COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen am 3. Februar 2010 Redaktion: Peter Kirsten Der geräuschvolle Programmierer Zum 100. Geburtstag von Max Bense Von Agnes Handwerk Musik stochastische Musik, Stockhausen oder Xenakis ... . Zitator `Nur programmierbare Welten sind planbar und human bewohnbar`, Musik offen Zitator `Indem der Mensch sich programmierbar macht, erkennt er sich selbst und dadurch kann er sich verwirklichen.` Sprecherin Mit diesen utopischen Vorstellungen einer programmierbaren Welt, vor 40 Jahren formuliert, meint es der Wissenschaftler und Philosoph Max Bense ernst. Seiner Ansicht nach zwingt die Technik den Menschen in eine "technische Existenz" und erfordert ein neues, mathematisch begründetes Fundament für Information, Ästhetik und Kunst. In einem Vortrag 1963 in der Funkuniversität des RIAS erklärt er dazu: O-Ton_01 Wir haben nicht nur eine moderne Kunst, sondern auch eine moderne Ästhetik und der Ausdruck `modern` soll bedeuten, dass es sich um eine fachwissenschaftlich, nicht nur philosophisch fundierte Ästhetik handelt. Dass sie ein methodisch zugängiges offenes Forschungsgebiet bezeichnet, darin rationale und empirische Verfahren der Untersuchung gegenüber spekulativen und metaphysischen vorgezogen werden. Denkt man daran, dass diese moderne Ästhetik eine ausgiebige Grundlagenforschung besitzt, die sich auf Begriffe, Vorstellungen und Resultate der Mathematik, der Physik, der Kommunikationsforschung und Informationstheorie stützt, so wird es sinnvoll von einer technologischen Ästhetik zu sprechen ... .. Musik stochastische Musik Sprecherin Seine Vorstellungen von der Mathematisierbarkeit der Ästhetik waren noch sehr schematisch, aber die große Entschlossenheit, mit der Max Bense die Veränderungen der menschlichen Existenz durch die Technik theoretisch und methodisch in den Blick nahm, macht ihn zu einem der bedeutenden Theoretiker zu Beginn des Computerzeitalters. Der Medienwissenschaftler Hans Christian von Herrmann hat sich mit seinem umfangreichen Werk auseinandergesetzt: O-Ton_02 Bense hat mit seiner Forderung nach der Zusammenarbeit von Technikwissenschaftlern, Geisteswissenschaftlern, Naturwissenschaftlern etwas in die Welt gesetzt, was heute genauso aktuell ist und vielleicht noch dringender ist, als es zu Benses Zeit war. Sprecherin Diese neue Orientierung der Philosophie formuliert Max Bense 1946. In den letzten Kriegsjahren arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Labor für Hochfrequenztechnik von Hans Erich Hollmann, einem bekannten Radarspezialisten. Wegen der Bombenangriffe auf Berlin wird der Betrieb nach Georgenthal in Thüringen evakuiert. Dort erlebt Bense das Ende des Krieges. Er ist politisch nicht belastet und erhält von dem neu ernannten Minister für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone das Angebot die Friedrich Schiller-Universität in Jena aufzubauen und ihr Kanzler zu werden. In diesem Zusammenhang verfasst Max Bense sein Programm für die künftige Philosophieausbildung, die auch für sein eignes Schaffen wegweisend wird. Zitator Voraussetzung für die neue Situation der Philosophie ist, dass sie vor allem auch den Belangen der Mathematik, Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Soziologie dient. Das heißt, die neue Philosophie soll auf eine angewandte Philosophie hinstreben. Sprecherin Elisabeth Walther-Bense, seine spätere Frau, beginnt 1946 in Jena mit ihrem Studium. O-Ton_03 Da war ein junger Mathematikkollege von mir, der sagte: Du, der Bense liest mathematische Logik, da gehen wir hin! Ja, ich geh mit! Die mathematische Logik , das war ja ein Gebiet, das in Jena sehr bekannt war und damit begann Max Bense in Jena. Er hat aber auch Philosophiegeschichte gemacht. Er nannte ja seine Art zu philosophieren " existentiellen Rationalismus". Dadurch gibt es eine seltsame Kombination zwischen Kierkegaard auf der einen Seite und