Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 14. Februar 2015 - 11.05 - 12.00 Uhr Wien wächst - Eine Stadt plant ihre Zukunft Mit Reportagen von Antonia Kreppel Am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Ein Mietrechtsexperte über Immobilienspekulation in Wien: Opener 1 Innerhalb von 15 Jahren sind die Mieten hier um 200 Prozent gestiegen. Es ist dramatisch, es ist wirklich dramatisch was sich im Augenblick in Wien abspielt. Es ist ein Spekulationseldorado geworden. Und ein junger Familienvater über seine Beweggründe, in das größte Stadtentwicklungsgebiet am Rande Wiens zu ziehen: Wir waren im Innenstadtbereich relativ unzufrieden mit der Qualität des Wohnraums, den man für mit Arbeit leistbarem Geldeinsatz bekommen konnte und fanden das angenehm mit einer Gruppe von Menschen auf diesen noch grünen Fleck am Rande von Wien zu ziehen, an dem wir halt niemanden kannten. Gesichter Europas. Wien wächst - Eine Stadt plant ihre Zukunft. Eine Sendung mit Reportagen von Antonia Kreppel. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik, Atmo Baustelle Mod Wien gehört zu den am schnellsten wachsenden Metropolen innerhalb der Europäischen Union. Laut einer aktuellen Prognose wird die österreichische Hauptstadt bereits 2029 zwei Millionen Einwohner haben, rund 250.000 mehr als derzeit und fast so viele wie vor dem Weltkrieg I., als die Kaiserstadt Hauptstadt des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn war. Der Grund für das rasante Bevölkerungswachstum der letzten Jahre und Jahrzehnte ist die Zuwanderung aus den Bundesländern und der EU; vor allem aber die Migration von Menschen aus dem osteuropäischen Raum, die eine überdurchschnittlich hohe Geburtenrate haben. Eine große Herausforderung für die Donaumetropole, die jetzt die Weichen neu stellen muss. Wohnraum ist knapp, die Mieten steigen, die Immobilienspekulation nimmt zu; spektakuläre "Bestandsräumungen" häufen sich. Wie zum Beispiel in einem Haus in der Mühlfeldgasse 12 in Wien-Leopoldstadt, einem traditionellen Zuwanderungsbezirk. Rep 1: Immobilienspekulation ATMO: Baustelle...aufgeregte Bauarbeiter....bitte schön....hallo hallo was gibt's... Iraschko: Wir wollen nur kurz reinschauen Arbeiter 1: Nein geht nix, das ist Baustelle, das ist verboten Iraschko: Ich will die Familie besuchen.. Arbeiter 1: Nein, geht nix. Das ist verboten sicher von Baustelle, das ist verboten... SPRECHERIN: Josef Iraschko debattiert mit den Arbeitern vor dem Haus Mühlfeldgasse 12. Der ältere Herr mit der wattierten Jacke ist Bezirksrat in der Leopoldstadt. Das Eckhaus wird derzeit saniert; sämtliche Fenster sind herausgerissen, bis auf eine Reihe im 2.Stock. Dort wohnt noch eine Familie mit ihrem Sohn, die er als Mietrechtsexperte berät und besuchen möchte. Dazu muss er durch die Baustelle gehen, so wie die Familie auch. Ein zweiter Arbeiter mischt sich ein. Arbeiter 1: Sohn nix wohnen da... Iraschko: Kommen wir da in den ersten Stock rauf? Arbeiter 2: Nein ich hab das ihnen schon 10 mal gesagt, bitte, seien so nett... Iraschko: okay.. SPRECHER: Ein bärtiger Mann mit langem grauen Haar bleibt neugierig stehen: Kurt Winterstein, vom Nachbarhaus gegenüber. Winterstein: Die wohnen da, klar. SPRECHERIN: Farbreste von Graffiti halten sich noch auf der stuckverzierten Fassade. Zwei neue Stockwerke sind aufgesetzt. Wer ist der Besitzer des heruntergekommenen Miethauses, das im Sommer 2014 in einem spektakulären Polizeieinsatz geräumt wurde? Das ist ein Konglomerat, die heißt hier Castella Gmbh. Und das sind so eigenartige Typen, die hier in ganz Wien die Wohnungsentmietungen vornehmen auf spekulative Weise. Die firmieren auch unter verschieden anderen Gmbhs, aber die Eigentümer sind immer die gleichen. Die sind spezialisiert auf's Rausschmeißen, und da haben sie ein Pech gehabt (lacht). Des haben wir ja um zwei Jahre verzögert, die wollten ja das vor 2 Jahren schon machen., und da ist halt der Mieterberater aufgetreten und hat ihnen gesagt wo's lang geht. ATMO: Straße/Beisl SPRECHERIN: Die Hintergrundgeschichte erzählen Josef Iraschko und Kurt Winterstein im Beisl am Eck; ein schlichtes Gasthaus, das noch nicht den alternativen Schick des boomenden Viertels widerspiegelt. 2011 hat die Castella GmbH das Haus erworben. Dort wohnten vor allem Altmieter mit unbefristeten Mietverträgen. Wollen sie nicht ausziehen, gibt es keine rechtliche Handhabe. Deshalb läuft die "Bestandsfreimachung" oft mit nicht legalen Methoden, weiß Josef Iraschenko aus Erfahrung. Iraschko: Das Haus wird gekauft, dann kommen nette Herren, und dann erwähnen sie so nebenbei, das Haus muss renoviert werden, saniert werden, das wird natürlich dann auf die Mieten Auswirkung haben, des kostet des drei- oder vierfache. Und da kriegen die ersten Leute, die Älteren und Alleinstehenden, schon einmal a bissel Angst. Winterstein: Dann wird der Kanal aufgerissen, also es kommen dann wirklich kriminelle Aktionen um die Leute aussi zu kriegen. Iraschko: Leute die Alternativen haben, die ziehen irrsinnig schnell