KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: "Brooklyn-Noir" Verbrechen und andere Kleinigkeiten in New Yorks berühmtem Stadtbezirk Autor : Katharina Wilts Redaktion: Sigried Wesener Sendetermin: 01.06.2010 Besetzung: Sprecher I Sprecher II Sprecher III Autorin (besetzen) Musik + o-Ton Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Brooklyn Noir Verbrechen und andere Kleinigkeiten in New Yorks berühmten Stadtbezirk Musikvorschläge: Roy Ayers "We live in Brooklyn Baby" Mark Knopfler "Tralala" aus "Last Exit to Brooklyn" Tom Waits "In the neighborhood" Musik (unterlegen) Sprecher 3: Der Mensch lebt nicht, der Brooklyn durch und durch kennt, denn man braucht'n ganzes Leben, um in der verflixten Stadt Bescheid zu wissen. O-Ton 1 / Sprecher 1 Alles was man machen kann, ist den eigenen kleinen Ausschnitt zu kennen. Genau die Idee brachte mich zum Schreiben, genau das brachte mich dazu, meine Geschichten zu erzählen und vor allem den Roman zu schreiben. (McLoughlin) Sprecher 3: Fährt nach Bensonhurst raus, weil ihm der Name gefällt! Läuft nachts in Red Hook rum und guckt auf seinem Plan nach! Fragt mich, wie viele Leute ich hier draußen in Brooklyn ertrinken sah! Und wie lange einer braucht, bis er alles weiß, was man von Brooklyn wissen kann! Herrje! Der hatte'nen Sparren! O-Ton 2 /Sprecher 2 Als ich "Die Festung der Einsamkeit" geschrieben habe, ein sehr dickes Buch, wurde ich oft gefragt, ob ich versuche, den großen Brooklyn-Roman zu schreiben. Ich sagte "nein", ich kann mir nicht mal vorstellen, dass das möglich ist. Ich versuche, den großen Dean Street-Roman zu schreiben. Ich möchte wirklich nur eine Straße hinbekommen. Wenn ich das schaffe, bin ich zufrieden, aber die ganze Geschichte ist nicht zu erzählen. (Lethem) Musik - Verkehrsgeräusche unterlegen Autorin: Dean Street, Boerum Hill. Jonathan Lethem ist in dieser Straße aufgewachsen und hat dem Viertel in seinen beiden Brooklyn Romanen ein Denkmal gesetzt. In den 70er Jahren lebten hier vor allem Schwarze und Puertoricaner. Wo früher billige Kneipen waren, findet man heute französische Resaurants und zahlreiche Cafés. Musik - unterlegen Autorin: Etwas südöstlich davon, neben dem großen und schönen Prospect Park liegt Park Slope. Bekannt nicht nur durch Paul Austers Filme und Bücher. Seit vielen Jahren wohnt er in dem Viertel, zusammen mit seiner Frau Siri Hustvedt. John Wray, Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss gleich in der Nachbarschaft. Überquert man von dort den Gowanus Kanal in Richtung Westen, kommt man nach Cobble Hill, schon lange Wohnsitz von Paula Fox. Gediegener und teurer wird es weiter nördlich in Brooklyn Heights, gegenüber der Südspitze Manhattans. Der Blick auf die Skyline von der Promenade aus ist weltbekannt. Hier haben früher Arthur Miller, Norman Mailer, Henry Miller, Truman Capote und Thomas Wolfe gewohnt. Sprecher 3: Und trotzdem, ich frag mich, wie's ihm ergangen sein mag. Ob ihm einer den Hirnkasten eingeschlagen hat, oder ob er noch immer mitten in der Nacht mit seinem Stadtplänchen rumläuft. Der arme Kerl! Autorin Als Thomas Wolfe Anfang der 30er Jahre nach Brooklyn kam, hat er die Stadt selbst gerne zu Fuß erkundet. In seiner Kurzgeschichte "Nur die Toten kennen Brooklyn" wird der großgewachsene Fremde von den Einheimischen für verrückt gehalten. Nur zum Vergnügen fährt er in abgelegene Stadtteile. Aus reiner Neugierde streift er durch Straßen, die als gefährlich gelten. Mit dem Ausdruck eines Irren schaut er auf seinen Stadtplan und fragt, was aus den Leuten wird, die in der Stadt ertrinken. Sprecher 3: Und obendrein, sag ich Ihnen, muß ich lachen, wenn ich an ihn denk. Vielleicht hat er mittlerweile rausgefunden, daß er nicht lange genug leben wird, um ganz Brooklyn zu kennen. Um Brooklyn durch und durch zu kennen, braucht man'n ganzes Leben. Und selbst dann kennt man noch nicht alles. O-Ton 3/Sprecher 1: ...das ist der Typ, der von hier ist und der weiß, wie absolut unmöglich es ist, alles zu kennen....Und es ist gefährlich zu denken, dass man es besser kennt, als man es tatsächlich kennt.