Deutschlandradio Kultur Zeitfragen 15.10.2012, 19.30 Uhr "Wir sehn uns vor Gericht!" Zur Verrechtlichung des Sozialen und Politischen Von Conrad Lay Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) DeutschlandRadio Musik: O-Ton: 1 Frankenberg "Bei uns wird alles auf die Gerichte abgewälzt, alle Fragen, wenn der Urlaub schlecht gelaufen ist, wenn es geregnet hat, das ist glaube ich auch eine sehr deutsche Eigenschaft." O-Ton: 2 Socha "Ich kann nicht sehen, dass die Justiz in den Bundesländern aus sich heraus diesem Ansturm in irgendeiner Weise Herr werden kann, ohne dabei faires Verfahren, Rechtsstaatlichkeit oder ähnliche Dinge zu opfern." O-Ton: 3 Wimmer "Die Aufgabe, die in solchen Fällen ein Anwalt wahrnimmt, könnte jeder andere Mediator, der außerhalb dieses Systems Schule und Eltern sich bewegt, auch wahrnehmen." Zitator: "Wir sehn uns vor Gericht" Zur Verrechtlichung des Sozialen und Politischen Von Conrad Lay O-Ton: 4 Socha "Wir beobachten eine konstante Menge an Verfahren, die möglicherweise bei Gerichten nicht so gut aufgehoben sind. Sprecher: Ingo Socha, Abteilungsleiter beim Familiengericht in Lübeck. Er kann sich über zu wenig Arbeit nicht beklagen. O-Ton: 4 Fortsetzung Da gibt es ein paar Vorschriften, insbesondere das sog. Gewaltschutzgesetz, das ist ein relativ neues Gesetz, das wir seit 2002 haben, das gemacht ist für diejenigen, die in einer persönlichen Beziehung Gewalt oder ernsthafte Bedrohung mit Gewalt erfahren - das ist gemacht, dass es niederschwellig ist, damit diese Leute schnell zu Gericht kommen können, es wird aber möglicherweise auch missverstanden, um nicht zu sagen: möglicherweise missbraucht, um Dinge zu regeln, die man eigentlich nicht vor Gericht regeln sollte oder die vor Gericht nicht gut aufgehoben sind." Sprecherin: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat zwar die Gesamtzahl der Zivilrechtsverfahren in den vergangenen 15 Jahren nicht zugenommen, wohl aber die Zahl der an Familiengerichten anhängigen Verfahren. Die Auseinandersetzungen nach dem Gewaltschutzgesetz sowie dem Lebenspartnerschaftsgesetz haben sich sogar auf über 400.000 verdoppelt. Sprecher: Richter Socha bekommt das ganz unmittelbar zu spüren: O-Ton: 5 Socha 1'31 "Ich hatte vor einige Zeit einen Fall, da stritten zwei Väter miteinander, zwei Väter von Schulkindern, der zugrundliegende Konflikt war so, dass die Schulkinder sich auf dem Pausenhof ein bisschen gebeult hatten, gehauen hatten. Es waren keine wirklich ernsthafte Verletzungen dabei entstanden, aber es war natürlich unangenehm für beide Seiten. Daraufhin hat der eine Vater dem anderen wutentbrannt auf den Anrufbeantworter gesprochen: 'Wenn du noch mal mit meinem Jungen oder wenn Ihr Kind noch mal meinen Jungen in einer Weise angeht' und dann folgten wüste Beschimpfungen. Das wiederum führte dazu, dass der so beschimpfte Vater sich unmittelbar an das Gericht gewandt hat, und verlangt hat, der andere möge es unterlassen, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln Kontakt aufzunehmen." Sprecher: So lautet die juristische Formel, die das Gewaltschutzgesetz seit zehn Jahren möglichen Gewaltopfern zur Verfügung stellt. Und dieser Formel bediente sich der Vater, dessen Sohn sich geprügelt hatte: O-Ton: 6 Socha ca. 2'30 "Das klingt natürlich ganz bombastisch. Dieser Fall zeigt, dass es in dem vorgerichtlichen Bereich bereits an Eskalationsstufen fehlt. Wenn man ein bisschen zurückguckt und auch in die Rechtssoziologie und andere Sparten reinguckt, würde man eher zu dem Ergebnis kommen, dass hier das im Rahmen der Familie, im Gespräch zwischen diesen beiden Jungen, zwischen den beiden Vätern, möglicherweise unter Zuhilfenahme der Schule und anderen Vertrauenspersonen gelöst werden