aus und dann bleiben die über, die keine Alternativen haben, die auch das Geld nit haben auf dem Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden, und damit beginnt die ganze Tragödie. SPRECHERIN: Josef Iraschko nippt an seiner Cola, zeigt einen Anflug von Lächeln. Ihm ist es zu verdanken, dass eine illegale Delogierungsaktion des Investors Avner M. im Juni 2012 gestoppt wurde. Zuvor hatte der als "Mieterhai" verrufene Geschäftsmann Punks mit einem Prekariumsvertrag, einem Mietvertrag mit Widerrufsrecht, in das Haus einquartiert. Nach anfänglichen Reibereien verbündeten sie sich mit den Altmietern; ihre Pizzeria Anarchia im Erdgeschoss wurde zu einem beliebten Treff im Bezirk. Als die Verträge ausliefen und die Punks nicht auszogen, schickte der Hausbesitzer Bauarbeiter, um die Hauseingänge zu vermauern. Josef Iraschenko war als Mieterberater vor Ort und stellte die Hausbesitzer zur Rede. Wo ist der Delogierungsbescheid, wo ist der Exekutor, ich nehme an, dass es eine gerichtliche Delogierung ist. Und da haben sie mich groß angeschaut - das war denen völlig egal, aber völlig egal. Und erst auf Intervention der Polizei haben die aufgehört, und die konnten wieder einziehen. Und dann hat es längere Zeit gedauert bis die Eigentümer begriffen haben, dass es bei uns schon nach Gesetzen geht, und dass sie auch bei Gericht eine Delogierung beantragen mussten, gut. ATMO: Beisl SPRECHERIN: Zwei Jahre dauerte es, bis die Räumungsklage exekutiert wurde. Das ganze Viertel war im Ausnahmezustand, erinnert sich Josef Iraschenko und holt tief Luft. Hubschrauber, Panzerwagen, Hundestaffel; 1.700Polizisten waren zwölf Stunden im Einsatz, um neunzehn junge Leute aus dem Haus zu treiben. Laut Presseberichten kostete die Aktion "Punkpizza" 870.000 Euro. Es ging gar nicht um die Räumung, sondern es ging um Polizeimanöver. Wie gehen wir vor gegen Menschen, gegen größere Ansammlungen, die üben für soziale Unruhen. ATMO: Beisl/ Gitarre stimmen SPRECHERIN: Kurt Wintersein stimmt seine Gitarre. Seit seiner Geburt lebt er im 2.Bezirk; um 1900 sind hier viele Ostjuden zugewandert, darunter auch seine Vorfahren. Der pensionierte Lehrer hat die Geschichte des Hauses in der Mühlfeldgasse in ein Lied gefasst: Das Pizzalied. Hänsel und Gretel die lebten hier in Wien, in der Punkahüttn bis eines Tags erschien, ein netter Herr mit Brille und mit einem Bart, der lächelte ganz freundlich und sprach..... SPRECHERIN: Dem Hausbesitzer Avner M., ein gebürtiger Tadschike, hat er einmal eine E-Mail geschrieben, auf sehr wienerische Art und Weise, von Jude zu Jude. Und hab geschrieben, da ich kein Rassist bin, gestatte ich Juden natürlich auch, Arschlöcher zu sein. Aber mir als Juden tut des eben sehr weh, dass er ein Arschloch ist. Dann hat er gesagt, er wird mich anrufen, und mir erklären, dass er doch kein so großes Arschloch ist, aber er hat sich nimmer gerührt (lacht). Des war die Gschicht. ATMO: Beisl SPRECHERIN: Josef Iraschko nickt vielsagend. Seit 25 Jahren ist der gelernte Kaufmann als Berater im Mieterselbsthilfezentrum der KPÖ tätig. So viele Geschichten hat er schon gehört, von Brandstiftungen, Arbeiterquartieren in Hinterhöfen und illegalen Delogierungsmethoden. Immer mehr Dachböden werden teuer ausgebaut, Künstlerateliers und Designerlägen mieten sich ein. Selbst das abgewohnte Viertel rund um die Mühlfeldgasse wird langsam schick. Innerhalb von 15 Jahren sind die Mieten hier um 200 Prozent gestiegen. Es ist dramatisch, es ist wirklich dramatisch was sich im Augenblick in Wien abspielt. Es ist ein Spekulationseldorado geworden, vor allem auch der 2.Bezirk. die Stadt schaut leider zu. SPRECHERIN: Sanft wirkt Josef Iraschko, mit seinen weichen Gesichtszügen. Doch spricht er von seinen Erfolgen, wie er die Räumung des Spekulationsobjekts Mühlfeldgasse um Jahre verzögert hat, blitzt Härte und Beharrlichkeit auf. Ich bin ein übrig gebliebener 68iger, ich bin dort politisiert worden. Ich komm auch aus einer Arbeiterschicht. Und da bin ich vor 20 Jahren auf dieses Thema Mieter und Wohnung gekommen, und da hab ich mir halt in der Praxis, vor Gericht und in den Schlichterstellen eine Fachkenntnis angeeignet, an der selbst die Immobilienbranche zerbricht, weil ich mach sie alle fertig. ATMO: Pizzalied....Solidarität....Bravo, Applaus Musik Mod Der 1925 in Wien geborene und im Jahr 2000 dort verstorbene Ernst Jandl ist einer der bedeutendsten österreichischen Lyriker, ein Meister der experimentellen Poesie, bekannt für seine Lautgedichte. Ein Stadtmensch durch und durch. Musik Lit 1 LITERATUR 1 My own song Ich will nicht sein, so wie ihr mich wollt ich will nicht ihr sein so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr seid so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr sein wollt nicht wie ihr mich wollt wie ich sein will will ich sein nicht wie ihr mich wollt wie ich bin will ich sein nicht wie ihr mich wollt wie ich will ich sein nicht wie ihr mich wollt ich will ich sein nicht wie ihr mich wollt will ich sein ich will sein