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Warum sind die Partnervorstellungen von Guppys mit jenen der Dichterin Sappho zu vergleichen? Und inwiefern entlarven sich Politiker selbst, wenn sie über den Irakkrieg sprechen? Eliot Weinberger nennt uns die Antworten, ohne klug daher zu kommen. Er nimmt sich selbst zurück und versteht sich als Wissenssammler, der Berge von Büchern zu einem Thema liest, um daraus einen dichten Essay von nur vier, fünf Seiten zu destillieren. Dabei gruppiert er Zitate und Aussagen derart, dass Widersprüche offenbar werden. So wird Weinberger zum Aufklärer, der nicht mit erhobenem Zeigefinger schreibt, sondern augenzwinkernd, manchmal sogar poetisch. So auch, wenn er von Sternen spricht oder von Nacktmullen: "Über ihren Köpfen tobt der Bürgerkrieg in Somalia. Sie haben ein ausgezeichnetes Gehör." Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Die Sahara Kamelfüße hinterlassen einen Lotusabdruck im Sand." Heinrich v. Berenberg "Er sagt von sich selbst in aller Bescheidenheit, dass er als Dichter nicht taugt. Man muss es hinnehmen. Er ist es trotzdem!" Eliot Weinberger: "Ich bin nicht wichtiger als ein Nacktmull. Ich selbst halte mich nicht für ein wahnsinnig spannendes Subjekt." Heinrich v. Berenberg: "Er ist einer der freundlichsten und zugänglichsten Menschen, muss ich sagen, die ich überhaupt jemals kennen gelernt habe. Er kann allerdings von großer Scharfzüngigkeit sein. Das gehört zu ihm. Und das ist auch sehr schön, dass das so ist." Eliot Weinberger: "Gewisse Menschen verbringen ihr Leben ausschließlich in einer Bibliothek. Ich nicht. Ich muss einfach reisen." Atmo Straße New York Wenn Eliot Weinberger gerade nicht reist, lebt er in seiner Geburtsstadt New York. Genauer: in Greenwich Village in Manhattan. Ein Stadtteil mit zahlreichen Cafés, Bars und kleinen Geschäfte. Studenten und Künstler wohnen hier. Und eben der Essayist und Übersetzer Eliot Weinberger. Fünf Stufen führen zum Eingang seines schmalen, vierstöckigen Backsteinhauses im viktorianischen Stil. 1829 wurde es gebaut, wie eine Gravur in Stein verrät. Atmo Öffnen der Haustür Eliot Weinberger: "Hello there. Hi. Just come in." Eliot Weinberger, ein Mann mit hoher Stirn und auffallend großen Augen hinter der schwarzen, runden Brille, heißt seinen Gast herzlich willkommen und weist den Weg in Richtung Küche. Die wirkt rustikal mit ihren holzvertäfelten Schränken und dem kleinen Ölgemälde an der Wand. Die Terrassentür zum Innenhof ist geöffnet; eine braun-graue Katze döst in einem Ablagekörbchen, das unter dem Terrassentisch angebracht ist. Eigentlich würde Eliot Weinberger am liebsten draußen sitzen. Aber schon in der Küche hört man Gesang, der von draußen kommt: Eliot Weinberger: "Da wohnt ein Lehrer für Operngesang. Bei einigen seiner Schüler frage ich mich, warum die das studieren. Sie können nämlich überhaupt nicht singen. Sie schreien nur. SCHREIT." Ein ruhiges Gespräch ist jedenfalls auf der Terrasse nicht mehr möglich. Da bleibt nur eins: die Flucht in den dritten Stock ins Arbeitszimmer: Atmo Holztreppe Eliot Weinberger geht auf der alten Holztreppe voraus. Eine Trittleiter ist an die Tür des Arbeitszimmers gelehnt. Die Bücherregale reichen bis zur Decke. Eliot Weinberger nimmt auf einem Schreibtischstuhl aus schwarzem Leder Platz. Auf dem Tisch liegt ein in die Jahre gekommenes Notebook. An der Decke hängt ein voluminöser Ventilator. Eliot Weinberger zündet sich ein Zigarillo an. Paul Auster: "Ich bin ihm zum ersten Mal mit 14 Jahren begegnet. Ich kenne ihn schon sehr lange. Er ist auch ein sehr guter politischer Kommentator." Der US-Schriftsteller Paul Auster über Eliot Weinberger. Weinberger ist jemand, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Jedem scheint die erste Begegnung mit ihm im Gedächtnis haften geblieben zu sein. Heinrich v. Berenberg: "Ich kann mich noch erinnern, dass er in einer wunderbar schlechten Laune war." Der Verleger Heinrich v. Berenberg denkt zurück an den Tag, an dem er Eliot Weinberger in Berlin kennenlernte. George