den exakten Wissenschaftlern auf der anderen Seite. Sprecherin Kierkegaards Existenzphilosophie und Descartes` Rationalismus - Max Benses breit angelegtes Wissen umfasst Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Kunst. Musik Stockhausen / Xenakis (als Zäsur) Sprecherin Ein biographischer Rückblick: Max Bense wurde in Straßburg geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Stadt französisch und Familie Bense wird ausgewiesen. Über seine Herkunft sagt Max Bense später: Zitator Ich bin Elsässer. Die haben Sinn für Ästhetik ? wie alle Menschen, die in Mischzonen geboren sind, die sozusagen in zwei Kulturen aufgewachsen sind. Sprecherin Ende der 1920er-Jahre bewirbt er sich zunächst an der Kunsthochschule Düsseldorf. Aber er entschließt sich dann in Bonn Physik, Chemie, Mathematik, Geologie und Philosophie zu studieren. Eine akademische Laufbahn kommt für ihn danach nicht in Frage, weil er den Nationalsozialismus ablehnt. Dann kam das Kriegsende, Max Bense ist 35 Jahre alt. O-Ton_04 Man muss sich natürlich in Bense insofern hineinversetzen, als er 1945 nach seiner Labortätigkeit in Thüringen wieder in die wissenschaftliche Welt eintreten konnte. Bense hatte unheimliches Glück in eine personelle Konstellation zu geraten, wo sein Wissen und seine Unverbrauchtheit gefragt wurden. Sprecherin 1948 verlässt Bense Jena fluchtartig, nachdem er sich mit dem Minister für Volksbildung überworfen hatte. Nach den neuen Parteidirektiven der SED soll er die Philosophie auf der Grundlage des Marxismus- Leninismus lehren. Bense wollte sich dem Parteidiktat nicht unterordnen. Er hatte andere Vorstellungen und konnte die auch bald verwirklichen als Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart. Stuttgart wird zu seinem Lebensmittelpunkt. Von 1949 bis zu seiner Emeritierung 1978 lehrt er dort an der Universität Philosophie und Wissenschaftstheorie. Mit seiner späteren Frau, Elisabeth Walther- Bense, Professorin für Semiotik , - sie heiraten 1988 -, verbindet ihn ein lebenslanges Projekt: Informationstheorie, Ästhetik und Semiotik das heißt Zeichentheorie. Sie lebt heute ? bald 90 jährig - in Stuttgart O-Ton_05 Die Computersprachen haben ihn interessiert, aber sich selber an einen Computer zusetzen, das war nicht wichtig! Kurz vor seinem Tod habe ich den ersten Computer angeschafft, einen Atari und hab`mich abgemüht, den in Gang zu bringen und zu benutzen. Und da sagt er nur: Lass das doch! Das kannst du nach meinem Tod immer noch lernen! Sprecherin Die Popularität und Verbreitung des PC, des Personal Computers und des Internet erlebt Max Bense nicht mehr. Er stirbt 1990. Aus ihrem Privatarchiv holt Elisabeth Walther-Bense einen Text über das Verhältnis von Mensch und Maschine, den Max Bense 1970 für die schweizerische Kulturzeitschrift "Du" verfasst hat und der anschaulich zeigt, wie er seine Erfahrungen und Einsichten literarisch verarbeitet hat. O-Ton_06 Er fuhr gerne im Auto, aber fuhr nicht gern das Auto. Er hat sich nie damit beschäftigt einen Führerschein zu machen. Er hatte ja ständig kleine Blocks in der Tasche und wenn er eine Idee hatte, hat er das aufgeschrieben. Ob das während der Fahrt war, an irgendeiner Tankstelle. Er hat immer geschrieben. Er hat immer geschrieben und immer gelesen. Sprecherin Und so beginnt der Text "Das Ich, das Auto und die Technik": O-Ton_07 Ein Ich hat man nicht, man ist es. Aber man hat ein Auto und ist es nicht, und so hat das Auto ein Ich, aber ist kein Ich und hat ein Ich ein Auto, ist jedoch kein Auto. Zitator Das Ich das es hat, liefert ihm die Daten, die es verarbeitet. Die Verarbeitung besteht in der Übersetzung der Daten, die das Ich liefert, in die Bewegungen, die das Auto liefert. Indem es fährt, gewinnt das Auto den Rang eines Ortes, einer Linie, einer Naht gewissermaßen, an der Welt und Bewusstsein zusammenstoßen; man könnte auch sagen: an der Sein und Denken zusammenstoßen. Das