könnte, und diese Eskalationsstufen treffen wir immer seltener an. Das kann ich im Grunde gar nicht gut erklären, aber die Eskalation, die dann gesehen wird, die einzige, die dann gesehen wird, ist eben der Gang zum Gericht." Zitator: "Jeder, der die Führung der Staatsgeschäfte zu erlangen glaubt, bekommt eine Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt wie einen Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat." Sprecherin: Schon zur Zeit der Weimarer Republik hatte Otto Kirchheimer kritisch bemerkt, dass sich durch die Verrechtlichung sozialer Konflikte die Justiz zu einer Rechtsmaschinerie weiterentwickle. Kirchheimer war ein sozialdemokratischer, jüdischer Rechtswissenschaftler und Politiker, der während des Nationalsozialismus nach Paris und weiter nach New York fliehen musste. Auf ihn geht die Rede von der "Verrechtlichung" zurück. Sprecher: Natürlich wird ein Konflikt, den man der Justiz übergibt, von dieser nach juristischen Gesichtspunkten behandelt. Das heißt es setzt beim Juristen sofort eine sog. "Subsumptionsmaschine" ein, wie Ingo Socha das nennt. Und die funktioniert so: Der Jurist sucht sich aus einem komplexen Sachverhalt jene Teile heraus, die unter eine gesetzliche Vorschrift passen könnten. Familienrichter Socha: O-Ton: 7 Socha 3'51 "Da schmeißt er oben rein, was er braucht und guckt, ob das alles passt, ob man alle Puzzlestücke zusammensetzen kann, und dann kommt das gewünschte Ergebnis am Ende raus. Daraus folgen im Grunde zwei Dinge: zum einen behandeln wir die Sachen in der Sprache des Rechts, d.h. aus der Mutter, dem Vater, der Ex-Freundin wird plötzlich die Antragstellerin, der Kläger und der sagt auch nicht: 'der soll mich nicht mehr anrufen', sondern der sagt dann: er möge es unterlassen mithilfe von Fernkommunikationsmitteln Kontakt zu mir aufzunehmen. Das klingt dann natürlich schon mal viel bombastischer. Diese Vorgangsweise, die wir Juristen eben nun mal haben, führt auch dazu, dass von dem Streit ein großer Teil ausgeblendet wird, d.h. wir suchen nur nach den Punkten, die in unseren gesetzlichen Vorschriften passen und schauen, ob wir das Puzzle zusammensetzen können. Wir erforschen aber nicht den ganzen Lebenssachverhalt, der uns da vorgetragen wird." Sprecherin: Da ein Teil des Hintergrundes ausgeblendet wird, werden solche Streitigkeiten von Familiengerichten oft nicht besonders nachhaltig bearbeitet: es gibt zwar einen Gerichtsbeschluss, doch der kann nur kurzfristig Frieden schaffen, weil die zugrundeliegenden Probleme nicht angegangen werden. Die Konflikte schwelen untergründig weiter, das nächste Verfahren könnte schon vorprogrammiert sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Gerichte offenbar nicht mehr als ferne Obrigkeit wahrgenommen werden, an die man sich nur in höchster Not zu wenden wagt, sondern als Ausweichort, an dem alle Konflikte gelöst werden sollen, die anderweitig nicht bewältigt werden können. Sprecher: Bereits im Jahr 1980 hatte der Publizist Robert Leicht festgestellt: O-Ton: 8 Leicht "Die Parole von der schlimmen Verrechtlichung unserer Lebensverhältnisse ist zunächst ein Überdruss- und Überfluss-Phänomen. Man braucht nur über den Dunstkreis unseres allgemeinen Wohllebens hinauszublicken, und dazu muss man nicht einmal die Landesgrenzen überschreiten, um auf Menschen und Gruppen zu stoßen, denen eine solche Diskussion als schierer Luxus erscheint." Sprecher: Auch Familienrichter Socha sieht die Banalisierung der Justiz kritisch: nicht wenige Bürger würden sich an Gerichte wenden, weil sie hofften, auf diese Weise einer konkreten Auseinandersetzung innerhalb der Familie oder der Nachbarschaft aus dem Wege gehen zu können. Mangelhafte Kommunikation ist in einem solchen Fall eine der