Musik hoch Mod Die Stadt Wien verfolgt bei der Schaffung neuen Wohnraums zwei Strategien: Bauliche Verdichtung in Bezirkszentren und Stadtrandbebauung. Beides muss sein, sagen Stadtplaner. Für eine Verdichtung der Stadt bieten sich vor allem die Gründerzeitviertel entlang des Süd- und Westgürtels an - besonders der Stadtteil Ottakring, der 16. Wiener Gemeindebezirk. Rep. 2 : Nachverdichtung ATMO: Straße, gehen, Baulärm ...da gibt's auch eine Baulücke... SPRECHERIN: "Da gibt's eine Baulücke", sagt Daniel Glaser und bleibt neugierig stehen. "Ja, das wird jetzt bebaut", bestätigt seine Begleiterin Verena Mörkl. Der Wohnbauforscher und seine Kollegin von der Gebietsbetreuung Ottakring sind auf Quartierrundgang im Gründerzeitviertel. Die Gebietsbetreuung, ein Team aus Raumplanern, Architekten und Juristen, ist eine Serviceeinrichtung der Stadt Wien. Sie bringt Leute, die Entscheidungen treffen und Leute, die was bewegen wollen, zusammen. ATMO: Straße, Baulärm Es geht ein kalter Wind. Daniel Glaser zieht die schwarze Wollmütze tiefer in die Stirn. Vor 120 Jahren wurde hier das Stadtviertel in einem strengen Blockraster gebaut. Die abgenutzten Fassaden in dem traditionellen Arbeiterbezirk sind meist braun, grau; aber dazwischen leuchtet schon frisch verputztes Gemäuer in hellem Farbton. Vor einem sanierten Wohnblock bleiben die beiden Architekten stehen. ATMO: Schlüssel... Verena Mörkl kramt den Haustürschlüssel hervor. ATMO: Türöffner... Schritte innen... Türe zu Der "Wollner-Hof" ist eines der ältesten Häuser am Brunnenmarkt. In den 1980iger Jahren war es zum Spekulationsobjekt verkommen; ein gemeinnütziger Bauträger hat es gekauft und gemeinsam mit der Stadt revitalisiert. Also wir haben es öfters besichtigt und unser Rechtsanwalt hat es auch betreut mit den Mietern, weil die zum Teil keinen Strom hatten, das Wasser hat nicht mehr richtig funktioniert, zum Teil hatten sie keine Privatkästen mehr. Es war vom Wohnstandard her wirklich eines der schlimmsten Häuser die ich je gesehen hab. ATMO: Gang SPRECHERIN: Die Stadt Wien, sagt Verena Mörkl, übernimmt für jede Form von Wohnen Verantwortung, gerade auch für die Gründerzeit. Gespannt öffnet sie das Gangfenster im obersten Stockwerk. Der Blick fällt auf einen Terrassengarten mit winterlichen Gräsern. Zwei Stockwerke wurden aufgesetzt, das Dach ausgebaut. Fast doppelt so viel Wohnfläche entstand. Jetzt gibt es einen Aufzug und im Erdgeschoss einen Kinderwagen- und Fahrradabstellraum. Mit rund 2 Millionen Euro hat die Stadt Wien die Sanierung gefördert. "Ein Teil der Mieter konnte sogar wohnen bleiben", erzählt Verena Mörkl. Ein gelungenes Beispiel für Nachverdichtung im Gründerzeitviertel? Daniel Glaser nickt zufrieden. Ich glaube das ist eben genau dieses Besondere an diesem Modell der sanften Stadterneuerung, wo man eben gesagt hat, für uns ist Stadterneuerung und Sanierung keine rein technische Aufgabe, sondern eine soziale oder eine sozialpolitische Aufgabe. Und man hat versucht, den privaten Hauseigentümern mit Förderungen Anreize zu bieten, um eben Wohnungen zu sanieren, ganze Häuser zu sanieren; gleichzeitig aber eben auch Mieter und Mieterinnen, die eben in diesen Wohnungen bleiben wollten, sich keine höheren Mieten leisten konnten, die Möglichkeit gegeben zu sagen, nein, meine Wohnung wird nicht saniert. Und dann hat man diese eine Wohnung von der Gesamtsanierung ausgenommen. SPRECHERIN: Daniel Glaser genießt den Blick in den Wolkenhimmel mitten in Wien. Der Mühlviertler Stadtforscher ist überzeugter Innenstadtbewohner. Niemals würde er in ein Stadterweiterungsgebiet am Rande Wiens ziehen. Ökologische Gründe spielen da auch eine große Rolle. OT 3 Glaser Also ökologisch wertvollere Flächen am Stadtrand kann ich schonen indem ich Stadtlücken im Stadtinneren bebaue. Also ich wohn sehr gern in der Gründerzeit. Der Vorteil der Gründerzeit in Bezug auf smart city, eine ressourcenoptimierte Stadt mit Lebensqualität, ist sicher, dass es eine fußläufige Stadt ist. Damals wie die Gründerzeit entstanden ist hat es noch keine Autos gegeben und so wurde sie auch geplant: Kleinteilig mit einer guten Nahversorgung. Und der Vorteil der Gründerzeit ist ja, dass sie schon 120 Jahre alt ist und dass natürlich zwei Weltkriege stattgefunden haben und dass viel zerstört worden ist, dass vieles neu aufgebaut worden ist, manches von der Gemeinde aufgebaut worden ist, manches in Eigentum ist. Es gibt Dachgeschoßausbauten, es gibt nach wie vor Substandardhäuser, und diese lange Zeit hat einfach Spuren in dieser Zeit überlassen, die einfach ein sehr diversifiziertes Wohnungsangebot hervorbringen. SPRECHERIN: Zudem ist das Gründerzeitviertel immer noch ein gut leistbares Wohnviertel für Ankommende, ergänzt Verena Mörkl; ob aus Osteuropa oder den Bundesländern. "Wir sind ja auch Zugezogene", lacht die Oberösterreicherin. Eng stehen die Häuser in Reih und Glied; Baukräne gibt es viele. Ist die Stadt nicht schon dicht genug? Gut, wir haben jetzt eine Blockverdichtungsstudie gemacht, und da ist rausgekommen, dass die Flächenwidmung, die ja eine gewisse Ausbaumöglichkeit der Stadt vorgibt, ein Wachstum nach oben zulasst. Was laut Flächenwidmung noch möglich wäre, sind um die 20.