(McLoughlin) Musik - Verkehrsgeräusche unterlegen Autorin Brooklyn Heights, Park Slope, Williamsburgh und Boerum Hill liegen im Nordosten von Brooklyn. Manhattan ist von hier schnell und bequem zu erreichen. Umgekehrt war auch jeder New Yorker schon in den Vergnügungsparks und am Strand von Coney Island, ganz im Süden von Brooklyn. Aber dazwischen liegt viel unbekanntes Terrain: Brooklyn ist erstaunlich groß, unübersichtlich und vielfältig. Schon das Überqueren einer Straße offenbart oft eine neue Welt. Bis 1898 eine eigenständige Stadt, ist Brooklyn mit über 2.5 Millionen Einwohnern der größte New Yorker Stadtbezirk. Seine Bevölkerungsstruktur spiegelt alle Einwanderungswellen der USA wider. Noch heute sind fast die Hälfte aller Einwohner Brooklyns außerhalb der Vereinigten Staaten geboren. Italienische Einwanderer etablierten in Brooklyn die organisierte Kriminalität. Einige einflussreiche Familien hielten hier ihren Stammsitz. Al Capone ist in Brooklyn geboren. Der Stadtbezirk hat sich auch in der Kriminalgeschichte einen Namen gemacht. Große Teile galten lange Zeit als ausgesprochen gefährlich, aber die Anziehungskraft für Künstler, für Autorinnen und Autoren blieb ungebrochen und ist heute größer denn je. O-Ton 4/Sprecher 1: Ich denke, Brooklyn war für Schriftsteller immer besonders attraktiv, weil es erschwinglich war. Brooklyn war die billigere Alternative zu Manhattan. Deshalb gingen die Künstler dort hin und bevor die Künstler da waren, war die Arbeiterklasse da. Leute, die jeden Morgen zur Arbeit nach Manhattan fuhren und abends zurück nach Brooklyn kamen. Und wenn man eine astreine Arbeiterklassen-Gemeinschaft hat, wird das Klima rau. Brooklyn hatte schon immer den Ruf, eine harte Gegend zu sein. Wenn sich viele Leute, die Geschichten erzählen in einer harten Gegend niederlassen, entstehen harte Geschichten. (McLoughlin) Autorin Tim McLoughlin ist Autor und Herausgeber der erfolgreichen "Brooklyn Noir" Serie. Drei Bände sind bisher erschienen. Geschichten von Brooklyner Autoren über Gewalt, Verbrechen oder Verwahrlosung. Jeder Text hat ein anderes Viertel zum Schauplatz: Bensonhurst, Brownsville, Red Hook, Bay Ridge.Vor dem Leser enfaltet sich ein Stadtplan der dunklen Seiten Brooklyns. So unterschiedlich wie die Gegenden, sind auch die Texte. "Nur die Toten kennen Brooklyn" - könnte ein Motto sein für jeden von ihnen. Im zweiten Band kommen die Klassiker zu Wort: Musik Sprecher 2: Sie fläzten sich am Tresen und auf den Stühlen. Wieder so ein Abend. Wieder so ein endloser Abend beim Griechen, in der vergammelten kleinen Cafeteria nahe den Brooklyn-Kasernen, die die ganze Nacht offen hielt. Autorin Die Kneipe des Griechen am Hafen ist ein zentraler Ort in Hubert Selbys Episodenroman "Letzte Ausfahrt Brooklyn". Gelangweilte und gewaltbereite Jugendliche, Prostituierte, Transvestiten und Fabrikarbeiter sind die Protagonisten, die sich schonungslos gegenseitig demütigen, verraten, vergewaltigen und töten. Eine Abrechnung mit der amerikanischen Gesellschaft, mit männlichen Machtansprüchen und sexueller Gewalt. Sprecher 2: ...und Jack und Fred und Ruthy und Annie fielen in ein Taxi und lachten immer noch und sahen alle aus dem Fenster als sie an dem verlassenen Grundstück vorbeifuhren und sahen sich Tralala an die