeit nicht mal aus dem Kindergarten raus, obwohl wir alle keine richtige Lust mehr drauf hatten. Christoph: Wir haben wirklich gekämpft, mit uns, monatelang. Wir haben Familien kennengelernt, die ohne Schule leben ? illegal, in Deutschland. Schwer zu sagen, wie viele das sind, manche sagen, 50 ? andere 1000, aber da ist uns klar geworden, das geht, das machen Leute. Es gibt diesen Widerstand, und man kann so leben, auch hier, wenn man nur will! Inga: Ich habe gezögert. Ich wollte das nicht. Weil, das heißt: Du machst den Schritt in die Illegalität, und mir hat das Angst gemacht. Christoph: Die Alternative hat mir Angst gemacht. Schule, jeden Morgen das Kind um 7 Uhr aus dem Bett schmeißen. Ich weiß noch, wie ich das gehasst habe. Inga: Aber die Heimlichkeiten? Lügen, sich verstecken ? wir wussten ja nicht, wie sich das anfühlt. Sich so rauskatapultieren aus allem! So hab ich mir das vorgestellt. Dann haben wir ihn einfach gefragt: Was möchtest du, hingehen? Oder nicht? (geht über in nachgestelltes Gespräch mit Jonas) Jonas' Stimme: In die Schule? Inga: Genau. Jonas: Aber kriege ich dann keine Schultüte? Wenn ich nicht hingehe? Inga: Du kannst natürlich eine Schultüte bekommen. Wenn du das möchtest. Du kriegst sogar noch was besseres, du kriegst eine Schulfreitüte! Jonas: Und Jakob kriegt jetzt einen Ranzen. Inga: Wir haben doch diesen Ranzen vom Sperrmüll! Den kannst du doch nehmen. Jonas: Aber Jakob kriegt einen mit Piraten drauf, auf unserem sind nur blöde Raben. Inga: Jonas, wenn du wirklich einen Ranzen brauchst und in einem Monat noch willst, verspreche ich dir, wir kaufen dir einen. Aber ich glaube, du wirst keinen brauchen. Jonas' Stimme: Und wenn ich mich noch umentscheide? Kann ich dann hingehen? Wenn ich will. Inga: Christoph hat die Krise gekriegt, als er das sagte. Das hat man an seinem Gesicht gesehen. (lacht) Natürlich, hab ich gesagt, du darfst dich umentscheiden. Vielleicht musst du dann aber für immer hingehen, weil wir da nicht mehr so einfach rauskommen - Jonas: Wenn ich mich umentscheide. Und ich kriege eine Schultüte. Inga: Natürlich! Du kriegst eine Schulfreitüte, das ist fast dasselbe ? nur viel besser. Christoph: Dann haben wir ein Foto gemacht, am ersten Schulfreitag ? so haben wir das genannt - vor der Haustür mit seiner Schulfreitüte, und sein bester Freund Jakob von drei Häusern weiter kam vorbei, der ging zur Einschulung mit seinen Eltern, alle feingemacht. Da haben wir ein Foto gemacht, die beiden Jungs zusammen. Inga: Das war schön. Das war aufregend! Wir haben das genossen. Und im Nachhinein waren wir zu unvorsichtig. Viel zu unvorsichtig, das hat man ja dann gemerkt, aber erstmal war das einfach ein Abenteuer. Freiheit! Sprecherin 2 (Korczak): König Hänschen war noch schlimmer dran als andere Könige, denn Hänschen war doch noch ein Kind. So musste Hänschen statt des guten Weines zwei Gläschen Lebertran trinken, der ihm gar nicht schmeckte. Alles wäre anders gewesen, wenn Hänschen den Verstand seines königlichen Vaters und die Zauber-Tarnkappe gehabt hätte. Dann wäre er wirklich König gewesen, aber so wusste er manchmal selber nicht recht, ob es nicht besser wäre, wenn er als ganz gewöhnlicher Junge auf die Welt gekommen wäre, um in die Schule zu gehen, Seiten aus den Heften herauszureißen und mit Steinen zu schmeißen. Sprecherin 1 (BverfG-Urteil): Soziale Kompetenz, gelebte Toleranz und Selbstbehauptung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind. Die Allgemeinheit hat ein Interesse daran, der Entstehung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken. Integration verlangt auch, dass Minderheiten sich einem Dialog mit Andersdenkenden nicht verschließen. (Beschluss des BverfG von 29.4.03) Theo: Wie ist das denn, bei Jonas, mit Freunden? Mit sozialen Kontakten, vermisst er da gar nichts? Christoph: Du hast ja gesehen, wie viele Kinder da draußen rumspringen. Manchmal ist er ungeduldig, wann es Mittag ist, und Freunde da sind. Aber oft genießt er die Zeit allein. Die Ruhe, die Konzentration. Inga: Da gab es auch eine Phase, da war Jakob auf einmal mit einer Schulfreundin ganz eng. Und Jonas plötzlich außen vor. Da denkt man auch, haben die jetzt die Bindung durch die Schule, und kommt mein Kind da noch dazwischen? Die Zweifel habe ich schon. Immer wieder, weil - du weißt es nicht, letztlich, ob was fehlt. Christoph: Ob Struktur fehlt, manchmal denke ich das, man ist nicht ganz frei von diesem Denken. Theo: Aber wenn Ihr mal über euch hinausdenkt? An andere Schichten - ihr seid sozial privilegiert, aber wenn alle so leben, dann würde sich der soziale Abstand vergrößern. Inga: Ist da so? Ich kenne das Argument, aber ehrlich gesagt? Ich will ja niemand zwingen, schulfrei zu leben. Die wollen mich zwingen, nicht umgekehrt. Christoph: Das ganze ist doch ein Spiel mit gezinkten Karten. Schule, für die sogenannten ?bildungsfernen Familien?. Da ist schon vorher klar, wer verliert. Wie Lotto, wo dir ständig suggeriert wird, du wirst reich, aber natürlich gewinnst du nie. Wer unten einsteigt, kommt in aller Regel auch unten raus, im Schulsystem ? und die Schweinerei ist, dass man jetzt genau das wieder zum Argument dafür macht, dass Schule nötig wäre, weil alles ja so ungerecht ist, und deshalb braucht man Schule, nur die trägt nachgewiesenermaßen zur Ungerechtigkeit bei! Theo: Nachgewiesenermaßen? Was heißt das? Christoph: Das heißt, dass alle Statistiken zeigen, dass die Schüler aus unteren Schichten auch dort bleiben. Schule macht einfach einen Stempel da drauf, der sagt, wir haben's versucht, ist leider nicht mehr rauszuholen, damit erteilt sich die Gesellschaft die Absolution. Es ist ein Betrug! Die haben mal Gesamtschüler untersucht, da kommen ja wirklich mehr zum Abitur als sonst ? aber dann schaut man sich dieselben Leute zehn Jahre später an, und es ist kein Gesamtschuleffekt mehr nachweisbar. Keiner! Die haben sich sozial ganz genau nach der Schicht ihrer Eltern sortiert, wie die Absolventen anderer Schulformen. Theo: Was wäre aber aus Euch geworden, ohne diesen Zwang? Was wärt ihr ohne eure Schulabschlüsse? Inga: Das ist eine so absurde Frage. Die Leute sagen alle, guck mal, ohne Schule wäre ich heute nicht das und das. Klar, wenn das Leben anders gelaufen wäre, wäre es anders! Ich verstehe gar nicht, was das für eine Angst macht! Irgendwie sind alle so überzeugt, so wie es gelaufen ist, so musste es laufen, wieso denn? Theo: Weil man zufrieden ist, vielleicht. Und weil man die meisten Berufe ohne geregelte Ausbildung gar nicht ausüben kann. Christoph: Nein, weil man Angst hat. Angst davor, zu denken, was hätte sein können. Das ist das reaktionäre daran. Die Überzeugung, dass alles