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche. Das geht jetzt nicht darum, dass man sagt, wir müssen jetzt alles aufzonen, das ist nicht das Thema, sondern es gibt Potential, das ungenutzt ist. ATMO Straße, Schritte SPRECHERIN: Es gibt aber auch noch ganz andere Möglichkeiten, Wohnraum zu gewinnen. Ganz in der Nähe des Wollner-Hofs führt Daniel Glaser in einen Hinterhof. Die Hofbebauung ist sein Lieblingsthema. "Freie Räume. Strategien für den Wiener Block": Darüber hat er eine ganze Forschungsarbeit geschrieben. ATMO ruhiger Innenhof In dem Innenhof des Wohnblocks steht seit kurzem ein zweigeschossiges Seitenflügelhaus mit Balkonen und kleinen Vorgärten; Gartenwerkzeug, Spielsachen liegen umher. Hell ist es dort, ruhig. Das ist sicher eine Qualität, die man doch der sehr dichten und belebten und lauten Gründerstadt nicht zutrauen würde. Also dieses ganz nahe Beieinander von sehr sehr hoher Öffentlichkeit und sehr sehr hoher Privatheit, das ist schon die Qualität dieses Wiener Blocks, dieser Blockrandbebauung. Das ist ein Sanierungsprojekt, wo auch ein merkbarer Neubauanteil passiert und nicht nur Dachgeschosswohnungen, die vielleicht auch für günstigere Preise zu haben sind als diese Dachgeschoßwohnungen. SPRECHERIN: Platz hat auch ein Hofhaus mit Waschküche und Gemeinschaftsraum sowie ein Kinderspielplatz. Jahrelang hat man bei der Stadterneuerung versucht, die Höfe mit sicheren Durchwegen zu öffnen. Ein falscher Ansatz, meint Daniel Glaser und lacht spitzbübisch. Man muss einfach schauen, dass die Straße weniger gefährlich wird und vielleicht die Autos weniger schnell fahren, damit man dort sich auch als Kind oder als alter Mensch sicher bewegen kann und sollte die Höfe lassen und ihnen diese Privatheit nicht einfach wegnehmen. SPRECHERIN: Direkt an den neu bebauten Innenhof grenzt der Hinterhof des Hauses, in dem die Büroräume der Ottakringer Gebietsbetreuung untergebracht sind. Jetzt hat Verena Mörkl von ihrem Schreibtisch aus einen schönen Ausblick. Wenn man sich überlegt was da vorher war: Dahinter war eine sicher eine um zwei Meter höhere Feuermauer als dieses Projekt ist, eine Betonmauer, die grau angestrichen war. Und das ist jetzt für den Hof sicher eine Aufwertung, dass dieser Mauer eine Bebauung vorgesetzt wurde. Ich hab einfach ein Leben im Hof. ATMO: Hof Musik Mod Sieben Areale in den Bezirken Floridsdorf, Liesing, Favoriten und Landstraße sollen - so die Planung - in Kürze bebaut und dadurch attraktiver werden. Geplant sind auf insgesamt 177 Hektar 13.400 - größtenteils geförderte - Wohnungen für bis zu 33.000 Menschen. Zusätzlich zu den sieben Arealen werden derzeit auch unter anderem beim Haupt-, Nord- oder Nordwestbahnhof und in der Seestadt Aspern Tausende neue Wohnungen geschaffen. Atmo Aspern ist ein Stadtteil im Nordosten von Wien. Die Seestadt auf dem ehemaligen Fluggelände zählt zu den größten Stadtentwicklungsprojekten Europas. Auf einer Gesamtfläche von 240 Hektar - das entspricht etwa 340 Fußballfeldern - soll bis 2022 ein neuer multifunktionaler Stadtteil mit hochwertigen Wohnungen und großzügigen Flächen für Büros, Produktions- und Dienstleistungsunternehmen entstehen. Mehr als 20.000 Menschen werden dann dort leben, rund 20.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die ersten Bewohner sind bereits eingezogen. Rep 3: Seestadt Aspern ATMO Wohnung Kinder Ich mag einen Frühstückskuchen, mein Geburtstagskuchen... SPRECHERIN: Oskar robbt mit seinem Polizeiauto durch die große Wohnküche. Zweieinhalb Jahre ist er alt; seit Herbst 2014 wohnt er mit seinen Eltern in der Seestadt Aspern. Für uns war wichtig, dass wir ein bisschen mehr ins Grüne ziehen, vor allem seit wir Kinder haben. Wenn im Sommer die Parks aufhaben, das wird ziemlich fein, und die Donauauen sind nicht weit weg, also das ist ziemlich schön. SPRECHERIN: Silja Topfstedt, die Mutter des kleinen Oskar, zeigt auf den Hannah-Arendt-Park vor ihrer Terrassentüre; er ist frisch angelegt, noch sind die Bäume klein. Rechts wächst der neue Schulcampus in die Höhe, links stehen Container vor halbfertigen Wohnblocks; am Horizont reihen sich Baukräne. "Der Himmel ist so weit", schwärmt die geborene Berlinerin mit der kleinen Lisa auf dem Arm. Sie hat in Wien Lehramt studiert und ist derzeit in Karenz; ihr Mann Fabian betreibt als Informatiker eine eigene Firma. Neun Jahre haben sie mitten in Wien gelebt. Wir waren im Innenstadtbereich relativ unzufrieden mit der Qualität des Wohnraums, den man für mit Arbeit leistbarem Geldeinsatz bekommen konnte und sind dann auf diese Baugruppe aufmerksam geworden, sind nachgerückt in eine sehr schöne Wohnung, die sonnendurchflutet und ganz oben ist und fanden die Leute sehr sympathisch und fanden das angenehm mit einer Gruppe von Menschen auf diesen noch grünen Fleck am Rande von Wien zu ziehen, an dem