ist ein Motiv der hegelschen Metaphysik, und so gewinnt das Auto, genauer sein wesentlicher Zustand, nämlich die Bewegung, den Reiz eines metaphysischen Vehikels.... O-Ton_08 Da Max Bense keinen Führerschein machen wollte, musste ich fahren. Aber er genoss es über das Fahren und das Auto nachzudenken. Und dann war ihm das natürlich klar mit dieser Übertragung, dass wenn ich den Gang einschaltete etwas mit dem Auto passierte. Zitator Das Auto bewegt nicht nur das Ich, es bewegt auch die Reflexion des Ichs, diese lautlose Lineatur des Denkens im Verhältnis zur geräuschvollen Lineatur des Fahrens. Zweifellos folgt am Anfang die lautlose Lineatur der Reflexion genau der geräuschvollen Lineatur des Fahrens; das Ich verfolgt unablässig das Auto; das denkende Wesen ist gänzlich auf das fahrende Wesen fixiert. O-Ton_09 Die umgebende Welt und das eigene Bewusstsein stoßen ja dadurch zusammen, dass man das Auto in Bewegung setzt. Er meint es ganz wörtlich so, dass es nicht reicht, dass man ein Auto stehen hat, sondern dass man mit dem Auto fährt. Und mit dem Auto fahren heißt, man übermittelt Informationen, man kommuniziert mit dem Auto. Und das Auto reagiert auf das, was man ihm vermittelt. Sobald man sich in ein Auto setzt und losfährt, hat man eine Beziehung hergestellt zwischen dem eigenen Denken: Ich möchte jetzt da und dahin fahren, und der Möglichkeit, dass das Auto einen dahin bringt, wenn man die richtigen Befehle erteilt und es richtig bedient und so weiter. Zitator Indem sich das denkende Wesen an das fahrende Wesen gewöhnt, Ich und Auto mehr und mehr zu einem beinah surrealen Automaten verschmelzen, jene aber dennoch auch bei sich selbst bleiben und stets auch noch ein selbstständiges Etwas, eben fahrendes Wesen und denkendes Wesen bedeuten, ist fast eine neue Art des Existierens entstanden: die bewusstseinsanaloge Maschine, das ichanaloge Auto, ein vollkommenes Mensch-Maschine-Team, eine existenzielle Partnerschaft zwischen Störungen und Ängsten, zwischen maschinellen Aktionen und menschlichen Reaktionen, zwischen Signalen und Impulsen, zwischen Geräuschen und Entschlüssen. Sprecherin Mit seiner kunstvollen, literarischen Betrachtung eröffnet Max Bense eine neue Sichtweise; und erklärt, was er unter "technischer Existenz" versteht, konstatiert der Medienwissenschaftler Michael Eckardt. O-Ton_10 Das fahrende Auto ist ohne den Menschen nicht denkbar, das heißt wir haben eine Mensch-Maschine Symbiose, die den Mensch, der sich auf der Straße bewegt in eine "technische Existenz" zwingt, um sich zu bewegen. Und dies geht nur mit Informationsaustausch, mit dem Begreifen des Autos als ein System, dass Rückkopplung und Informationsaustausche stattfinden, dass hier Steuerung vorliegt und am Ende nicht ein Ergebnis steht, sondern ein Prozess von Ergebnisketten und insofern hat Bense dieses Auto-Beispiel ganz bewusst gewählt, weil es dem Menschen vor Augen führt, in welche Abhängigkeit er schon geraten ist, dass man sich als Mensch nur noch als technische Existenz vorstellen kann. Sprecherin Max Bense bezieht sich auf das Modell der Kybernetik des amerikanischen Mathematikers Norbert Wiener. Dessen Buch "Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine", erschienen 1948, hatte großen Einfluss auf das Verständnis von Kommunikationsprozessen. Der Begriff "Kybernetik" bezieht sich auf das griechische Wort "kybernétes", das heißt übersetzt so viel wie `Steuermann eines Schiffes` und bezeichnet die Wissenschaft der Kommunikation, der Steuerung oder Regelung. Zu kybernetischen Systemen gehören u.a. Maschinen, die sich mit Rückkopplungsmechanismen selbst steuern oder steuern lassen. Hans Christian von Herrmann hat bei seinen Recherchen herausgefunden, dass Bense dieses Buch von seinem ehemaligen Chef, dem Radarspezialisten Hans Erich Hollmann, der mittlerweile in den USA in der Militärforschung arbeitete, erhielt. O-Ton_11 Bense gehört