nackt dalag bedeckt von Blut Urin Samen und ein dunkler Fleck breitete sich langsam zwischen ihren Beinen wo das Blut hervorsickerte auf dem Autositz aus und Ruthy und Annie waren zufrieden und gelöst da sie in die Innenstadt fuhren und ihnen die Tour nicht vermasselt worden und jede Menge Geld für sie da war und Fred sah durchs Rückfenster hinaus und Jack schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen... Autorin Selby beschreibt eine Welt, in der Langeweile zu Gewaltexzessen führt und die persönliche Bereicherung über jedem Mitgefühl steht. Das Buch war bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1964 ein Skandal. Heute sind große Teile Brooklyns sicher, friedlich und teuer, die Häfen weitgehend stillgelegt. Doch mit der Armut wurden die Probleme nur weiter an den Rand gedrängt. Musik O-Ton 5/Sprecher 1: Die Art von Revierkämpfen ist seltsam, die um die 4th Avenue zwischen den alten Puertoricanischen Bewohnern und den Mexikanischen Immigranten gekämpft werden. Um Macht, ob ökonomische, politische oder kriminelle Macht - Leute kämpfen in diesen Straßen. Es ist ein Block- gegen-Block Krieg. (McLoughlin) Autorin Tim McLoughlin kennt den Schauplatz von Selbys Roman recht gut. Er ist nicht weit davon entfernt im Süden Brooklyns aufgewachsen. Das Viertel seiner Kindheit beschreibt er in seinem Romandebüt "Heart of the Old Country". Sprecher 1: Es waren vor allem Russen und Chinesen, die Immigranten der Stunde im Viertel. Als ich um die zehn war, waren es Griechen. Mein Vater sagt, als er ein Kind war, waren es Juden aus Osteuropa. Autorin Wenn eine Bevölkerungsgruppe die andere verdrängt, entstehen Konflikte. Und da es immer wieder neue Einwanderer gibt, verändern sich die Viertel ständig. Auf der Straße herrscht eine neue Sprache vor, in den Geschäften werden andere Nahrungsmittel angeboten, aber letztlich bleibt sich die Gegend doch treu. Sprecher 1: Klar, wann immer mehr als 20 Leute aus demselben Land in unserer Gegend landeten, schrie jeder auf, dass die Gegend vor die Hunde geht, und die Hälfte von ihnen rannte über die Verrazano Brücke nach Staten Island. Das witzige daran war, dass die meisten der Fremden nur zehn Jahre oder so blieben, bevor sie den Sprung in die Vororte machten....Mein ganzes Leben lang habe ich gehört, das Viertel würde sich verändern, aber es war immer noch so italo wie an dem Tag als ich geboren wurde. Autorin Wie Tim McLoughlin selbst, ist seine 19jähriger Held tief in seiner Brooklyner Heimat verwurzelt. Sein Viertel ist seine Welt. Manhattan sieht nur aus der Ferne betrachtet schön aus, im Rückspiegel, wenn das eigene zu Hause in Reichweite ist. Wie schon sein Vater hat er sich mit den mafiösen Machtstrukturen seiner Gegend arrangiert. Seinen Lebensunterhalt verdient er in einem Fahrservice und besucht abends ein College in Manhattan. Zwei Welten prallen aufeinander. Sprecher 2: "Was ist an den äußeren Stadtbezirken, das die Leute, ihre kleinen Enklaven so sehr verteidigen lässt?" Sprecher 1: "Vielleicht sind es Ausdrücke wie "kleine Enklaven"". Sprecher 2: "Entschuldigung" Sprecher 1: "Nein. Schon okay. Sie greifen mich nicht an. Je mehr Leute so denken, desto sicherer fühle ich mich." Sprecher 2: "Vor wem? Manhattanites?" Sprecher 1: "Manhattanites? Es gibt vielleicht zehn Manhattanites in ganz Manhattan". Autorin Tim McLoughlin bedient nicht das alte, bekannte Schema, in dem der arme Mann aus Brooklyn am Ende die große Welt erreicht, die Manhattan verkörpert. Doch über Brooklyn kann nicht gesprochen oder geschrieben werden, ohne Manhattan mitzudenken. Es ist die Nachbarschaft zu Erfolg und Glamour, von der Brooklyn profitiert. In dieser Nachbarschaft muss es