DEUTSCHLANDFUNK ? Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay und Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay und Diskurs Verstädterung 3. Soziale Disparitäten in Bangalore von Klaus Englert Sprecherin: Kerstin Fischer Sprecher: Axel Gottschick Zitator: Hendrik Stickan Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Montag, 05. April 2010, 09:30 ? 10:00 Uhr Sprecher: Shanghai und Neu-Delhi gehören mit ihren 19 Millionen Einwohnern zu den größten und einflussreichsten Megacities der Welt. Doch noch vor einigen Jahrzehnten galt in Indien und China eine völlig andere Zeitrechnung. Mit Ausnahme weniger Millionenstädte waren beide Länder äußerst agrarisch ausgerichtet. Mahatma Gandhi, der sein Land in die Unabhängigkeit führte, war davon überzeugt, das "wahre Indien" sei einzig auf dem Dorf zu finden. Sprecherin: Mao Tse Tung, der selbst bäuerlicher Herkunft war, prägte den chinesischen Kommunismus, dem die Vorstellung vom ländlichen Dorf zugrunde liegt ? als eines Ortes ursprünglicher chinesischer Identität, unbeeinträchtigt durch den westlichen Imperialismus. Die chinesischen Kommunisten schürten ? im Gegensatz zu den sowjetischen Revolutionären in Sankt Petersburg ? antiurbanes Misstrauen. Auch die sozialistische Stadt hatte mit dem Wachstumsfuror heutiger chinesischer Megacities wenig gemeinsam. Denn der Staat setzte auf Industriestädte für die wachsende Arbeiterschaft, nicht auf Konsumentenanreize. Zudem war die Infrastruktur der sozialistischen Städte mangelhaft, und so konnte verhindert werden, dass Wanderarbeiter massenhaft in die industriellen Zentren einzogen. Aber gegen Ende des letzten Jahrhunderts wuchsen die chinesischen Städte plötzlich explosionsartig. Der in den Vereinigten Staaten und China lehrende Stadtforscher Xiangming Chen erklärt ihren Aufstieg: Zitator: "Obwohl die chinesische Geschichte in der Landwirtschaft und in der dörflichen Kultur wurzelt, erreichte die nahe bei Shanghai gelegene Stadt Hangzhou bereits im 13. Jahrhundert eine Einwohnerzahl von 1 Million. Sie war ein lebendiges Wirtschaftszentrum, hier ließ der Kaiser für sich und seinen Hofstaat eine Residenz errichten. Heute leben in Hangzhou die Neureichen wie die Könige. Durch ihr Konsumverhalten förderten sie den wirtschaftlichen boom, der seit 13 Jahren zweistellig steigt. Seit 1999 haben sich die Hauspreise verdreifacht und erreichen das Niveau von Shanghai. Multimillionär-Villen am berühmten West Lake erzielen mittlerweile einen Quadratmeterpreis von über 6.000 Dollar. Unter sämtlichen Megacities wächst Shanghai am schnellsten, das Wirtschaftswachstum steigt jährlich um 15 Prozent. Innerhalb der letzten 15 Jahre investierten ausländische Entwickler in Shanghai 150 Milliarden Dollar. Das hatte zur Folge, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten in Shanghai das Stadtbild dramatischer als in jeder anderen Stadt verändert hat. Als das neue Finanzzentrum Pudong errichtet wurde, stand hier die Hälfte der weltweit im Einsatz befindlichen Baukräne." Sprecher: Der 1976 verstorbene Mao Tse Tung würde sich heute in Shanghai wie auf einem anderen Planeten vorkommen. Früher, zu Maos Zeiten, zeichnete sich die sozialistische Stadt durch garantierte Arbeits- und Lebensbedingungen aus, durch Selbstversorgung der Arbeits- und Wohnkollektive. Das egalitäre Gesellschaftsideal sah weder Wachstumseuphorie noch Konsumentenmentalität vor. Die von den