Ursachen für die Verrechtlichung alltäglicher Konflikte. O-Ton: 9 Socha 6'31 "Ich habe den Eindruck, dass von diesen Personen das Gericht schon als Dienstleister betrachtet wird. Ich möchte dazu ein Beispiel geben, eine Situation, die sich neulich auf dem Gerichtsflur ereignete: es kam eine Antragsstellerin, die eine Gewaltschutzanordnung nach § 1 des Gewaltschutzgesetzes erwirken wolle, und die Kollegin, die mit der Sache befasst war, hat dann das Ganze so ernst genommen und gesagt, 'warten Sie doch bitte, ich bearbeite das jetzt und möglichwerweise können Sie sogar eine Beschlussausfertigung in einiger Zeit mit nach Hause nehmen'. Und die beste Freundin war mitgekommen, und als dann die Antragsstellerin ihren Beschluss hat überreicht bekommen mit Brief und Landessiegel, wie das so üblich ist, da glänzten bei der andern die Augen, die sagte: 'Ich möchte auch so eine Anordnung haben', und fing an, völlig unvermittelt der Kollegin ihren Lebenssachverhalt, der bislang überhaupt noch nicht erörtert war, auf dem Gerichtsflur vorzutragen, mit dem Ansinnen, die möge nun mal schnell auch so ein wunderbares Dokument für sie aufsetzen." Zitator: "Die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen von außen in die Lebenswelt - wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft - ein und erzwingen die Assimilation." Sprecherin: Schreibt Jürgen Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" aus dem Jahr 1981. Der Sozialphilosoph beklagt darin "die wachsende Verrechtlichung der Lebenswelt": das Recht habe sich von einem notwendigen Emanzipationsinstrument zu einer Krake entwickelt, die sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu erfassen drohe. Zitator: "Aus dieser Perspektive heraus muss alles, was nicht in den Formen des modernen Rechts konstitutiert ist, als formlos erscheinen". Sprecherin: Verrechtlichung - so Habermas - sei ein typisches Beispiel für die "Kolonisierung der Lebenswelt". Als eines seiner Negativbeispiele zieht der Sozialphilosoph das Schulrecht heran, das von vielen Eltern und Schülern in Anspruch genommen werde. Der damit beabsichtigte Schutz vor Willkür werde "mit einer tief in die Lehr- und Lernvorgänge eingreifenden Justizialisierung und Bürokratisierung erkauft". O-Ton: 10 Wimmer "Also ich sehe erstmal diesen immer unterstellten Unterschied zwischen Vernunft und Recht nicht." Sprecher: Ernst-Georg Wimmer ist auf Schulrecht spezialisierter Rechtsanwalt in Frankfurt am Main. Acht Jahre lang war er selbst Studienrat gewesen, kehrte dann aber nach Konflikten mit den Schulbehörden der Schule den Rücken und wurde Anwalt. O-Ton: 11 Wimmer "Eine rechtliche Argumentation, die vernünftig und verhältnismäßig ist, wird ja der pädagogischen nicht so furchtbar fern sein." Sprecher: Wimmer erinnert sich, dass die Verrechtlichung der Schule Anfang der siebziger Jahre einsetzte: Damals habe das Bundesverfassungsgericht die Rechtsfigur des "besonderen Gewaltverhältnisses" aufgegeben, auch die Schule sei seitdem ein Rechtsverhältnis. Ernst-Georg Wimmer kann dieser Rechtssprechung durchaus Positives abgewinnen: O-Ton: 12 Wimmer "Das Augenmerk auf die Grundrechte der Schüler war nicht so besonders gesetzt. Unter dem Deckmantel der Pädagogik verschwindet ganz leicht die Rechtsperson." Sprecher: Den durch das Urteil des Verfassungsgerichts ausgelösten Hauptunterschied fasst der Anwalt in einem einzigen Satz zusammen: O-Ton: 13 Wimmer "Man darf nicht mehr prügeln." Sprecherin: 40 Jahre nach diesem Urteil und 30 Jahre nach der kritischen Veröffentlichung von Jürgen Habermas ist ein zwiespältiges Ergebnis dieses Verrechtlichungs-schubs erkennbar: Die Institution Schule hat im Rahmen ihrer Verregelung an Autorität verloren; viele trauen ihr eine Regelung