sich aber auch behaupten. Trotz seiner Größe und historischen Bedeutung, hat Brooklyn ein Minderwertigkeitsgefühl, sagt Jonathan Lethem. Nach vielen Jahren in Kalifornien ist er nach Brooklyn zurückgekehrt und wohnt in genau dem Viertel, in dem er aufgewachsen ist. O-Ton 6/Sprecher 2: Brooklyns einzigartige Mischung aus Selbstverlorenheit und Stolz entsteht aus der Beziehung zu Manhattan. Manhattan ist die großartige Stadt, die große kommerzielle Hauptstadt und Brooklyn war immer der arme Verwandte. Aber immer noch nah genug dran an dieser Großartigkeit und diese Kombination aus Ablehnung und Angezogensein von Manhattan bewirkte das sehr starke aber sehr bittere Bewusstsein um die eigene Identität (Lethem) Musik Autorin Verglichen mit Brooklyn, wirkt Manhattan geradezu homogen. Wie eine globale Landkarte bildet Brooklyn die ganze Welt ab. Die einzelnen Viertel sind wie exilierte Staaten, die sich voneinander abgrenzen. Ist auf der einen Seite das Leben komplett arabisch geprägt, können auf der anderen Seite der Kreuzung alle Geschäfte geschlossen sein, weil Samstag ist und hier nur Juden wohnen. Und in dieser jüdischen Gegend herrschen wiederum ganz andere Regeln und Gepflogenheiten als in einer anderen. Sprecher 1: Um das Leben des einfachen Detektivs komplizierter zu machen, war jede Sippe in kleinere Lager unterteilt, wovon sich einige extrem voneinander unterschieden. Ein beiläufiger Besucher würde nur Männer mit Seitenlocken und großen schwarzen Hüten wahrnehmen und "Chassidische Juden" denken, und nicht wissen, dass Satmar Hasidim in Williamsburg und Borough Park gelebt hat und streng religiös und strikt abgeschirmt war während die Lubawitscher in Crown Heights und Midwood sehr viel lockerer mit ihren religiösen Regeln und ein Stück offener gegenüber New Yorkern anderer Art waren. Autorin Gabriel Cohen schreibt Kriminalromane. Sein Kommissar Jack Leightner ermittelt in Brooklyn. Es sind nicht die typischen "Who done it", die sich auf die Lösung des Falles konzentrieren, sondern der jeweilige Fall ist für Cohen eher eine Gelegenheit eine Nachbarschaft zu erkunden, sich mit der Geschichte eines Viertels zu beschäftigen und dessen Charakter zu ergründen. Zu verstehen, warum hier eine andere Atmosphäre herrscht als ein paar Straßen weiter. O-Ton 7/Sprecher 1: Wenn ich in den verschiedenen Vierteln herumlaufe, werde ich neugierig auf das, was da passiert. Brighton Beach zum Beispiel. Wenn man in Brighton Beach die Ubahn verlässt, denkt man, man wäre nach Russland befördert worden. Man befindet sich in einer anderen Welt. (Cohen) Sprecher 1: Jack nahm eine Dose in die Hand: Das Ettikett war mit Kyrillischer Schrift bedruckt und zeigte ein Bild von einem seltsamen artischocken-ähnlichen Gemüse, das er nicht mal identifizieren konnte. Auf Russisch riefen Kunden ihre Bestellungen den haarnetztragenden Frauen hinter der Theke zu, die an Laborkittel erinnernde weiße Kleidung trugen. Jack war überwältigt durch die fremde Sprache, den Lärm und das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Musik Autorin Brighton Beach, auch "Little Odessa" genannt, liegt neben Coney Island ganz im Süden Brooklyns und ist die größte russische Gemeinschaft außerhalb Russlands. "Neptune Avenue" ist eine der Hauptstraßen des Viertels und der Titel von Cohens neuem Roman. Für den Kommissar eine völlig fremde Welt, in die er im Laufe des Romans immer stärker hineingezogen wird. Er verliebt sich nicht nur in die Witwe des Opfers, sondern wird auch mit der Familiengeschichte seines eigenen aus der Ukraine stammenden Vaters konfrontiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Einwanderern hat sich der Kommissar assimiliert. Brooklyns