chinesischen Kommunisten begründete Stadt war wie ein unbewegliches Gebilde in stillstehender Zeit. Doch im Verlauf der neunziger Jahre war für diese sich selbst genügsame Stadt die Zeit abgelaufen und aus ihr entstand ? wie mit einem Gewaltstreich - die global city der internationalen Finanzströme und 4.000 Wolkenkratzer. Nun brach abrupt die Zeit ein ? rapide wachsender Autoverkehr und gigantische Bauprojekte, schnelle Wertschwankungen der Geldströme und auf Effektivität getrimmte Arbeitstakte. Aber Shanghai wandelte sich auch zum Ort von Millionen Wanderarbeitern, die in menschenunwürdigen Unterkünften hausten. Sprecherin: Das sind die Schattenseiten der Aufbruchsjahre, die sich bis heute nur wenig geändert haben. Shanghai ist jedenfalls mittlerweile ? das muss Xiangming Chen schließlich zugeben ? die chinesische Stadt mit den größten sozialen Ungleichheiten. Der Rotterdamer Architekt Rem Koolhaas, einer der ersten ausländischen Pioniere in den Zeiten des chinesischen Immobilienwunders, erkundete schon Ende der neunziger Jahre die gewaltigen Stadtumbrüche im südlichen Pearl River Delta, der riesigen Sonderwirtschaftszone unweit von Hongkong. Koolhaas beschreibt einen unbändigen Aufbruchseifer nach Jahrzehnten der Stagnation, übersieht aber nicht die plötzlich sichtbar gewordenen sozialen Disparitäten. Der holländische Architekt schildert, wie Shenzhen von einer Goldgräberstimmung erfasst worden ist, die international agierende developer und Heere mittelloser Wanderarbeiter anlockte: Zitator: "Die Region des Pearl River Delta ist von einer ungebremsten Entwicklung erfasst, die mit einer nie gekannten Schnelligkeit abläuft ( ... ). Es ist erstaunlich, dass zu dieser Ansammlung von Städten jährlich 500.000 Quadratkilometer gebaute Fläche hinzukommen ( ... ). Dabei wird die Architektur in Shenzhen mit religiösem Eifer betrieben. Zwei Drittel der Tagespresse sind der Stadt gewidmet. Jeder Zeitungsartikel preist in tautologischer Manier die einzigartigen Bauwerke und die herausragende Infrastruktur dieser unglaublichen Stadt. Der Immobilienmarkt ist unerschöpflich. Man verhält sich wie Börsianer und publiziert täglich den Wert der 900 Wohntürme ( ... ) Schließlich investiert man in die Gebäude ebenso wie in Aktien. Bei genauerem Hinsehen fallen auch verborgenere Aspekte auf. Neben der offiziell erfassten Bevölkerung entstand eine Parallelwelt, der Menschen angehören, die man hier als Migranten oder Wandervolk bezeichnet." Sprecher: Shenzhen entwickelte sich in den letzten dreißig Jahren von einem Reishüttendorf zu einer 14-Millionen Metropole. Die heutige Megacity profitierte maßgeblich von dem Beschluss Deng Xiaopings, das gesamte Pearl River Delta in eine Sonderwirtschaftszone zu verwandeln. Der einstige kommunistische Weggefährte von Mao kommentierte damals die Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik mit dem lapidaren Satz: "Lasst den Westwind herein. Reichtum ist ruhmvoll!" 