eben so sein muss, wie es ist. Sonst könnte es ja vielleicht noch schlimmer sein, also lieber sagen wir Ja zum Istzustand. Das ist die systematische Verhinderung, dass Leute in Alternativen denken. Dazu trägt Schule bei. Dass man die Verantwortung abgibt! Das Gegenteil von Mündigkeit. Inga: Und ich meine, Abschlüsse, die kann man alle ohne Schule machen, extern. Wir kennen auch Jugendliche, die gehen am Ende nochmal ein Halbjahr, ein Jahr dahin, um das dann zu machen ? mir hat mal eine Mutter gesagt, da ging's um den Realschulabschluss, die sah den Stoff und dachte: Wie schafft es die Schule, die Kinder zehn Jahre lang hinzuhalten, bis sie diese lächerliche Prüfung machen dürfen! Jonas Ich hab bei den Wörtern erstmal die Buchstaben angeguckt, dann hab ich mir die Buchstaben gemerkt, und dann hab ich einfach die Buchstaben zusammengesetzt. Aber natürlich musste ich erstmal lernen, dass auch die Buchstaben zusammengesetzt was anderes heißen können, zum Beispiel eu oder ei, oder so. Und so hab ich lesen gelernt! Inga: Ich erinnere mich daran, wenn wir früher eine Freistunde hatten, dann bin ich durch die Innenstadt, was für ein Gefühl das war, dass man irgendwie den vorgesehenen Raum mal verlassen hat. Wenn man dann in anderen Schulen durch die Fenster alle auf ihren Plätzen sitzen sah - das Gefühl, dass man in der richtigen Welt ist, nicht mehr in der künstlichen, dieses Gefühl, wenn wir durch Kaufhäuser zogen oder am Brunnen saßen, dieses Gefühl von, ja, vom echten Leben. Christoph: Jonas? bester Freund, der anfangs stolz war auf seinen Piratenranzen, der wollte bald nicht mehr zur Schule. Das war für uns auch schwierig, weil die Mutter dieses Freundes Stress bekam, weil der einfach sagte, wieso muss ich, wenn Jonas nicht muss, und die hatten jeden Morgen heftige Kämpfe, bis sie überlegte, wegzuziehen, weil sie wirklich verzweifelt war - irgendwann gab der Freund dann auf, und wir waren darüber paradoxerweise froh, weil vielleicht Jonas sonst seinen besten Freund verloren hätte. Jonas: Dann sag ich Mama und Papa immer, guck mal, da steht das und das. Mein Papa sagt, dass ich Profi bin. Im Lesen, und im Rechnen. Das macht mir Spaß. Dann lese ich manchmal Sachen, die irgendwo stehen. Und das macht mir halt Spaß. Inga: Dabei sind Kinder so wunderbar. Das sind schon vor der Geburt soziale Wesen, das ist wissenschaftlich erwiesen, aber in unseren Köpfen steckt immer noch dieses uralte Bild vom bösen, wilden Kind. Wir schleppen da so viel Angst mit uns rum! Christoph: Angst vor freien Kindern. Inga: Ich hab auch manchmal Angst, wie's weitergeht. Aber selbst wenn ich die Zukunft meines Kindes festlegen könnte, ich würd's nicht tun. Das darf ich doch gar nicht, oder? Das ist ein Verbrechen! Ich meine, wem können wir denn vertrauen, wenn nicht unseren eigenen Kindern? Jonas: Das Schwierigste, was ich kann, ist 20 mal 20, nämlich 400. Das hab ich von einem Kollegen von Papa gelernt. Da hab ich erstmal rumgerätselt. Hab ich 20 plus 20 verstanden, und hab 40 gesagt. Dann hat der aber gesagt, 20 mal 20. Dann hab ich durchgerechnet und durchgerechnet, was ist 10 mal 10 und dann das 4 mal ? 