Immigranten kommen oft nicht mit den gleichen Ambitionen wie Neuankömmlinge in Manhattan, die in der Finanzwelt oder Modebranche Karriere machen wollen und die Gabriel Cohen für sehr viel zielstrebiger hält. O-Ton 8/Sprecher 1: Es gibt dort viele verschiedene, sehr ambitionierte Welten. Leute kommen und wollen oft ihre eigene Welt, ihre ethnische oder kulturelle Identität loswerden, weil sie verschmelzen wollen und an die Spitze in einem dieser Bereiche kommen möchten. Während in Brooklyn die Leute eher kommen, um sich mit Leuten zu umgeben, die wie sie selbst sind. Zum Beispiel in Brighton Beach. Die Idee hier scheint eher zu sein "Wie kann ich meinen kleinen Brocken Russland erhalten" im Gegensatz zu "Wie können wir uns assimilieren". (Cohen) Musik Sprecher 2: Angelegenheiten der Minna-Agentur beschränkten sich in der Regel auf Brooklyn, auf die Umgebung der Court Street, um genau zu sein. O-Ton 9/Sprecher 2: Die beiden Brooklyn Bücher sind Erinnerungsbücher. Sie handeln ausdrücklich von diesem Leben, das ich kenne. Aufzuwachsen in diesem Ort, als er meine ganze Welt war, als Brooklyn mein Universum war. Es ist ein Ort, der für mich sehr schön und mysteriös ist. Ich habe die Bücher als einen Versuch geschrieben, das zu durchdringen. Ein Mysterium zu enthüllen, das natürlich nicht vollständig enthüllt werden kann.(Lethem) Sprecher 2: Carroll Gardens und Cobble Hill ergaben zusammengenommen ein verzwicktes Spielbrett aus Frank Minnas Verbindungen und Feindschaften, und ich, Gil Coney und die anderen Minna Men waren die Spielfiguren - wie Monopolysteine, dachte ich manchmal, Autos oder Hunde (sicherlich keine Zylinder)-, die auf diesem Brett hin- und hergeschoben wurden. Hier auf der Upper East Side bewegten wir uns abseits des uns bekannten Spielfelds.... Autorin: Lionell Essrog hat inmitten der Großstadt ein genau abgestecktes Revier, indem er zu Hause ist. Er stammt aus einem Waisenhaus und ist die Hauptfigur in Jonathan Lethems Roman "Motherless Brooklyn". Zusammen mit drei Freunden arbeitet Lionell für Frank Minna in einer subkriminellen Organisation, die sich Detektivbüro nennt und von Fahrdiensten lebt. Ein Auftrag in Manhattan, auf der Upper East Site, ist eine Reise in die Fremde. Sind doch die Regeln und Normen der Court Street schon in der Parallelstraße ungültig. Das kleine Revier ist für die Heranwachsenden die große Welt und Minna, der sie ihnen eröffnet, in gewisser Hinsicht zugleich Vater und Erlöser. Musik Sprecher 2: Wie die Court Street gärte ich hinter dieser Szenerie aus Sprache und Verschwörung, paradoxer Logik, kleinen und gemeinen Beleidigungen. Die Court Street und Minna lockten alles aus mir heraus. Mit Minnas Unterstützung befreite ich mich selbst, um fortan den Rhythmus seiner Wortgefechte, seiner Vorwürfe und Liebkosungen, seiner Wieso-und-weshalb-Argumentationen nachzuäffen. Autorin Lionell leidet unter dem Tourette Syndrom, das sich in seltsamen Tics und unkontrollierbaren verbalen Zwängen äußert, wodurch er zwanghaft die Wahrheit sagt, ohne dass ihn jemand ernst nimmt. Das undurchsichtige Geflecht aus Macht und Korruption, die kriminellen Energien der Straße spiegeln sich in seinen verbalen Ausbrüchen wider. Als Frank Minna ermordet wird, sucht er den Täter. Lionell fährt immer wieder nach Manhattan und muß, um den Fall zu lösen, nicht nur Brooklyn, sondern kurzzeitig sogar New York verlassen. Hinter seiner kleinkriminellen Nachbarschaft stößt er auf das große organisierte Verbrechen. Er rächt seinen Mentor und wird gewissermaßen erwachsen. Schließlich kehrt er zurück nach Brooklyn in die Agentur, die nun ein richtiger Fahrdienst wird. Ein Krimi, eine Krankheitsgeschichte und