1980 legte Deng den Grundstein von Chinas hybridem Kapitalismus, der blühende Immobilienlandschaften am Perlfluss-Delta entstehen lassen sollte. Für die Sonderwirtschaftszonen sowie für Shanghai und dreizehn weitere Küstenstädte wurden eigens die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen liberalisiert. Der Staat lockte mit Steuererleichterungen, verbesserten Ansiedlungsbedingungen und vereinfachten ausländischen Kapitalinvestitionen. In der Zwischenzeit hat die Delta-Region bei Hongkong und Macao eine Bevölkerungsspitze von 48 Millionen erreicht ? genau so viele Menschen leben auf der gesamten Iberischen Halbinsel. Sprecherin: Das Erfolgsrezept von Chinas rotem Kapitalismus wurde auch in Shenzhen angewandt: Halbstaatliche Entwicklungsgesellschaften verpachten den staatlichen Boden an Investoren und erwirtschaften dabei horrende Profite, die in die Staatskasse fließen. Vielversprechend ist der Handel mit Nutzungsrechten, da sie es dem Käufer ermöglichen, in lukrative Immobilienprojekte zu investieren. Auf diese Weise gab es in den letzten Jahren in Shenzhen, Shanghai und Peking ein explosives städtisches Wachstum, das die bekannten urbanistischen Parameter in Europa oder Amerika verblassen lässt. Rem Koolhaas beschreibt die Ziele des staatlichen Entwicklungsplans: Der Masterplan fordert, eine Kleinstadt im Pearl River Delta abzureißen und sie anderorts als Metropole für 5 Millionen Einwohnern wiederaufzubauen: Zitator: "Das Großprojekt Dongguan sieht vor, das Stadtzentrum niederzureißen und weiter nördlich ein neues zu errichten. Herausgekommen ist die größte Phantomstadt, die ich jemals gesehen habe. Das gesamte Zentrum ist unbewohnt, mit Ausnahme eines kleinen Teils, den man "Mätressen-Viertel" nennt." Sprecher: Chinesische Planungspolitik liebt den Gigantismus ehrgeiziger Großprojekte. Der Entwicklungsplan sieht immerhin den Sprung von der Agrargesellschaft in eine entfesselte Moderne vor. Voraussagen gehen davon aus, dass sich binnen fünf Jahren die ehemals dörfliche in eine städtisch dominierte Gesellschaft gewandelt haben wird ? mit einer Milliarde Stadtbewohnern. In zehn Jahren werden 300 Millionen Wanderarbeiter die Städte bevölkern. Die Folge: Die Urbanisierungswelle überschwappt das Land mit der Wucht eines Tsunami und begräbt Dörfer und Felder unter sich. Auf diese Weise werden jährlich 1,5 Prozent des wertvollen Ackerlandes vernichtet ? zum Wohle der mittlerweile hundert chinesischen Millionenstädte, die sich zusehends ins Umfeld ausbreiten. Die aggressivste urbane Expansion betreibt die Megacity Shanghai, die für ihr neues Finanzzentrum Pudong 500 km² Agrarfläche opferte. Staatliche Entwicklungspläne werden in Shanghai mit einer besinnungslosen Schnelligkeit vorangetrieben, angesichts derer sich westliche Architekten nur die Augen reiben können. Als wäre das alles nicht ausreichend, bebaut man in der Küstenmetropole außerdem ein riesiges Erweiterungsgebiet, auf dem eine neue Großstadt mit über fünf Millionen Einwohnern entstehen soll. Rem Koolhaas nennt diese Mentalität: tabula rasa schaffen für den chinesischen Gigantismus. Sprecherin: Auch in Peking ist die aggressive Stadterweiterung unverkennbar, die zwangsläufig mit den bekannten Nebenwirkungen einhergeht: Hochstraßen schlagen breite Schneisen ins Umfeld, Grün- und Agrarflächen weichen der ausufernden Siedlungsmasse, Vorstädte verschmelzen zu urbanen Metastasen, die ihre Tentakeln tief ins Umland ausstrecken. Außerdem droht Peking der ökologische Notstand, denn die CO-2-Emissionen sind sechsmal höher als in den gesamten Niederlanden. Und nicht zu vergessen: Die sozialen Verwerfungen der kapitalistischen Stadtpolitik: Der Neubauwut mussten zahlreiche traditionelle Quartiere weichen - sogenannte Hutongs -, die mit ihren Toren und Tempeln, Höfen und Gassen die typisch chinesische Lebensart über viele Generationen bewahrt hatten. Die