wir halt niemanden kannten. SPRECHERIN: Mit bisher neunhundert weiteren Bewohnern sind sie nun Pioniere eines gigantischen Stadterweiterungsprojekts; in einigen Jahren sollen hier 20.000 Menschen leben und arbeiten. Oskar: Schau mal, ich hab zwei Stühle gebaut.... SPRECHERIN: Alle sind hier im Baufieber; selbst auf seinen Geburtskuchen wünscht sich Oskar ein Haus. Fabian Topfstedt fährt sich über die kurzen Haare und lacht. Fabian : Wir hatten eine gemeinsame Planung. Die Grundrisse konnten wir einigermaßen frei entschieden, was dazu führte, dass unsere Wohnung jetzt einen Kinderflügel und einen Erwachsenenflügel und in der Mitte ein Wohnzimmer hat. Genau . ATMO: Oskar...schau mal! SPRECHERIN: Schau mal! Da gibt es im Zentrum des Stadtviertels einen Baggersee, bald einen gemeinsamen Gemüsegarten und unten im Haus eine Werkstatt und einen Salon mit professioneller Küche für Zusammenkünfte aller Art; vielleicht Filme in Originalsprache? Mit zu erleben, wie eine Stadt entsteht, das begeistert die junge Familie. Mit der U-Bahn ist man in 25 Minuten im Zentrum Wiens; noch sind die Intervalle zu lang. Fabian: Wir leben im Moment ohne Auto. Wir haben Mietwagen, wir haben caresharing- Karten aller Art im Portemonnaie, vertrauen halt darauf, dass das Mobilitätskonzept der Seestadt aufgeht und wir uns dann nur noch vier Monate nach einem Auto sehnen und dann ist es irgendwie gelöst. Momentan ist es einfach noch nicht ideal. SPRECHERIN: Dass es kein Einkaufszentrum geben wird, sondern eine Einkaufsstraße zum Flanieren, verspricht ein Stück lebendiger Urbanität, meint Silja Topfstedt optimistisch. Reißbrettstädte am Stadtrand haben das selten. Silja: Dadurch dass wir das wirklich von Grund auf alles mitbekommen, wie alles wächst und gedeiht und welches Geschäft eröffnet wird, ist das für uns auch was wahnsinnig persönliches, so komisch das jetzt vielleicht klingt. Der Bäcker, der dann hier einzieht, das ist unser Bäcker... Fabian: Es wird einen Buchhandel geben, der eben auch ein Café ist und Lesungen anbieten möchte und zubringt, was Amazon und Thalia nicht bieten können. ATMO: Treppenhaus SPRECHERIN: Neben Familie Topfstedt wohnt Kurt Hofstetter mit seiner Frau; die Kinder sind schon aus dem Haus. Der erfahrene Stadtplaner ist in der Wiener Entwicklungsgesellschaft 3420 für den öffentlichen Raum und alle Grünräume in der Seestadt zuständig. Lächelnd zeigt er auf die breiten Gehwege vor dem Haus. Wenige Autos sollen dort parken; ungestört soll der Seestädter flanieren können. Ruhig schenkt er sich eine Tasse Tee ein. Deshalb haben wir wenige Stellplätze an den Straßen angeboten, weil üblicherweise die Straßen voll sind, die Garagen leer, und die Garagen kosten viel Geld und es ist unsinnig. Wir haben z.B. für jeden Garagenplatz einen Betrag eingehoben, der in einen Fonds fließt, einen Mobilitätsfond, aus dem wird z.B. Carsharing wieder finanziert. SPRECHERIN: Kurt Hofstetter steht vor seiner Terrassentüre und blickt in den Abendhimmel. Die Lichter gehen an in der Seestadt. Bald wird es auf der Sonnenallee und der Janis- Joplin-Promenade - ja, Janis Joplin, alle Straßennamen sind hier weiblich! - quirlig zugehen; davon ist er überzeugt. Was man als Schlafstadt bezeichnet wird hier nicht passieren, da bin ich vollkommen überzeugt, und ich würde nicht hierher gezogen sein, wenn die Gefahr bestünde. Wir haben ganz bewusst in der Masterplanung und der Ausschreibung darauf geachtet, dass es Kleinteiligkeit gibt, dass die Leute auf die Straße raus-und reingehen, und dass man nicht in jedem Haus eine Tiefgarage findet. SPRECHERIN: Dass das Passivwohnhaus der Baugruppe Jaspern Kriterien der Nachhaltigkeit erfüllt und bereits den "Klima:aktiv-Preis" erhalten hat, macht ihn stolz. Die achtzehn Parteien sind alle Eigentümer; übrigens bislang das einzige Modell mit Eigentum. Das Gros der Wohnungen in der Seestadt wird mit Mitteln des geförderten Wohnbaus finanziert. Kann sich das auch jeder leisten? Der geförderte Wohnbau, der ist eine Mittelschichtförderung, das ist so. Es gibt aber daneben Programme, die günstigere Wohnungen anbieten. Die Wohnbaupolitik hat es 'Smart wohnen' genannt; 'Smart wohnen' heißt in Wien, klein aber leistbar. Diese Wohnungen werden auch hier gebaut. Die Baugruppen haben sicher auch die Funktion zu zeigen, was noch möglich ist. Im Grunde sind sie ein Tropfen auf den heißen Stein und holen Leute rein, die sonst nicht in den geförderten Wohnbau gehen würden. Insofern ist es für die Diversität gut und das war ja auch das Ziel, verschiedene Gruppen anzusprechen. SPRECHERIN: Kurt Hofstetter lebt hier ohne Auto. Er singt im Chor der Seestadt Aspern; im Zentrum seines großzügigen Wohnraums steht der Herd. Dass sich hier eine Form von Gemeinschaft entwickeln kann, die er in seinem alten Wiener Stadtquartier vermisst hat, macht ihn zu einem überzeugten Seestädter. Ich geh jederzeit raus, klopf irgendwo an, wir treffen uns manchmal am Dach zum Kartenspielen oder was immer. Die Kinder haben Freundschaften geschlossen: Das ist