der Konflikte nicht zu, sondern wenden sich gleich an die Gerichte. Parallel dazu schlagen die Unterschiede der sozialen Herkunft durch: Während die einen Eltern sich nur gering um ihre Kinder kümmern, versuchen andere, einen möglichst guten Schulerfolg ihres Nachwuchses notfalls mit dem Rechtsanwalt zu erzwingen. Sprecher: Statt die Sprechstunde des Klassenlehrers aufzusuchen, beschweren sich solche Eltern gleich bei der Schulleitung und lassen beiläufig die Drohung einfließen, man scheue auch den "Gang zum Anwalt" nicht, wie Rechtsanwalt Wimmer weiß: O-Ton: 14 Wimmer 1'46 "Das ist eine Drohung, die gibt es immer wieder, in der Regel eigentlich von schwach positionierten Eltern, die dann mit der Keule des Rechtsanwaltes drohen. Früher hat man gesagt, ich habe Beziehungen, jetzt taucht der Rechtsanwalt da auf." Sprecherin: Angestachelt durch Rechtsratgeber nach dem Motto "So machen Sie sich stark für Ihr Kind" erstattete etwa eine Mutter einer Schülerin der sechsten Klasse Anzeige gegen eine Lehrerin wegen Körperverletzung. Die Begründung der Mutter: die Lehrerin habe keine generelle Erlaubnis erteilt, während des Unterrichts auf die Toilette zu gehen. Sprecher: Für Ernst-Georg Wimmer ist das Verbot des Toilettenbesuchs während einer Klassenarbeit in der Tat nicht so einfach zu beurteilen: O-Ton: 15 Wimmer Ist schwierig, verbieten ist nicht einfach. Man kann sich ja vorstellen, dass da erhebliche Rechte des Schülers betroffen sind, und eigentlich müsste sie oder er eine Vorsorge treffen, um die Aufsichtspflicht, die sie auch hat gegenüber der Arbeit, Betrugsversuch und sowas, das zu bewerkstelligen - im Zweifelsfall muss sie im Rektorat anrufen, und es soll einer mitgehen." Sprecher: Im konkreten Fall stellte die Staatsanwaltschaft zwar das Verfahren mit der Begründung ein, jeder Schüler der sechsten Klasse müsse in der Lage sein, "seinen Harndrang bis zu den Pausenzeiten zu kontrollieren". Immerhin zeigt der Fall, welche Blüten eine auf die Spitze getriebene Verrechtlichung treiben kann. Rechtsanwalt Wimmer: O-Ton: 16 Wimmer 2'13 "Die Schule tut sich sehr schwer in der Regel mit Rechtsanwälten, weil es für sie eine lebensfremde Wirklichkeit ist, die Rechtskenntnis unter Lehrern relativ gering verbreitet ist, weil sie schon aus ihrem Lehrerbewusstsein - und ich war das selbst mal - über die Mythologie der Pädagogik ein wenig von dem rechtsfreiem Raum, den es früher einmal in der Schule gegeben hat, beibehalten haben und betrachten es eigentlich als eine Zumutung, wenn ein Rechtsanwalt auftaucht und etwa ihre Korrekturen überprüft, das wird als 'ne Zumutung angesehen, das ist aber nicht anders im ärztlichen Bereich." Sprecher: Zwar könne man, wenn man nur genau genug sucht, immer mal wieder einen Fehler eines Lehrers feststellen, andererseits habe aber die "Angst vor Rechtsanwälten" abgenommen: O-Ton: 17 Wimmer "Im Schulbereich, bei allen Dingen, sowohl bei der Bewertung von Leistung oder der Bewertung von Ordnungsmaßnahmen haben die Lehrer in der Regel einen relativ hohen Ermessensspielraum, an dem man juristisch sowieso nicht rankommt. / 3'20 Es gibt ganze Bereiche, die praktisch der Überprüfung entzogen sind, wie mündliche Prüfungen, da ist niemand anwesend, der Zeuge sein kann, die Protokollpflicht ist gering ausgeprägt, da kommt man anwaltlich sehr schwer ran." Sprecher: Der Rechtsanwalt hatte auch schon mit Fällen zu tun, in der er eine Prüfungsanfechtung durchaus für geboten hielt. O-Ton: 18 Wimmer "Es gibt ja auch solche Fälle, wo es wirklich stinkt. Es gibt einen Mathematiklehrer am Gynmasium, in dessen Kurs, Abiturkurs, wieder fünf Schüler mit Null Punkten gewertet wurden. Das ist so auffällig, dass man sich fragen muss, ob da irgendwas nicht stimmt." Sprecher: Treten Eltern tatsächlich den Gang zum Anwalt oder Gericht an, dann liegt nach der Erfahrung von Ernst-Georg Wimmer meist eine Kommunikationsstörung vor - ähnlich wie in den Familienkonflikten von Ingo Socha: O-Ton: 19 Wimmer "Da fallen häufig keine spezifisch rechtlichen Probleme an, sondern es ist eine Art dritte Instanz, die argumentativ mitbeteiligt ist. Weil sich häufig die Schule und die Eltern schon festgezogen haben, wenn es zu so einer Situation kommt und sie sich eigentlich nicht mehr zuhören, sondern bereits festliegende Urteile und Ängste haben, und dann passiert eine Einschaltung des Anwaltes." REGIE Bitte MUSIKAKZENT einsetzen Sprecherin: Macht sich in den Schulen, aber auch in Kindergärten, Arztpraxen und Krankenhäusern eine Absicherungsmentalität breit nach dem Motto: Hauptsache, keine Fehler machen? Sprecher: Bernd Hontschik ist Chef einer großen, chirurgischen Arztpraxis in Frankfurt am Main. Er hat in den vergangenen 30 Jahren erlebt, wie sich die Verrechtlichung mittels Standardisierung und ärztlicher Leitlinien durchgesetzt hat. Hontschik berichtet von einer Patientin, deren Oberarm aufgrund eines Sturzes angebrochen war. Er zögerte jedoch zunächst mit einer Operation, da er aufgrund des Zustands der Patientin mit Komplikationen danach rechnete. Stattdessen riet er zu Krankengymnastik, die jedoch keinen Besserung brachte. Nach drei Monaten zog er einen Kollegen zurate, der meinte, man könne das Risiko einer Operation in diesem Fall eingehen. In der Tat besserte sich der Zustand des Armes nach der Operation. Bernd Hontschik erinnert sich an die Patientin: O-Ton: 20 Hontschik "Ungefähr ein halbes Jahr später hatte ich einen Brief von ihr im Kasten von ihrem Anwalt, ich habe eine notwendige Operation schuldhaft verzögert, zitiert werden die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, wie ich hätte mit einer solchen Operation umzugehen gehabt. Dann kam es zu einer Auseinandersetzung vor Gericht, die dann letztlich mit einem Vergleich geendet ist, da hat man ja als Arzt keinen Einfluss darauf, das führt ja die Versicherung, und ich habe mich wahnsinnig geärgert. Ich hatte das Gefühl: ja Leute, wofür braucht ihr mich denn eigentlich noch? Guckt doch selber in die Leitlinien, und dann ruft ihr die Therapie ab, die ihr haben wollt, und fertig. Wenn man jede Oberarmfraktur dieser Konstellation operieren muss, dann werde ich nicht mehr gebraucht. Dann braucht man einen Röntgenarzt, der sagt soundso, und dann gleich ab in den OP. Ärztliche Arbeit stelle ich mir anders vor." Sprecher: Nach Meinung des Chirurgen hat sich der ärztliche Handlungsspielraum mit Einführung der Leitlinien enorm eingeschränkt: O-Ton: 21 Hontschik 5'50 "Also man könnte sagen, ich müsste ab sofort eigentlich bei jeder Oberarmfraktur zusammenzucken und Angst haben, dass ich jetzt nicht auf meine jahrzehntelange ärztliche Erfahrung aufbaue, auf das, was man mir beigebracht hat, auf das, was ich gesehen habe, sondern dass ich das genau nach der Leitlinie so und so und nicht anders behandele." Sprecher: Bernd Hontschik sieht sehr wohl, dass die Standardisierung dazu diente, sich rechtlich abzusichern. Der Sterilisationsraum seiner Praxis hat sich in ein High-Tech-Zentrum verwandelt, in dem jeder einzelner Handgriff dokumentiert wird. O-Ton: 22 Hontschik 7'34 "Es hat immer zwei Seiten. Also ich glaube, ich habe früher vor 10, 15 Jahren, oder sagen wir vor 20 Jahren, manchmal in Arztpraxen reinschauen können, und es hat mich geschaudert. Es gab da schon ein Problem, was man lösen musste, ein Hygieneproblem, auch in chirurgischen Arztpraxen. Nur die Lösung ist letztlich mit einem großen, bürokratischen Aufwand, einem großen technischen Aufwand und einer Verrechtlichung der