verbliebenen dörflichen Viertel künden nostalgieverloren von einer Zeit, die der wirtschaftliche Fortschritt längst überrollt hat. Denn das neue Peking steht heute im Zeichen eines Investoren-Städtebaus, der ausschließlich gemäß der Logik maximaler Flächennutzung tickt. Ausweis dieser neuen Strategie ist ein Entwicklungsplan für Peking, der die jetzige Stadtfläche verdoppeln wird. Sprecher: Der Stuttgarter Stadtforscher Eckhart Ribbeck kommentiert die neuen Entwicklungen des marktorientierten Städtebaus für Peking. Er führte zu Wohnquartieren, die durch Mauern und Tore von der umgebenden Stadt abgetrennt und durch Videokameras kontrolliert werden: Zitator: "Komplette Quartiere werden rücksichtslos in die bestehende Stadtstruktur gesetzt, weil man offensichtlich damit rechnet, dass das alte Umfeld ? meist Altbauviertel ? ohnehin verschwinden wird. ( ... ) Die Stadtpolitik greift kaum in den Segregationsprozess ein, allenfalls wird den Bewohnern der abgerissenen Viertel eine Hilfestellung bei der Beschaffung einer neuen Wohnung gewährt". Sprecherin: Der amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis kommentiert das explosionsartige Wachstum von Luxus-Vororten, die sich seit einigen Jahren auch in Peking ausbreiten: Zitator: "Sogar in China ist die gated community zur wichtigsten Entwicklung in der gegenwärtigen Stadtplanung erklärt worden. Diese Gegenwelten werden häufig als originalgetreue Nachbildungen Südkaliforniens gestaltet. 'Orange County' ist ein umzäuntes Anwesen am nördlichen Stadtrand von Peking mit weitläufigen Häusern, die Millionen von Dollar kosten, entworfen im kalifornischen Stil von einem Architekten aus Newport Beach und eingerichtet von Martha Stewart. Wie ein Repräsentant des Vororts einem amerikanischen Reporter erklärte: 'Für die Leute in den Vereinigten Staaten ist Orange County vielleicht ein Ort, aber in China sind die Menschen der Ansicht, Orange County sei ein Markenname, so etwas wie Giorgio Armani.'" Sprecher: In China sind in den letzten Jahren viele Stadtquartiere hinter gut bewachten Mauern und Schlagbäumen entstanden. Das sind zweifellos die Spuren des neuen Investoren-Städtebaus. Doch immerhin hat man es verstanden, durch politische Regulierungen das Wohlstandsgefälle zu begrenzen. Anders sieht es in den Städten der am wenigsten entwickelten Länder Südostasiens aus. Die Kölner Humangeografin Frauke Kraas fand heraus, dass in vielen asiatischen Megacities abgeschottete gated communities auf informelle, teils illegale Slums prallen, in denen vielerorts bis zu 80 Prozent der Stadtbevölkerung leben. Indien preist sich heute als das Land der Technopole, die sich vornehmlich in Bangalore, Neu-Delhi, Hyderabad, Pune und Chennai angesiedelt haben. Aber auch in diesen Städten hat sich seit den neunziger Jahren, seit dem Siegeszug der neoliberalen Wirtschaftsordnung, ein Teufelskreis durchgesetzt: Steigende Zuwanderung, sinkende Beschäftigung, fallende Löhne ? das ist die ewige Litanei der im Elend versinkenden Megacities. Sprecherin: Deswegen nehmen auch in den indischen boomtowns die Slums überhand. Laut UN-Habitat Report "State of the World Cities" werden von den 500.000 Menschen, die jährlich nach Neu-Delhi ziehen, 400.000 in den Slums enden. Bereits in sechs Jahren, so befürchten Experten, wird Neu-Delhis Slumbevölkerung auf zehn Millionen Menschen angestiegen sein. Das sind die Licht- und Schattenseiten, die Wohlstandsinseln