400 hab ich dann gesagt. Und das ist richtig. Theo: Ich darf nicht im Detail verraten, wie genau es Christoph und Inga gelungen ist, den Konflikt mit den Behörden aufzulösen. Wie lange das so geht, wissen Christoph und Inga nicht, ebensowenig wie sie herausgefunden haben, wer sie denunziert hat, wie sie es nennen. Sie sind vorsichtiger geworden, reden weniger offen über ihre Meinung zum Thema Schule und Erziehung. Früher lief Hannes gerne nackt auf dem Bürgersteig vor dem Haus herum, im Sommer, wenn es schön warm war; das vermeidet die Familie jetzt: kein Aufsehen erregen, das ist wichtiger geworden. Diesen Preis bezahlen sie, um das chaotische, anstrengende Leben zu führen, für das sie sich entschieden haben. Sind sie dabei glücklicher als andere? Ich weiß es nicht. Christoph: Hannes habe ich geschworen, dass ich ihn nie wieder in irgendeiner Art und Weise wegreiße, oder stoße ? nie wieder. Und das ? ja, das war irgendwie feierlich, er wollte auch was schwören, und hat dann auch seine Hand gehoben und ganz ernst gesagt: Papa, und ich schwöre, dass ? dann fiel ihm nichts ein, und dann hat er geschworen, dass er immer Zähne putzt. Ich habe jetzt einem wichtigen Auftraggeber von mir gekündigt ? weniger Arbeit. Stress rausnehmen, besser auf uns aufpassen. Man hat nur eine Kindheit, das ist mir jetzt viel klarer geworden. Die ist so kostbar. Die kommt nie wieder. Theo: Und seid ihr frei? Ihr redet viel von Freiheit, sind eure Kinder frei? Inga: So frei, wie es geht. Christoph: Ganz frei ist niemand. Das ist so'n Hippietraum, aber wir streiten uns natürlich immer wieder - Inga: Wie die Kesselflicker. Es ist so anstrengend! Man sagt ja immer, in der Schule ist die Reibung so gut, dass man sich an Lehrern reiben kann. Also, Reibung gibt es bei uns genug. ?Frei? sind wir nicht. Aber darum geht?s auch nicht. Theo: Worum geht?s dann? Inga: Vielleicht geht?s darum, dass man selbst bestimmt, wie unfrei man ist. Dass man an diese Grenzen stößt, und dass man immer wieder guckt, wie man die schieben kann. Ich meine, wenn Christoph einen Bürojob hätte, ginge das gar nicht. Christoph: Ich hatte nen Bürojob. Ich hab meinen aufgegeben. Inga. Ja. Das stimmt! Es gibt eine Wahl. Christoph: Jeder hat eine Wahl. Und jeder entscheidet sich mitzumachen. Oder nicht. Sprecherin 1 (König Hänschen): Der fremde König nahm Hänschens Hand, legte sie auf die seine, als wolle er seine große mit Hänschens kleiner vergleichen ? dann streichelte er sie, beugte sich herab und küsste Hänschen die Hand. Hänschen schämte sich auf einmal fürchterlich, aber der König fing an, sehr schnell und leise zu sprechen: ?Hör zu, Hänschen, mein Vater hat der Freiheit ein großes Denkmal errichtet. Morgen wirst du es sehen. Es ist schön, aber was will das schon heißen, wenn es weiter Kriege, Arme und Unglückliche gibt. Weißt du, Hänschen, wir haben es immer falsch gemacht, dass wir den Erwachsenen Reformen geschenkt haben, versuch du es einmal mit den Kindern, vielleicht wird es dir gelingen. ?Na, schlaf schön, mein Kleiner. Du bist hierher gekommen, um dich zu amüsieren, und ich mache dir den Kopf schwer. Gute Nacht.? Absage: Bildung ohne Schule oder Die Grenzen der Freiheit Ein Feature von Theo Horster Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014 Es sprachen: Sigrid Burkholder, Wolfram Koch, Ben Falkenroth, Philipp Schepmann, Susanne Flury, Esther Hausmann, Bruno Winzen, Robert Dölle und Carlos Lobo Ton und Technik: Michael Morawietz und Anna Dhein Regie: Hüseyin Michael Cirpici Redaktion: Karin Beindorff 1