zu den ersten Geisteswissenschaftlern in Deutschland, die Wieners Kybernetik rezipiert haben und begrüßt diese Wienersche Metawissenschaft der Kybernetik als die neue Philosophie der Gegenwart. Wieners Buch muss für Bense so etwas wie eine Lösung der Probleme sein. Es ging darum Philosophie zu machen, aber das auf dem Stand der Mathematik und Technik der Zeit. Sprecherin Auf einer Europareise kam Norbert Wiener 1955 auf Einladung von Bense an die Stuttgarter Universität zu einem Vortrag. Elisabeth Walther erinnert sich: O-Ton_12 Das fand in der Aula statt. Norbert Wiener stand an der Tafel und schrieb viele, viele Formeln, unermüdlich. Er schrieb einfach: 1. Integral, 2. Integral, alles aus dem Kopf. Und dann sagte er: So, die Tafel ist voll, Wer hat eine Frage? Sprecherin Norbert Wiener hatte sein Kybernetik-Modell während des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Es diente ursprünglich der automatischen Zielsteuerung von Flugabwehrgeschützen, wurde aber sehr bald auf soziale Prozesse übertragen. Norbert Wiener hat das selbst als problematisch erachtet. Er schreibt: Zitator Die Kybernetik macht weitreichende technische Entwicklungen zum Schlechten wie zum Guten möglich. Wir übergeben sie an eine Welt, die die Welt ist von Bergen ? Belsen und Hiroshima. Wir haben nicht einmal die Wahl diese neuen technischen Entwicklungen zu unterdrücken ... wir können nur einer breiten Öffentlichkeit die Richtung verständlich machen, die sie nehmen können. Sprecherin Solche Bedenken hatte Bense nicht. Er glaubte an die Überlegenheit des mathematischen Modells, das über alle Zweifel erhaben ist. Wieners Modell war für Bense der Urknall für sein Denken, erklärt Michael Eckardt. O-Ton_13 Dieses abstrakte, technische Modell auf alle Lebensbereiche übertragen zu können, diese Faszination dafür, dass das auch funktioniert und damit sogar Gesellschaftsbeschreibungen vollzogen werden können, das war das auslösende Moment für Bense seine Theorien über Kybernetik, später zur Semiotik auszuarbeiten, die natürlich durch den mathematischen Ursprung der Ideen von Wiener immer systematisch, berechenbar, planbar auf eine Formel zurückzuführen waren. Musik Stockhausen/ Xenakis Sprecherin Bis zu seiner Emeritierung hielt Max Bense jeden Montag eine Vorlesung für eine breitere Öffentlichkeit über Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Kunst. Es kamen Studenten, Wissenschaftler und Künstler. Rul Gunzenhäuser, später Dekan an dem neugegründeten Studiengang für Informatik, gehörte zu der ersten Generation von Benses Studenten und studierte damals Mathematik. O-Ton_15 Ich war fasziniert von der Spontaneität. Der Professor trug ohne Text vor, der Professor hatte einen Tafelanschrieb entwickelt, der zwar kaum lesbar war, aber die Dynamik in seine Vorlesung gebracht hat. `Was macht der Bense heute wieder Neues`?! Und eine Vielzahl seiner spontanen Ideen hat er in der Vorlesung vorgetragen ? Anregung pur, etwas ganz anderes, was ich sonst im Studium der Mathematik gewohnt war und erleben konnte. Sprecherin Die Vorlesungen inspirierten Rul Gunzenhäuser und Theo Lutz, auch ein Mathematiker, zu einem Experiment, auf das sich Bense später oft bezogen hat. Sie erstellten einen stochastischen Text, das heißt einen Text, der aus einer zufälligen Abfolge von Worten besteht. Die "Vereinigung der Freunde der Universität Stuttgart", der vor allem Unternehmen der Autoindustrie angehörten, stiftete 1958 die Rechenanlage ZUSE 22. Die Industrie versprach sich einen praktischen Nutzen von dieser "Denkmaschine" oder diesem "Elektronengehirn", das aus zwei großen Schränken mit elektronischen Röhren und einem Speicher mit Magnetrollen bestand. O-Ton_16 Man musste einen Zugang finden zu diesen neuen kybernetischen Maschinen, die wir heute Computer oder Rechenmaschinen nennen, und für mich war das ein möglicher Zugang zu diesem Gebiet. Sprecherin ... erklärt Rul