und die Hüttenexistenzen auf dem indischen Subkontinent. Der Schriftsteller Kiran Nagarkar beschrieb vor zwei Jahren seine Heimat Mumbai als eine zweigeteilte Stadt: Zitator: "Seit der Liberalisierung rollen Jahr für Jahr 100.000 Autos mehr durch die Straßen der Stadt. Die Gehälter der Top-Executives sind in den vergangenen Jahren in astronomische Höhen geschnellt; die Aktienwerte steigen fieberhaft; die Immobilienpreise sind inzwischen so hoch wie in Tokio und Manhattan. Und die Wirtschaft wächst mit fast zehn Prozent. Viele internationale Firmen haben hier ihre Dependancen und die, die noch nicht da sind, stehen Schlange, um reinzukommen. Während Malls in anderen Ländern ein suburbia-Phänomen sind, sprießen sie hier mitten im Zentrum aus dem Boden. Fast jede große Automarke hat hier einen Salon, und 2006 hat der erste Rolls-Royce-Showroom eröffnet." Sprecher: Kiran Nagarkar weiß sehr wohl, dass das lediglich die offizielle publicity von Mumbai ist. Deshalb fährt er mit der ganzen Wahrheit fort: Zitator: "Momentan leben in Indien 1,2 Milliarden Menschen. Ungefähr 100 bis 150 Millionen gehören dem Club der konsumfreudigen Mittelschicht an. Der einzige Haken an der Sache ist, dass rund eine Milliarde Menschen von dem herrlichen Konsumkreislauf ausgeschlossen bleiben. Das sind nur die nationalen Zahlen. Leider verschärfen sich die Kontraste noch, sobald man den Fokus auf Mumbai richtet. Die Stadt hat mit allen anderen Megacities gemeinsam, dass es zwei Mumbais gibt, eines für die Reichen und eines für all diejenigen, die die reichen Einwohner am liebsten unter den Teppich kehren würden. Ein Drittel der Bewohner lebt entweder in grauenhaften Slums oder auf den Bürgersteigen. Das sind rund sechs Millionen Leute, von denen die meisten weit unterhalb des Existenzminimums leben." Sprecherin: Das schnelle Wachstum beschränkt sich auf die wenigen indischen Megacities wie Mumbai oder auf die neuen Zentren der IT-Branche. Zugunsten dieser Megalopole und ihrer ausufernden Satellitenstädte gehen jährlich 50.000 Hektar wertvolles Ackerland verloren. Doch diese Tatsache ist selten eine Nachricht in den Medien wert. Berichtet wird dagegen vom rapiden Wachstum der Technopole, man verkündet stolz von den in Bangalore und Mumbai entstandenen townships, die nach außen den luxuriösen Lebensstil der arrivierten Mittelschicht propagieren. In diesen urbanen Enklaven ist die nouveau riche ganz unter sich, verwöhnt durch ein Komplettangebot sozialer Einrichtungen und bestens geschützt durch moderne Sicherungs- und Überwachungsanlagen. Und doch sind diese Städte kaum in der Lage, die deutlich sichtbaren Kehrseiten der Wachstumseuphorie zu kaschieren ? kollabierende Infrastruktur, schreiende Armut in den Slums, dramatisches Bevölkerungswachstum, katastrophale Umweltverschmutzung. Der Schlund zur anderen Welt tut sich bereits an der nächsten Ecke auf. Davon weiß das CRIT-Stadtforschungslabor in Mumbai zu berichten: Zitator: "In Mumbai haben 60 Prozent der Einwohner keinen Zugang zu eigentlichen Wohnungen. Sie existieren in Zwischenräumen ? an Straßenecken, Abwasserkanälen, auf Eisenbahngeländen, auf unerschlossenen Grundstücken oder auf dem Straßenpflaster. Neue Formen, das Alltagsleben zu bewältigen, werden erfunden ? die Menschen leben in Röhren, unter Plastikabdeckungen oder in Häusern, deren Wände aus leeren Tonnen bestehen. Ihre Arbeitsplätze finden sich unter Treppen, in