ganzen Angelegenheit verbunden, die aus meiner Sicht nicht viel gebracht hat außer einem großen Aufwand für alle Beteiligte." Sprecher: Hontschik hält viel von den Schlichtungsstellen den Ärztekammern. Richter dagegen sieht er tendenziell als überfordert an, eine Entscheidung zu fällen. O-Ton: 23 Hontschik "Die Richter tun mir alle leid, muss ich sagen. Weil die Medizin ist nun mal kein durchgetaktetes Industriegeschäft, auch wenn sie sich immer mehr dazu entwickelt, es ist ein individuelles Geschäft. Ein Vorgang zwischen zwei Menschen, der immer wieder sich anders gestaltet, und da kann man wirklich - das ist ja ein Prozess, das ist ja nicht ein Moment, ein erstarrter, sondern ein Prozess, und da kann man bestimmte Stellen, in dem Prozess finden, da kann man das so sehen, und ein bisschen später in der Entwicklung kann man's genau andersrum sehen. Da sind die Richter dann zwischen zwei Gutachtern hin und hergerissen, die sagen das Gegenteil voneinander, was soll der arme Richter jetzt machen? / Im Grunde genommen ist das Gericht nicht der richtige Ort, das zu klären, ohne dass ich gleich sagen würde, es gehört woanders hin. Diese Gutachter- und Schlichtungsstellen - ich finde, die machen eine tolle Arbeit. Wenn sich das mit einer veränderten Einstellung zu Fehlern verbinden lassen würde, nämlich einer ruhigen, öffentlichen Art, damit umzugehen, dann wäre schon sehr viel geholfen." REGIE Bitte MUSIKAKZENT einsetzen Sprecherin: Mit der Verrechtlichung des Sozialstaates wurde das Leben neu typisiert. Das Recht hat sich ausgeweitet und das Verhalten seiner potenziellen Adressaten verändert. Familiäre Lebensmuster sind nach Einführung der Ausbildungsförderung oder der Hinterbliebenenrente nicht mehr das, was sie vorher waren. Führt die Verrechtlichung zu einer "Normenflut", der mit Entbürokratisierung und Entrechtlichung zu begegnen ist? Unter dem Vorzeichen eines neoliberalen Rückbau des Sozialstaates wurde in den vergangenen 30 Jahren vielfach die "Deregulierung", insbesondere des Arbeits- und Sozialrechts, gefordert. Aus dieser politischen Perspektive erscheint die Verrechtlichung als Bremserin einer dynamischen Wirtschaft. Durch sie, so wird kritisiert, hätten immer neue soziale Forderungen in das rechtsstaatliche System Einzug gehalten. Auf ihrem Mannheimer Parteitag 1997 vollzog die FDP unter dem damals noch jungen Generalsekretär Guido Westerwelle einen Kurswechsel zu einem strikt neoliberalen Kurs. In der damaligen Grundsatzerklärung heißt es: Zitator: "Die Befreiung der Gesellschaft aus der Zwangsjacke der Vernormung und Verreglung ist die einzige Chance zur Wiedererlangung von Freiheit." Sprecherin: Diese Position ist vor allem dann interessant, wenn man sie der Haltung Otto Kirchheimers gegenüberstellt. Dieser hatte sich in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dagegen gewendet, dass politische Konflikte durch ihre Verrechtlichung still gestellt und "neutralisiert" werden. Er schreibt: Zitator: "Alles wird neutralisiert dadurch, dass man es juristisch formalisiert." Sprecherin: Kirchheimer verstand darunter jedoch nicht nur eine vordergründige Entpolitisierung, sondern erkannte einen Funktionswandel des Rechtsstaates: eine Ausdehnung des Rechtssystems auf die politische Sphäre, die jedoch letztlich zu einer Repolitiserung des Rechts führt. Sprecher: Hatte Otto Kirchheimer noch die Neutralisierung sozialpolitischer Forderungen kritisiert und für eine neue sozialpolitische Dynamik, sprich: eine Repolitisierung geworben, so wird heute von neoliberaler Seite unter dem Schlagwort der "Deregulierung" genau die umgekehrte Position eingenommen und die Verrechtlichung als politische Instrumentalisierung kritisiert. Allerdings war Kirchheimer so hellsichtig zu erkennen, dass es sich in beiden Fällen um eine Repolitisierung der Justiz handelt. Der Streit um Verrechtlichung und Deregulierung zeigt, dass es sich um politische Frontstellungen handelt, die auch als solche benannt werden sollten. Sprecher: Führt die Verrechtlichung auch in der Politik zu einer Reduzierung von Ermessenspielräumen? Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht haben Beobachter bereits gemutmaßt: Zitator: "Karlsruhe regiert in Berlin mit." Sprecher: Und Konrad Adenauer meinte verärgert, als die Karlsruher Richter ihm einen Strich durch seine Pläne eines Regierungs-Fernsehens gemacht hatten: O-Ton: 24 Adenauer "Meine Herren Sie können doch wirklich nicht erwarten, dass ich mich hier hinstelle und sage, das ist ein gutes Urteil". Sprecher: Günter Frankenberg, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt am Main, sieht eine Machtverlagerung hin zum Verfassungsgericht: O-Ton: 25 Frankenberg ca. 1'29 "Es ist ganz unbestreitbar, dass seit Einführung des Bundesverfassungsgerichts sich die politischen Gewichte verschoben haben und dass es in zentralen Entscheidungen zum Deutschlandvertrag, zu den Berufsverboten, zum Abhörurteil usw., dass es natürlich auch Entscheidungen getroffen hat, die dazu geführt haben, dass in Bonn und dann später jetzt in Berlin man mehr nach Karlsruhe schaut und auch mehr auf das Grundgesetz. Beides. Also das ist so eine gewisse Vorsicht, die ins Parlament einzieht. Das ist ja an sich nicht schlecht, weil das heißt zugleich, dass auch das Grundgesetz etwas ernster genommen wird und nicht nur so ein Dokument, was man an Feiertagen vorliest." Sprecher: Diese Rolle eines "Hüters der Verfassung" war 1949 von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Doch der besondere Schutz der Grundrechte, den die Verfassung einräumt, entwickelte eine Eigendynamik. O-Ton: 26 Höpker-Aschoff 2'27 "Wir Richter des Bundesverfassungsgerichtes sind Knechte des Rechts und dem Gesetz Gehorsam schuldig. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, selbst den Gesetzgeber spielen zu wollen." Sprecher: Hermann Höpker-Aschoff, Erster Präsident des Bundesverfassungsgericht in seiner Antrittsrede zur Einweihung des Gerichtes im Jahre 1951. Ein Jahr später erklärte sich das Bundesverfassungsgericht in einer sog. Status-Denkschrift selbst zum Verfassungsorgan. Günter Frankenberg: O-Ton: 27 Frankenberg ca. 3'05 "Das Verfassungsgericht kam ja etwas später ins Spiel, ich denke aber mal, es ist die Folge, wenn man sagt, die Verfassung soll gewahrt werden, und wir haben so etwas wie einen Hüter der Verfassung, dann ist es irgendwie klar, dass die Spielregeln der Politik zum Stück auch in Karlsruhe bestimmt werden." Sprecherin: Das Merkwürdige daran: der Konflikt um die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit schwächte die Deutungsmacht des Gerichtes nicht, sondern stärkte sie. Allerdings, allzu deutlich darf nicht hervortreten, dass das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz fortbildet und damit politisch Stellung bezieht. Deshalb "versteckt" sich das Gericht hinter der Verfassung. Sprecher: Typischerweise wird es von der Opposition angerufen, die sich gegen die Kanzlermehrheit zur Wehr setzen will. O-Ton: 28 Frankenberg ca 0'55 "Immer wenn ein schwieriges Problem im Parlament zur Entscheidung ansteht, dann kommt die unterlegene Partei, d.h. die Minderheitenfraktion, die kommen immer auf die Idee zu sagen, 'so, das bringen wir jetzt mal nach Karlsruhe'. Die versuchen gleichsam auf dem Weg über das Verfassungsgericht den Sieg sich zu holen, den sie im Parlament nicht bekommen." Sprecher: Es handelt sich also weniger um eine Ent-Parlamentarisierung, sondern um die Fortsetzung des parlamentarischen