eigentlich genial im Gegensatz zu einem Haus in das man einzieht und jeder verschwindet hinter seiner Tür. Man muss keine Gemeinschaft suchen oder haben, wenn man sie nicht will. Aber wenn man sie haben will, findet man immer was. Musik Musik Lit 2 LITERATUR 2 Im Park ) bitte ist hier frei nein hier ist besetzt danke bitte ist hier frei nein hier ist besetzt danke bitte ist hier frei nein hier ist besetzt danke ist hier frei nein hier ist besetzt danke ist hier frei hier ist besetzt danke ist hier frei nein besetzt danke bitte ist hier frei nein danke hier frei besetzt danke ist hier frei nein hier ist leider besetzt danke ist hier frei bitte danke Musik hoch Atmo MOD Mit der steigenden Bevölkerungszahl wird sich auch die demografische Struktur der Stadt ändern. Es werden, so die Prognosen, schon in wenigen Jahren überproportional viele Menschen im Rentenalter und Kinder unter 14 Jahren dann in der Stadt leben. Es wird also einen großen Bedarf an staatlichen Einrichtungen für die Kinderbetreuung und Altenpflege geben. 54 Senioren-, Pflege- und Altenheime beziehungsweise Seniorenresidenzen gibt es zurzeit in Wien. Schon heute viel zu wenige. Die Nachfrage nach Privatinitiativen und alternativen Wohnformen ist deshalb groß. Bei Angeboten, die ein gemeinschaftliches Wohnen vorsehen, wird einem Generationenmix eindeutig der Vorzug gegeben. So beispielsweise im Kolpinghaus "Gemeinsam leben" in Wien- Leopoldstadt. Rep 4: Altersheim ATMO 1 Theaterwerkstatt....Musik, Stimmen, lustige Blasinstrumente SPRECHERIN: Paola Borghese strahlt; die Augen leuchten. Sie lächelt vielsagend, als hüte sie ein Geheimnis. Mit sanften Bewegungen schwenkt sie die roten Seidentücher. Sie ist im Zirkus und hat ihren großen Auftritt. Dass die Musik aus dem Smartphone kommt, die Zirkusmanege ein Veranstaltungsraum im Altenheim ist und sie im Rollstuhl sitzt, scheint keine Rolle zu spielen. ATMO 1 Theaterwerkstatt....Musik, Stimmen, Pfeifen... Herzlich willkommen im Zirkus! SPRECHERIN: Resolut dirigiert Theaterpädagogin Ulrike Pleyer die Seniorengruppe. Bei der Fledermausquadrille fassen sich alle an den Händen, klatschen vier Mal, schwingen nach rechts und nach links. Koordinationsfähigkeiten sind da gefragt. Paola Borghese, Jahrgang 1939, ist die Eifrigste. Ich bin eine bekannte Malerin, meine Bilder sind im Internet und innerhalb von zehn Jahren hatte ich über 80 Ausstellungen. Ich mach überall mit, es geht nicht anders, man muss was unternehmen. ATMO Theaterwerkstatt....So ja wunderbar und rechts, links, rechts, links... SPRECHERIN: Acht Mal hier und acht Mal da - für Ludmilla Reiter ist nichts zu kompliziert. Nach einem Unfall vor einem Jahr sitzt sie im Rollstuhl. Wir sind dabei, dass die Zeit ein bissl interessanter wird. Weil sonst nur im Zimmer, da schaut man sich nur an, schaut ins Fernsehen, und so hat man doch ein bisschen Unterhaltung und kommt mit den anderen auch zusammen. Es kommen auch Kinder; man lernt jeden Tag a bissel was anderes dazu. Es ist ja jeden Tag irgendwas. ATMO: Gang... SPRECHERIN: Da gibt es zum Beispiel Tyrell, ein quirliger Junge mit acht Jahren . Tyrell (singt ): Hoh, hoh, hoh... SPRECHERIN: Und er kommt nicht nur auf Besuch, er lebt hier im Kolpinghaus mit seiner Mutter; im Mutter-Kind-Trakt, gleich neben den Pflegestationen. Alleinerziehende Mütter in Schwierigkeiten können hier für zwei Jahre Aufnahme finden, bis sie eine Wohnung "draußen" finden. Der jüngste Bewohner hier ist ein paar Wochen alt, die älteste Bewohnerin knapp 104. "Generationenmix" heißt das in der Fachsprache. Tyrell: Ich seh viele alte Menschen. Es ist gut, sind aber nicht meine Opa und Oma, die sind auf den Philippinen. Mami, Mami, bin ich hier geboren, in Wien oder in Philippinen? ATMO: Wohnung "In Wien", ruft Tyrells Mutter aus der Küche, wo sie gerade den Einkauf verräumt. Erst gestern war er im Café Mix, ein Treffen von Altenheimbewohnern, Müttern und Kindern hier im Haus. Karten haben sie dort miteinander gespielt, UNO, erzählt er, und noch etwas; aber das fällt ihm nicht mehr ein. Ein paar Türen weiter wohnt die zehnjährige Corinna. ATMO: Gang/anklopfen "Leider ist sie gerade nicht zuhause, sie ist zu ihrer Oma gefahren", sagt ihre Mutter. Corinna ist im ganzen Haus für ihre Kontaktfreudigkeit bekannt. Sie schiebt Rollstühle und lackiert den alten Damen auch die Fingernägel. ATMO: Empfang, Café SPRECHERIN: Im Eingangsbereich des Hauses geht es zu wie in einer Hotelhalle. Das Café ist gut besetzt, der Brunnen plätschert. ATMO: Empfang, Café , Grüß Gott Wolfgang Brillmann eilt durch das Haus; er ist für den Bereich "Lebensqualität" verantwortlich; dafür, dass die Interessen und Bedürfnisse vieler sehr unterschiedlicher Menschen berücksichtigt werden. Das betrifft übrigens auch die Religion, obwohl das Kolpinghaus ein dezidiert christliches Haus ist. Brillmann: Wir haben alle Konfessionen hier da, von angefangen ohne Glaubensbekenntnis bis hin zu Muslime. Und da gibt's auch ein Miteinander, da spüren wir nicht irgendwo Diskrepanzen, da