Wandschränken, über öffentlichen Toiletten; ganze Produktionseinheiten sind in Slums und entsprechend in 'ökologisch sensiblen' Zonen untergebracht." Sprecher: Der UN Habitat-Report veröffentlichte eine Dokumentation über Bangalore, das sich gerne mehrerer Superlative rühmt. Die 6 Millionen-Stadt brüstet sich damit, sie sei die am schnellsten wachsende indische Metropole, Heimat der meisten Dollar-Millionäre und Superreichen, tropische Gartenstadt mit prächtig blühenden Parklandschaften und beliebtes Rentnerparadies. Und nicht zu vergessen: Bangalore wird gerne "India's Silicon Valley" genannt. 500 Firmen der internationalen IT-Branche sind hier ansässig und tragen zu einem beträchtlichen Wachstum bei, das in diesem Jahr einen Umsatz von 50 Milliarden Dollar erreicht haben wird. Schließlich: Bangalore ist die einzige Stadt eines Entwicklungslandes, die zu den top ten der weltweit wichtigsten IT-Zentren aufgeschlossen hat. Sprecherin: Der UN Habitat-Report beklagt allerdings schlecht ausgebaute Straßen auf dem "Silicon Plateau". Zudem kontrastiere die Skyline der Appartmenttürme und Bürohochhäuser mit der daniederliegenden Infrastruktur. Bangalore leistet sich weder Straßenbahnen noch eine Metrolinie, dafür aber voll gestopfte und überaltete Busse. Hinter so mancher glitzernden Fassade einer internationalen IT-Firma gibt es nur unzureichende Wasser- und Stromversorgung. Zumeist behilft man sich mit Notstromaggregaten, die die Luftverschmutzung Bangalores noch weiter verschlimmern. Sprecher: Solomon Benjamin, Stadtforscher am National Institute of Advanced Studies in Bangalore, wurde von UN Habitat beauftragt, die sozialen und urbanen Missstände seiner Heimatstadt zu untersuchen. Er fand heraus, dass Bangalore, ebenso wie Mumbai, aus zwei Städten besteht ? einer für die Reichen und einer für die Armen: Zitator: "Die local economy versorgt die Bevölkerung, sie richtet sich an die armen Schichten. Sie bildet sich in den Nischen heraus, die von den herrschenden Wirtschaftsformen und Besitzverhältnissen frei gelassen werden. Die corporate economy umfasst die gesamte IT-Branche, für die Bangalore bekannt ist. Diese Wirtschaft ist eng mit staatlichen Einrichtungen oder Agenturen verflochten, die die städtische Entwicklung kontrollieren und erleichterten Zugang zu staatlichen Subventionen haben. Arme Schichten sind also stark benachteiligt, wenn sie Land erwerben, Dienstleistungen beanspruchen oder die städtische Infrastruktur benutzen wollen." Sprecherin: Solomons Kollegin Asha Ghosh bestätigt, dass Bangalores lieb gewonnenes Bild einer einflussreichen Technopole die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt ignoriert. Während sich die Eliten bestens mit institutionellen Abläufen auskennen und ambitionierte Großprojekte starten, bleibt den Armen die informelle Wirtschaft - der Mikrokosmos von Tauschhandel und Dienstleistung. Solomon Benjamin fügt hinzu: Das Leben der Armen ist täglich bedroht, denn sie können niemals sicher sein, in ihrer Hüttensiedlung bleiben zu können. Benjamin weist darauf hin, dass die mächtige Agenda Task Force, die alle stadtplanerischen Entscheidungen trifft, selbstverständlich die Interessen der Großunternehmen vertritt: Zitator: "Dem Eifer der politischen Elite, Bangalore in ein Singapore zu verwandeln, folgten umfassende Räumungen und der Abriss von Siedlungen, vor allem von Kleingewerbekonzentrationen, in rentabler