gleichzeitig ein Bildungsroman. Musik O-Ton 10/Sprecher 2: Als ich über Brooklyn in den 70ern geschrieben habe, habe ich oft über die unteren Schichten, die untere Mittelschicht und die Bohème geschrieben, da viele der Leute, die in meine Nachbarschaft zogen als ich jung war, Künstler waren. Sie versuchten, ein klassenloses Leben zu leben, was natürlich unmöglich ist, aber die Mischung aus den unteren Schichten und den Bohemians bildete eine einzigartige Umgebung, um darin aufzuwachsen. (Lethem) Autorin Jonathan Lethems Eltern, Künstler und Hippies, sind in den sechziger Jahren nach Boerum Hill gezogen, wo die Mieten billig waren. In seinem Roman "Die Festung der Einsamkeit" schreibt er über die Schwierigkeiten eines Jungen, sich in eine Nachbarschaft zu integrieren, wo Weiße die Minderheit darstellen. Das Viertel hat sich in den letzten 10 bis 20 Jahren sehr verändert. Wenn von einer "Manhattanisierung" die Rede ist, ist der Immobilienmarkt gemeint. Die Mieten steigen, der Gemüsehändler weicht dem Feinkostladen oder der Modeboutique. Ein Großteil der bisherigen Bewohner wird von zahlungskräftigeren Schichten verdrängt. Doch die Gentrifizierung betrifft nur einen Teil Brooklyns und der hier herrschende Wohlstand bewegt sich auf einer anderen Ebene als in Manhattan. O-Ton 11/Sprecher 2: Brooklyn ist riesig und es gibt gewaltige Regionen, die noch immer unbefangen sind, die verarmt sind und authentisch und umkämpft, genau wie zu der Zeit als ich jünger war. Nicht der ganze Ort ist von Geld kolonisiert worden. Wir müssen nur ein paar Meilen weitergehen und alles steckt in 1972 fest. (Lethem) Autorin Lethems neuer, gerade in den USA erschienener Roman. "Chronic City" spielt zu Beginn des 21. Jahrhunderts und auf der anderen Seite des East River. Hauptschauplatz ist die von Weißen, Reichen und Privilegierten bewohnten Upper East Side von Manhattan. Auch hier werden Handlungsorte, Straßen, Plätze und Bars, genau benannt, wächst die Erzählung gleichsam aus der Struktur der Stadt. Wie alle Romane Jonathan Lethems ist das Buch tief im Milieu seines Schauplatzes verwurzelt. O-Ton 12/Sprecher 2: Es geht in ihnen sehr stark um Stadtleben und die Macht, die eine Stadt über individuelles Schicksal oder individuelle Erfahrung haben kann. Das ist das Thema der Bücher in vielerlei Hinsicht. (Lethem) Sprecher 2: Das Geheimnis dieses Ortes ist die Quarantäne vom In und Out der Trends und Moden in Manhattan. O-Ton 13/Sprecher 2: ...Ich hatte dieses Mal was zu sagen über Leben in New York City und über Manhattan im speziellen und das ist so ziemlich das Herz des Buchs. (Lethem) Autorin Die Mentalität, die einem Leben in eben dieser Enklave des Luxus und der Dekadenz entspringt, ist für die Handlung des Romans unerlässlich. Von Brooklyn aus gesehen ist sie am anderen Ende der Skala. Weit entfernt von dem Milieu, in dem sich Lionell Essrogg wohlfühlt. Ebenfalls undenkbar für den frühpensionierten Versicherungsvertreter in Paul Austers "Brooklyn Revue". Musik O-Ton 14: I was looking for a quiet place to die. Someone recommended Brooklyn Sprecher 1: Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. Jemand empfahl mir Brooklyn, und so brach ich am nächsten Morgen von Westchester aus auf, um das Terrain zu sondieren. Ich war seit sechsundfünfzig Jahren nicht mehr dort gewesen und erinnerte mich an nichts. Meine Eltern waren aus der Stadt fortgezogen, als ich drei war, und doch fand ich instinktiv in die Gegend zurück, in der wir damals gewohnt hatten: Wie ein verprügelter Hund schlich ich mich nach Hause, zurück an den Ort meiner Geburt. Autorin Nathan Glass ist geschieden, mit der einzigen Tochter zertstitten und hat eine Krebsbehandlung