Streits mit anderen Mitteln, indem man einen weiteren Akteuren hinzuzieht: dadurch werde, so Günter Frankenberg, das Konfliktfeld durchaus interessanter. O-Ton: 29 Frankenberg 8'01 "Man kann vielleicht sogar sagen, dass das Bundesverfassungsgericht sich zwangsläufig mehr in die Politik einmischt oder instrumentalisiert wird, aber es hat eine wichtige Funktion gegen die Aufspaltung des Parlaments in eine Kanzlermehrheit, die in der Regel nicht regierungskritisch ist, und eine Opposition, die in der Regel überstimmt wird." Sprecherin: Die Grenzüberschreitung zwischen Politik und Recht wird zum Normalfall, das Trennungsmodell von Recht und Politik büßt an Erklärungskraft ein. Gute Gründe sprechen dafür, dass die Gegenüberstellung von Justiz und Politik nicht weiter führt. Die Justiz kann weder die Politik ersetzen noch die Demokratie. Sprecher: Und doch wird sie in vielen sozialen und politischen Konflikten als Ausweichinstanz angesehen, die ins Lot bringen soll, was die sonstigen Akteure nicht klären konnten. Günter Frankenberg: O-Ton: 30 Frankenberg "Das sieht man schon daran, dass es unglaublich viele Verfassungsbeschwerden erhoben werden, ich glaube, es sind im Jahr plus minus 4.000, und der Erfolg dieser Institution Verfassungsbeschwerde leidet auch nicht darunter, dass eigentlich nur 1,7 Prozent dieser Beschwerden Erfolg haben." REGIE Bitte MUSIKAKZENT einsetzen Sprecher: Mehr und mehr wird die Justiz als Dienstleister in Anspruch genommen - ob sie zur Streitschlichtung geeignet ist oder auch nicht. O-Ton: 31 Frankenberg "Dass man sich bei Konflikten entlasten möchte, bietet sich an, und dann ist die Frage, wer kann das. Dann ist das generell die Justiz, viele Konflikte werden da ausgetragen, die eigentlich unter Bürgern 'gehandelt' werden sollten, das sind die berühmten Maschendraht-Konflikte, aber auch andere. Wo es also darum geht, ob zwischen zwei Grundstücken ein Maschendrahtzaun gezogen werden kann. Das ist ja von einer solchen Lächerlichkeit, das müssten eigentlich vernünftige Leute untereinander austragen. Bei uns wird alles auf die Gerichte abgewälzt, alle Fragen, wenn der Urlaub schlecht gelaufen ist, wenn es geregnet hat, das ist glaube ich auch eine sehr deutsche Eigenschaft." Sprecher: Familienrichter Ingo Socha warnt denn auch von der Vorstellung, Gerichte hätten ein Allheilmittel zur Hand, Alltagskonflikte lösen zu können: O-Ton: 32 Socha "Wir können nicht den ganzen, zugrundeliegenden Konflikt bearbeiten, sondern greifen immer die Mosaiksteine heraus, die wir für die Anwendung des Rechtes anwenden wollen. Und das andere ist natürlich, dass wir aufgrund der Zahl der Verfahren, die ein Familienrichter oder Zivilrichter zu bewältigen hat, in unseren Ressourcen eingeschränkt sind und nicht allen Petenten und Klägern den Raum bieten können, den der Konflikt eigentlich erfordern würde. Das versucht man, aber das scheitert eben daran, dass nicht nur ein Verfahren zu bearbeiten ist, und aus diesen Gründen denke ich, dass viele Leute sagen, 'Mensch, ich bin gar nicht zu Wort gekommen', oder 'der Richter hat sich nur 90 Minuten für mich Zeit genommen, und in diesen 90 Minuten musste auch die Vertreterin des Jugendamtes, der Gegner, der Verfahrensbeistand und andere Leute zu Wort kommen, sodass für mich eigentlich kein Platz mehr war', und von daher glaube ich, dass bei aller Anstrengung, die Richterinnen und Richter unternehmen, hier Konflikte ungelöst bleiben und Leute auch unbefriedigt nach Hause gehen." Sprecher/in vom Dienst: "Wir sehn uns vor Gericht!" Zur Verrechtlichung des Sozialen und Politischen Eine Sendung von Conrad Lay Es sprachen: Viola Sauermann Markus Hoffmann Helmut Gauß Ton: Andreas Narr Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012