städtischer Lage. Das zerstörte Gebiet wird entsprechend eines Masterplans an einkommensstarke Interessensgruppen wie Großunternehmen neu verteilt." Sprecher: Bangalore rühmt sich, den Lebensstil von Palo Alto und Sunnyvale in seinen reichen Vororten kopiert zu haben. Stadtforscher Solomon Benjamin berichtet, wie sich die oberen Schichten dort eingerichtet haben: Sie bevorzugen exklusive Wohnkomplexe im Farmhausstil, Apartmentblocks mit eigenen Swimmingpools und Wellnessclubs, inklusive garantierte persönliche Sicherheit und 24-Stunden-Notstromversorgung. Mike Davis resümiert, wie die zwei Welten im sonnenverwöhnten Bangalore immer mehr auseinander fallen: Zitator: "Als Hauptsitz von Indiens Software- und Computerunternehmen und als Zentrum der militärischen Luftfahrzeugindustrie rühmt sich die Sechs-Millionen-Stadt Bangalore ihrer Einkaufszentren im kalifornischen Stil, ihrer Golfplätze, Nouvelle-cuisine-Restaurants, Fünf-Sterne-Hotels und englischsprachigen Kinos. ( ... ) Im Laufe der Zeit haben drakonische städtische Sanierungsprogramme die unterpriviligierten Bewohner aus dem Zentrum in die Slumperipherie vertrieben, wo sie Seite an Seite mit armen Migranten vom Lande leben. Nach Schätzungen wohnen zwei Millionen arme Menschen, viele davon verachtete Mitglieder der unteren Kasten, in etwa tausend übel riechenden Slums auf meist staatseigenem Land. Die Slums wachsen doppelt so schnell wie die Gesamtbevölkerung, und Forscher haben den Stadtrand von Bangalore als 'Abstellplatz für jene Stadtbewohner' beschrieben, deren Arbeit in der städtischen Wirtschaft zwar gebraucht wird, deren 'Sichtbarkeit aber auf das Nötigste reduziert werden soll'. Der Hälfte der Bevölkerung fehlt Leitungswasser und es gibt 90.000 Lumpensammler und Straßenkinder." Sprecherin: Das ist die Realität in der 'prosperierenden Gartenstadt' Bangalore. Doch das Sozialgefälle in den anderen boomtowns, die von der hausse der Informationstechnologie profitierten, ist ähnlich niederschmetternd. So entstand an der Peripherie Hyderabads das neue Viertel Cyberabad, wo zahlreiche internationale IT-Firmen ihre himmelwärtsstrebenden landmarks auf einem Areal von 52 km² errichteten. Natürlich dürfen auch nicht großflächige, abgeschottete Apartment- und Villensiedlungen fehlen. Beispielsweise das Viertel Lanco Hills, eine riesige Wohn-, Arbeits- und Freizeit-Enklave für insgesamt 150.000 Beschäftigte. Doch direkt neben diesen Luxussiedlungen breiten sich bereits die Slums aus, wo 40 Prozent der Einwohner Hyderabads ohne Abwasserleitungen hausen. Der Mangel ist in der berühmten Technopole allgegenwärtig: Wasser und Strom werden rationiert, öffentliche Schulen sind kaum vorhanden, Neuplanungen führen oft zu Zwangsumsiedlungen. Sprecher: Indische Politiker brüsten sich auch gerne mit der Cyber-City Gurgaon, einer großen Satellitenstadt von Neu-Delhi. Gurgaon, das sich mit dem Titel "Millenium City" schmückt, besitzt den zweifelhaften Ruf, die Welthauptstadt der Callcenter zu sein. In dieser vollständig privat finanzierten New Town, in der immerhin 600.000 Menschen leben, sind öffentliche Verkehrsmittel Fehlanzeige. Neu-Delhi konnte es sich allerdings leisten, vor einigen Jahren den größten nordindischen Slum abzureißen. Selbstverständnis wird jetzt an dem begehrten Standort im Stadtzentrum der Central Business District hochgezogen. Der obligatorische Themenpark ist bereits eröffnet. Sprecherin: Der