Gunzenhäuser lakonisch. Dass man mit dieser Rechenanlage Berechnungen für Industrieprozesse optimieren konnte, das war vorstellbar, aber damit einen Text erstellen? O-Ton_17 Ich habe damals an Theo Lutz geschrieben: "Herr Professor Bense wäre an einer einfachen Erzeugungsweise stochastischer Texte sehr interessiert ... . Sprecherin Rul Gunzenhäuser, der gerade Kafkas Schloss las, wählte aus seiner Lektüre 24 Substantive und entsprechende Attribute aus. Theo Lutz schrieb ein Programm für die Eingabe der Worte, die der Zufallsgenerator der Maschine nach einer logischen Struktur wieder neu zusammensetzen sollte. Theo Lutz ist heute schwer krank. In seinem Archiv liegen die vergilbten, hektographierten Programmlisten von Einzelbefehlen für die verschiedenen Operationen sorgfältig aufbewahrt. Und so hört sich das erste Ergebnis von damals an: O-Ton_18 Nicht jeder Blick ist nah. Kein Dorf ist spät. Ein Schloss ist frei und jeder Bauer ist fern. Jeder Fremde ist fern. Ein Tag ist spät. Jedes Haus ist dunkel. Ein Auge ist tief usw. Das Programm lief in einer Endlosschleife und ich habe mich damals gewundert, dass die vorgesehene Verknüpfungen "und" und "oder" und "oder nicht" so selten vom Programm gewählt wurden. Wir haben dann beschlossen , das müssen wir häufiger einsetzen und damit kamen bei späteren Proben dann solche komplizierten, philosophischer klingende Aussagen zustande! Sprecherin Die surrealistisch und dadaistisch anmutenden Sätze erzeugte der Zufallsgenerator. Max Bense hat in seinen literarischen Texten wie "Entwurf einer Rheinlandschaft" selbstverfasste Textpassagen mit maschinell erzeugten, stochastischen Texten vermischt. Eine kalkulierte Irritation, denn der Leser kann zwischen dem Autorentext und dem Maschinentext nicht unterscheiden. Es kommt allein darauf an, wie er den Text für sich interpretiert und welche Bedeutung er in den Text selbst legt. Musik stochastische Musik als Zäsur Sprecherin Aus dem Bense-Kreis entstand noch ein anderes Projekt, das in die Mediengeschichte eingegangen ist: die Computergrafiken von Georg Nees. Der Mathematiker Nees arbeitete in den 1960er-Jahren in der Forschungsabteilung bei Siemens in Erlangen und entwickelte Programme für den ZUSE Graphomat, eine lochstreifengesteuerte Zeichenmaschine. Er bekam 1964 die Zeitschrift "Grundlagenstudium aus Kybernetik und Geisteswissenschaften" mit einem Aufsatz von Max Bense in die Hände und war begeistert. O-Ton_19 Da ging mir eine Welt auf. Hier war von Kunst die Rede, von Mathematik, von Zeichen und ich sah plötzlich: hier ist eine Grundlage, eine kanonische, gesetzmässige Grundlage, worauf ich mein eigenes Denken aufbauen könnte. Sprecherin Georg Nees promovierte bei Bense in Philosophie. Sein Thema: Die Erzeugung visueller Darstellungen mit Hilfe von Programmsprachen. Seine Computerbilder mit Titeln wie "Schachtelung", "Schwarm", "Quadratverteilung", lösten kontroverse Diskussionen aus, erzählt er rückblickend. O-Ton_20 Ein ganz entscheidender Punkt war, und der hat auch Ärger hervorgerufen in der Welt der Ästhetik und in der Welt der Kunst, dass man Zufallszeichnungen, die eine nahe Verwandtschaft zur abstrakten Malerei haben, dass man die erzeugen kann maschinell. Und da hab ich immer wieder gesagt: Macht doch Zufallszeichnungen! Künstler waren sehr verängstigt, man könnte ihnen ihr Handwerk aus der Hand nehmen. Jemand sprach von Machwerken. Ein Terminus, der später in die Fachliteratur eingegangen ist: Machwerk! Sprecherin Für Max Bense belegten die Computergrafiken seine These, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen technischer und künstlerischer Produktivität gibt, erklärt Hans Christian von Herrmann. O-Ton_21 Diese Computerkunst, Programmierung des Schönen, wie Bense es nannte, bestand letztlich darin, dass auf der Ebene der Algorithmen zwei einfache Werkzeuge miteinander kombiniert wurden, nämlich einmal einfache Zeichenroutinen