wird miteinander gelebt und die Religion, der Glaube ist da nebensächlich. Kein Problem für mich. Ich selbst bin kein Katholik, ist für mich immer das beste Zeichen; ich bin da selbst aufgenommen und tu da meine Arbeit und meine Aufgabe. ATMO Pflegestation, Würfel SPRECHERIN: Heute ist Spiele-Nachmittag auf den Stockwerken. Heimbewohner: Ich darf einmal würfeln. Eine Drei haben wir, eins, zwei, drei... SPRECHERIN: Naila und Mira kichern. Sie sind Schülerinnen aus der nahegelegenen Mittelschule und besuchen einmal im Monat Bewohner des Kolpinghauses, um mit ihnen "Mensch-ärgere-dich-nicht" zu spielen. Der alte Herr hat einen Schlaganfall gehabt. Das Spiel beruhigt ihn. Heimbewohner: Wir schummeln nicht, spielen alle ganz ehrlich... Naila: Gewonnen!!! ATMO: Pflegestation,spielen SPRECHERIN: In einer Ecke sind zwei dunkelhaarige Mädchen mit einer weißhaarigen alten Dame ins Gespräch vertieft. Sie erzählen von Heimat, die längst keine mehr ist. Anastasia : Ich komm aus Serbien. Angela: Ich komm aus Schabatz... Frau Rimanek: Schabach? Angela: Schabatz, das ist neben Novi Sad... Frau Rimanek: Novi Sad, wo ist Novi Sad? Ich bin aus Neutitschein, oder Novy Jicin heißt das auf Tschechisch, Novy Jicin, das ist meine Heimat... SPRECHERIN: Dass sich zwei so junge Mädchen für ihre Heimatstadt interessieren, aus der sie am Ende des 2.Weltkrieges vertrieben wurde, überrascht sie. Frau Rimanek: Habt ihr vom Hückel was gehört? Nein... Frau Rimanek: Mein Gott, da war ich auch jung gewesen. Jetzt bin ich 90, die Firma gibt's wahrscheinlich nicht mehr, die Hutfabrik, das war die Hückelfabrik, da haben viele Leute gearbeitet in der Hutfabrik... SPRECHERIN: Nicht einmal ein Foto hat Frau Rimanek von Neutitschein. Anastasia und Angela schauen sie verwundert an, erzählen, dass sie jeden Sommer ihre Verwandten in Serbien besuchen. Frau Rimanek schüttelt den Kopf. In ihrer Heimatstadt in Tschechien ist sie seit ihrem Weggang nie mehr gewesen. Frau Rimanek: Wie soll ich sagen, das sind so schöne Erinnerungen von zuhause, die lass ich mir nicht zerstören. So ist es, rausgeschmissen und aus. Meine Eltern leben nicht mehr, mein Bruder lebt auch nicht mehr, was soll ich.... SPRECHERIN: Frau Rimanek hat keine Kinder, keine Enkelkinder. Wo ist die Oma von Anastasia und Angela, will sie wissen ? Anastasia: Sie ist hergekommen wegen uns... Frau Rimanek: Wenn die Kinder da sind, die kümmern sich dann schon um die liebe Oma, weil die Oma war immer sehr lieb zu ihnen, stimmts? Anastasia: Ja... SPRECHERIN Die alte Dame lehnt sich zurück. Die Erinnerungen, jetzt sind sie wieder da. Frau Rimanek: Die wollen das wissen, was wir schon längst vergessen haben... Kommt's wieder (sehr leise)... SPRECHERIN: "Kommt`s wieder", ruft Frau Rimanek fast schon heiter. Vielleicht bringen ihr Angela und Anastasia beim nächsten Besuch in vier Wochen ein Foto von Neutitschein mit. Das kann man ganz leicht im Internet finden. Musik Mod Wien war schon immer ein Schmelztiegel von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion. Zurzeit beträgt der Ausländeranteil 19 Prozent. Nach einer Prognose wird er in 20 Jahren bei rund 28 Prozent liegen. Das bedeutet, die Tendenz zur Ghettobildung wird sich - laut einer Untersuchung der österreichischen Akademie der Wissenschaft - weiter verstärken. Zum Beispiel im Stadterweiterungsgebiet rund um den Nordbahnhof. Diese Entwicklung ist zwar keineswegs dramatisch und für europäische Großstädte sogar typisch, jedoch: Die integrationspolitischen Herausforderungen könnten sich künftig noch verschärfen, vor allem im Bereich des Bildungswesens angesichts der prognostizierten Zunahme des Anteils der ausländischen Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung. Atmo 35 Jugendzentren gibt es zurzeit Wien. Eines davon befindet sich in der Vorgartenstraße 116 und steht seit nicht allzu langer Zeit mit regelmäßigen Öffnungszeiten den Teenies und Jugendlichen zur Verfügung. Diese Jugendeinrichtung bietet auf rund 370 m² eine moderne, jugendadäquate Ausstattung. Neben dem Offenen Treffpunkt ist der neue Jugendtreff auch Stützpunkt für Jugendarbeit im Öffentlichen Raum. Rep 5: Jugendtreff ATMO Jugendzentrum /Musik/Karten OT 1 Jugendlicher Sie gewinnt die ganze Zeit.. SPRECHERIN: Es ist Freitagabend. Im Jugendzentrum Nordbahnhof treffen sich die Kids aus den umliegenden Wohnblöcken. Das Kartenspiel UNO ist beliebt, vor allem wenn Betreuerin Lisa mitspielt.. Lisa ...weil du so viel geschummelt hast... SPRECHERIN: Erst letzten Herbst hat der Jugendtreff aufgemacht. Das Viertel auf dem ehemaligen Bahngelände nahe der Donau wächst ständig; vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund leben hier. "Nur hundert Meter Luftlinie entfernt befindet sich das Wiener Integrationshaus", erzählt Jugendtreffleiter Friedl Sperk. Ruhig lehnt er an der langen Bar. Bis zur Schließung um halb zehn am Abend ist er mit drei Betreuerinnen und einem Zivildienstleistenden vor Ort. Sperk: Vor 25 Jahren sind die Jugendarbeiter in den Einrichtungen geblieben, und