Freiburger Humangeograf und Indien-Experte Christoph Dittrich verweist darauf, dass die wirtschaftlichen Boomjahre eine Million neue Millionäre hervorbrachten. Aber zu jeder Sonnenseite gehört in Indien auch eine Schattenseite: In der leben 56 Millionen neue Arme. Tendenz steigend. Denn die Wirtschafts- und Finanzkrise hat zahllose gut verdienende Informatiker und Programmierer aus ihren sicher gewähnten Arbeitsplätzen entlassen. Dittrich kommentiert: Zitator: "Die 'Schere' zwischen Reich und Arm wird groß bleiben. Indien ist eines der Länder, wo die soziale Kluft besonders ausgeprägt ist. Hier leben 25 Dollarmilliardäre, große Tycoone und große reiche Industriellenfamilien, die sagenhaft reich sind. Der Anteil der Millionäre und Milliardäre am indischen Bruttoinlandsprodukt liegt bei einem Drittel und die große Masse der 1,2 Milliarden Inder kann dazu nur wenig beitragen ( ... ) Inzwischen wohnen in den Slums nicht nur Armutsgruppen, sondern auch Angehörige der unteren Mittelschichten, also zum Beispiel Lehrer in staatlichen Schulen, Köche in Luxushotels. In Mumbai leben etwa 60 Prozent der Bevölkerung in prekären Lebensverhältnissen." Sprecher: In Indien bedeutet globale Verstädterung nicht nur progressive Zerstörung wertvollen Ackerlandes, sondern auch Verschärfung sozialer Ungleichheiten. Das ist das Gesetz vieler Megacities: Die Metropolen der Entwicklungsländer, zumal der asiatischen boomtowns, verfallen zumeist darauf, die Fehlentwicklungen amerikanischer Städte zu kopieren: Gated communities für die happy few, Ghettos für die Verdammten dieser Erde; Konsumtempel und Themenparks für die Mittelklasse, Wellblechhütten für die Armen. Die alte europäische Tradition der kompakten Stadt ? die Stadt der öffentlichen Freiräume, des Zusammenlebens verschiedenster Gruppen ? mag für die wuchernden Megacities in Lateinamerika und Asien eine allzu ferne Utopie sein. Trotzdem empfiehlt sie der Amerikaner Mike Davis als soziales Regulativ für die boomenden Megacities: Zitator: "Städte dürfen nicht einzelne Gruppen ausgrenzen, sondern müssen alle einbeziehen. Und das bedeutet, Wohlstand und Macht müssen zu einem bestimmten Punkt wieder verteilt werden. Ich glaube, die große Herausforderung ist es, Städte zu bauen, die gerechter und auch in einem klassischen Sinne urbaner sind - wie man es einst in Europa im Mittelmeergebiet entwickelt hat. ( ... ) Städte sind die Lösung für die ökologische Krise. Sie sind die einzige Möglichkeit, die wir haben, um in einer nachhaltigen Beziehung mit der Natur auf diesem Planeten zu leben. Städte sind, ökologisch gesehen, sehr effiziente Formen von Siedlung. Städte können privaten Luxus schaffen ( ... ) Aber anstelle von Städten bauen wir Vorstädte." Sprecherin: Die asiatischen und lateinamerikanischen Megacities sind dichte Sparstädte. Mit geringen Ressourcen halten sie die Menschen über Wasser, wenngleich unter prekären Bedingungen. Diese Städte mögen an ihrer Umweltverschmutzung ersticken, sie mögen sich aufgrund katastrophaler Infrastruktur lahm legen. Nachhaltiger Stadtumbau ist in Peking oder Bangalore, im Gegensatz zu einigen lateinamerikanischen Großstädten, allenfalls rudimentär vorhanden. Und demokratische Stadtgestaltung ist vielerorts ein nie gehörtes Fremdwort. Und dennoch: Die Zukunft unseres verstädterten Planeten liegt in den großen und sehr großen Städten. Daran ermisst sich, ob das Experiment Megastadt gelingt. 15