hinter sich. Die Hauptfigur aus Paul Austers "Brooklyn Revue" scheint vom Leben zunächst nichts mehr zu erwarten. Doch nach seinem Umzug nach Brooklyn ändert sich alles. Eine Begegnung im Bagel-Shop seiner Nachbarschaft bringt ihn auf die Idee ein Buch der menschlichen Torheiten zu schreiben. Paul Austers Brooklyn liegt in Park Slope. Hier spielen auch seine Filme "Smoke" und "Blue in the Face". Wie die "Brooklyn Revue" eine Hommage an das Dorf in der Großstadt, eine Liebeserklärung des Autors an seinen derzeitigen Wohnort, in dem die Geschichten gleichsam auf der Straße liegen. O-Ton 15/Sprecher 1: Gerade dieses Viertel, in dem ich nun seit vielen Jahren lebe, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Es ist der Witz der Leute in Brooklyn, den ich ganz besonders bewundere. Die Passage, die die Idee mit dem Buch der menschlichen Torheiten aufkommen lässt, ist ein Geschichte, die meine Frau Siri tatsächlich hier erlebt hat in einem Laden mit dem Namen "La Bagel delight" (Auster) Sprecher 1: Ich wollte einen Zimt-Rosinen-Bagel verlangen, aber die Zunge gehorchte mir nicht, und es kam etwar heraus wie Zimt-Reagan. Postwendend erwiderte der junge Mann hinter der Theke: "Tut mir Leid, die führen wir nicht. Wie wär's stattdessen mit einem Pumpernixon? Autorin Nathan Glass begegnet zufällig seinem Neffen Tom und ist schon bald in die Geschichten des Lebens tief verstrickt. Wie nie zuvor engagiert er sich für seine Umgebung: Familie, Nachbarn, Freunde. Jede ihrer Geschichten kommt durch seine Hilfe nach dramatischen Verwicklungen zu einem glücklichen Abschluss. Am Ende des Romans ist Nathan fest in eine soziale Gemeinschaft eingebunden. Er verliebt sich in eine echte Brooklynerin mit italienischen Wurzeln. Sprecher 1: Ich liebte diese derbe, proletarische Stimme. Sie gab mir das Gefühl, bei Joyce auf sicherem Terrain zu sein, und nicht anders als ihre anderen Qualitäten sagte mir ihre Stimme, dies war eine Frau, die keine Anmaßungen kannte, eine Frau, die an sich glaubte und wusste, wer und was sie war. Autorin Brooklyn als Lebensform. Austers Roman läuft auf ein friedliches Miteinander zu, ein Modell, in dem jeder für den anderen einsteht oder zumindest dessen Lebensstil akzeptiert, ob er homosexuell ist, Transvestit oder eine andere Hautfarbe hat. Doch das Glück erweist sich als Utopie. Versteckte Hinweise im Text deuten die Katastrophe an, auf die der Roman schließlich zusteuert, die das Happy End aber dennoch nicht vollkommen aufhebt, denn das Buch endet am Morgen des 11. September 2001. Musik Vielleicht repräsentiert Brooklyn in besonderer Weise den amerikanischen Traum. Es wird gesagt, dass einer von sieben Amerikanern seine Wurzeln nach Brooklyn zurückverfolgen kann, dass einer von sieben Amerikanern eine zeitlang in Brooklyn gelebt hat. O-Ton 16/Sprecher 2: Brooklyn ist vor allem durch die Bestrebungen der Millionen und Millionen von Immigranten definiert, die den Ozean überquerten, um nach Amerika zu kommen und hier mit jeglichen Mythen und Bildern ankamen, die zu haben waren, was Amerika sein könnte. Und stattdessen fanden sie dann Brooklyn. Es ist also ein Ort, an dem der utopische Traum von der Realität überrollt wurde. (Lethem) Literatur Paul Auster: Die Brooklyn Revue, Rowohlt, 2006 (übersetzt von Werner Schmitz) Jonathan Lethem: Motherless Brooklyn, Tropen 2002 (übersetzt von Michael Zöllner) Hubert Selby: Letzte Ausfahrt Brooklyn, Rowohlt 2003 (übersetzt von Kai Molvig) Thomas Wolfe: Sämtliche Erzählungen, Rowohlt 1978 (übersetzt von Hans Schiebelhuth und Susanne Rademacher) Tim McLoughlin: Heart of the Old Country, Akashic Books 2009 Gabriel Cohen: Neptune Avenue, Minotaur Books, 2009 10 20