jetzt sind wir viel draußen unterwegs. Eine Vernetzung ist wichtig, eine Jugendbeteiligung ist wichtig, und es ist einfach spannend dabei zu sein gerade in einem Stadtteil der neu aufgebaut wird. Wir kriegen hier einen großen Schulcampus hergebaut, und da wär interessant, dass auch die Jugendlichen die hier leben und nicht die Schule besuchen, die Räume und die Freizeitmöglichkeiten dort mit gestalten und auch mitbenützen können. SPRECHERIN: Ein Junge mit schwarzer Baseballkappe greift nach dem Mikrofon. Jetzt gibt es eine Rap-Performance ATMO Anlage Snapper Hah!!! So meine Leute, mein Name ist Snapper; ihr findet mich auf you tube unter S.N.A.Y.P.A, ihr wisst Bescheid, Snapper. Snapper (rappt) Ich bin der Scharfschütze... SPRECHERIN: Vor zehn Jahren ist er mit seinen Eltern aus Tschetschenien geflohen. Jetzt hat der Siebzehnjährige einen Konventionspass. Snapper ....mit meiner Handfläche boxe ich Sandsäcke usw.. SPRECHER: Seine tschetschenischen Freunde hören ihm zu. Wenn sie Bürgermeister von Wien wären, was würden sie verändern? J 1: Alle Nazis raus... J 2: Nein, ich würde wenn man Islam beleidigt, dass man eine Anzeige kriegt, wie bei den Juden. Weil wenn ich sag Scheißmoslem krieg ich keine Anzeige, wenn ich sag Scheißjude krieg ich eine Anzeige, das darf nicht sein. J 1: Wenn man Neger sagt, ist man Rassist, wenn man Juden beschimpft, ist man Anti-irgendwas-keine Ahnung, und wenn man Moslems schimpft ist das Meinungsfreiheit... ATMO Rapmusik SPRECHERIN: Friedl Sperk hört zu, zurückgenommen, im Hintergrund. Er zeigt auf ein Foto an der Wand hinter der Theke. Arabische und jüdische Jugendliche aus Jerusalem waren unlängst im Austausch in Wien zu Gast. "Sieht man auf dem Foto, wer Moslem ist und wer jüdischen Glaubens? Deswegen hängt das Foto da", lacht er. Auch er hat seinen "Migrationshintergrund"; ein Wort, das er etwas skeptisch betrachtet. Friedl Ich bin eigentlich die 3.Generation Tscheche, aber ich fühl mich nicht so als Tscheche. Ich kann mit dem Tschechischen gar nichts anfangen. ATMO: Tischfußball Im Nebenraum wird Tischfußball gespielt. Die vier Jugendlichen sind aus der Türkei, Tschetschenien und Afghanistan. Zwei arbeiten als Maurer, die anderen gehen noch zur Schule. Wie würden sie Wien verändern, wenn sie mit gestalten dürften? J1: Ich würde alle Terroristen rausschmeißen und werde Ausländer in Österreich lassen. ATMO: Tischfußball J2: Ich krieg da Arbeit, ich krieg da Geld, ich kann da Schule gehen, ich kann studieren, meine Vater kriegt Geld, meine Mutter kann da leben, aber es ist ein Problem mit Kopftuch, sie lassen nicht mehr Kopftuch... J3: Früher war das nicht. Ich lebe seit 13 Jahren in Wien. Es kommt das erste Mal vor, dass Frauen mit Kopftuch geschlagen werden. Diese Frau, die geschlagen wurde, ist Mutter von meiner Freundin, ich kenn sie; es wurden nicht einmal 2 Zeilen geschrieben was diese Frau erlebt hat, oder was auch immer. ATMO: Tischfußball SPRECHERIN: Der Ball fliegt mit Wucht ins Tor. Mit den "Radikalislamisten" , wie sie sagen, wollen alle nichts zu tun haben. Das weiß auch Betreuerin Theresa. Bei uns kommen sie mit Ansichten, die wir nicht so ganz vertreten können oder mit irgendwelchen Verschwörungstheorien. Und das hören wir uns halt an und dann fragt man eben nach und diskutiert darüber, und sie wollen dann auch unsere Meinung hören. Man kann eine gute Gesprächsbasis führen, bei allen funktioniert das super. ATMO: Musik türkisch SPRECHERIN: Freitagabend sind meistens nur Jungen da. Das geht so in Wellenbewegungen, sagt Friedl Sperk. Mustaffa aus Bosnien zieht die Wollmütze bis über die Augenbrauen. Er hat seine eigene Anlage mitgebracht und singt Karaoke. Er wünscht sich in der wachsenden Stadt Wien mehr Räume um Musik zu machen. ATMO: Musik türkisch "Fitnessgeräte im Park und mehr Ballkäfige, das wäre hier im Stadterweiterungsgebiet schon cool", findet Dominik. Abseits der Spieltische surft er mit seinem rumänischen Freund im Internet. Der gebürtige Serbe hat bereits die österreichische Staatsbürgerschaft. Smart sieht der Siebzehnjährige aus, gut gekleidet. Seit drei Monaten arbeitet er als Kellner. "Das Wien der Zukunft muss noch viel sozialer werden ", wünscht er sich. Was konkret würde er machen, wenn er Bürgermeister von Wien wäre? Dominik Ein Jugendzentrum, wo man halt wirklich alles machen kann für Jugendliche, die Probleme haben, die Geldnot haben und so und so einiges. Ich würd' der Caritas viel mehr spenden. Flüchtlinge, die müssen sich aufteilen, damit genug Platz für alle gibt. Ich liebe Österreich über alles, Wien. Ich bin hier groß geworden. Wenn ich eine Woche in Serbien bin, dann freu ich mich schon wieder hier zu sein. ATMO: Musik Musik Mod Sie hörten Gesichter Europas: Wien wächst - Eine Stadt plant ihre Zukunft. Eine Sendung mit Reportagen von Antonia Kreppel. Musik und Regie: Babette Michel; Ton und Technik: Angelika Brochhausen und Ernst Hartmann. Die Gedichte stammten von Ernst Jandl. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber Musik 2