für Vektorgraphiken, die einfache geometrische Formen zeichneten, Rechtecke, Kreise, Geraden, und auf der anderen Seite etwas, was damals für die mathematische Forschung sehr wichtig und sehr neu war, das waren die Zufallsgeneratoren. Und die Kombination dieser einfachen geometrischen Zeichenalgorithmen, mit diesen Zufallsgeneratoren, das ist das Herz, der Kern der Computerkunst, die damals unvordenkliche, immer neue Formen auf den Plotter generierte. Sprecherin Bense wollte eine Theorie für die Messbarkeit der Kunst entwerfen. Er betrachtete es als Auftrag der menschlichen Vernunft, die Irrationalität und Metaphysik zu überwinden. Der Medienphilosoph Lorenz Engell spitzt es zu auf den Satz: `Er wollte die Kreativität operationalisierbar machen'. Der Zeitgeist hat Bense überholt, kommentiert Michael Eckardt die Entwicklung. O-Ton_24 Man könnte den Todesstoß für die kybernetisch, systemtheoretischen ästhetischen Überlegungen von Bense an dem Aufkommen der `68er Bewegung festmachen. Denn die Überlegungen, die sich für die Kunst oder die Ästhetik aus der Informationstheorie und Berechnung ergeben sind natürlich grundsätzlich vollkommen unpolitisch. Sprecherin In den 1970er-Jahre kamen Kommunikationstheorien auf, die sich mit der Medienmacht von Presse und Fernsehen auseinandersetzten. Hans Magnus Enzensberger entwarf einen "Baukasten zu einer Theorie der Medien" und setzte eine neue Bewegung der "Gegenöffentlichkeit" in Gang. Aktivisten gründeten alternative Stadtzeitungen und 1978 erschien erstmals die alternative Tageszeitung, die TAZ. Soziale Bewegungen wie die Anti-Atmokraftbewegung gründeten eigene Informationsnetzwerke. Max Bense geriet in dieser Zeit mit seiner Theorie der Mathematisierung von Kommunikationsprozessen ins Abseits. Er verlor auch den Anschluss an die Systemtheorie, die sich aus der Kybernetik entwickelt hatte und Modellrisiken, wie Instabilitäten oder Unbeherrschbarkeiten mit einbezog. Musik (als Zäsur) Sprecherin Max Bense schrieb 1949: Zitator 'Der Mensch als technische Existenz', das scheint mir eine der großen Aufgaben der philosophischen Anthropologie von morgen zu sein. Sprecherin Benses Vorstellungen, dass technische Phänomene in die menschlichen Seinsverhältnisse eindringen und wir dem nicht entgehen können, entsprechen heute unserer Realität. Die Technik wird für den Menschen immer unsichtbarer. Technische Vorgänge werden überdeckt und können gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, stellt Michael Eckardt fest. Das beginnt beim Schreiben am Computer, wir rufen technische Programme auf, die von Grafiken überdeckt sind und die wir nicht mehr wahrnehmen. Wie sich technische Vorgänge unserer Wahrnehmung entziehen, zeigt sich auch auf ganz anderen Gebieten, wo es um politische Willensbildung geht. Zum Beispiel im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama. Seine persönlich wirkenden Botschaften wurden in elektronische Netzwerke wie Facebook, die von jungen Leuten zum Informationsaustausch genutzt werden, eingespeist. O-Ton_25 Das sind schon alles Maschinen, die von einem politischen Willen gesteuert werden, der dem Menschen keine Chance mehr läßt eigentlich dieser Situation zu entfliehen. Und in dieser Hinsicht ist das darin enthaltene politische Moment für die Medienwissenschaft interessant, weil man sich fragt, inwieweit die Chance besteht auf dieses System Einfluss zu nehmen als einzelne Person, was auch nur wieder mit Technik und Computer möglich ist. Sprecherin Max Bense hat es vor 40 Jahren so formuliert: Zitator Technik war bisher im wesentlichen ein Phänomen der Oberfläche der bewohnten und bewohnbaren Sphäre: was jetzt vor unseren Augen entsteht, ist Tiefentechnik; wir erleben ihr Eindringen in die Feinstrukturen der Welt, in die immateriellen Bestandteile, wo dementsprechend ihre pathologischen Züge verborgener und gefährlicher sind. Musik Stockhausen oder Xenakis Ende 1