W. Bush war noch nicht lange an der Macht: Heinrich v. Berenberg: "Es gibt manche Leute, für die hat schlechte Laune etwas Produktives, vor allem wenn die schlechte Laune politisch motiviert ist. Und das war sie in diesem Fall, was sich bei ihm damals ausdrückte in einem Schwall wunderbar formulierter Tiraden. Wir haben ein großes Vergnügen gehabt; wir haben sehr gelacht. Es war ein sehr lustiger Tag. Und danach habe ich ihn wieder ein bisschen aus den Augen verloren." Bis er Weinbergers Essayband "An Elemental Thing" auf einer Zugfahrt las und wusste, dass er ihn in deutscher Übersetzung verlegen wollte: O-Ton: Heinrich v. Berenberg: "Ich habe dieses Buch, wie ich es manchmal mache mit wirklich schönen Texten, von denen ich während der Lektüre begeistert bin, laut vor mich hin gelesen, also in der Lautstärke, um andere Fahrgäste nicht zu stören. Aber ich habe es laut vor mich hin gelesen. Und das ist, glaube ich, auch die Art und Weise, wie man dieses Buch lesen sollte." Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Die Sterne Was sind die Sterne? Sie sind Eisbrocken, die die Sonne widerspiegeln; sie sind Lichter auf den Wassern jenseits der durchsichtigen Kuppel; sie sind an den Himmel genagelte Nägel; sie sind Löcher in dem großen Vorhang zwischen uns und dem Lichtmeer [...]" Ein Essay über Sterne, nur einige Seiten lang. Zahlreiche Bezeichnungen für Sterne, die sich Eliot Weinberger nicht ausgedacht, sondern die er bei akribischer Recherche und ausgedehnter Lektüre gesammelt hat. Bezeichnungen aus unterschiedlichen Kulturen und Zeiten. Heinrich v. Berenberg: "Wer diese Texte mit offenen Augen und vorurteilslos liest, wird sehr schnell merken, schon beim ersten Text, dass das etwas anderes ist als die Kompilation von ethnographischem, anthropologischem, historischem Wissen eines kulturbeflissenen Globetrotters. Wenn man es böse sagen würde, könnte man es so nennen. Eliot reist so viel wie, glaube ich, kaum ein anderer Schriftsteller. Und er hat von diesen Reisen unendlich viel mitgebracht. Aber es ist etwas anderes. Man kann sehr schnell merken, wenn man in einen Text einsteigt, ob es einfach das Aneinanderreihen von aufgelesenen Seltsamkeiten ist oder ob es eine Idee gibt, die in diesen Texten steckt." Drei, vier Seiten - oft nehmen Eliot Weinbergers Essays nicht mehr Platz ein. Aber diese Seiten haben es in sich: Sie enthalten derart viele Informationen, sind so konzentriert und raffiniert, dass sie mit einem guten italienischen Pesto zu vergleichen sind. Auch in der Wirkung. So reichhaltig und intensiv, dass man nicht zuviel auf einmal davon konsumieren kann. Aber ist ein solches enzyklopädisches Pesto, sind ebenso knappe wie poetische Texte, sei es über die Bedeutung der Jahreszeiten und des Windes in China oder über eine lautmalerische Sprache aus Papua Neuguinea, überhaupt noch Essays? Eliot Weinberger: "Das Problem mit diesem Begriff besteht darin, dass sich in unseren Köpfen eine Vorstellung des Essays gehalten hat, wie man sie schon im 18. Jahrhundert hatte. Es ist seltsam: In einer Zeit, in der man überall Überproduktion antrifft, in der es zehntausende Schriftsteller auf der Welt gibt, experimentieren nur wenige mit der Form des Essays." Also experimentiert Eliot Weinberger umso mehr. Ursprünglich wollte er überhaupt nicht Schriftsteller oder gar Essayist werden. Weinberger wurde am 6. Februar 1949 in New York City geboren. Was danach und bis zu dem Zeitpunkt geschah, als er sich als Essayist einen Namen machte - darüber schweigen sich die biographischen Kurznotizen aus. Es ist, als hätte er gar keine Kindheit gehabt. Eliot Weinberger: "[LACHT] Nein, ich hatte schon eine Kindheit! Ich habe Baseball gespielt usw. Ich wollte eigentlich Archäologe werden. Mich interessierten Mesoamerika und die Azteken. In der Bücherei meiner Highschool habe ich einmal ein dickes Buch über die Azteken gelesen. Und im Buch klebte ein Zettel mit dem Gedicht 'Sun stone' von Octavio Paz, in englischer Übersetzung. Das spielt auf den Kalender der Azteken an. Ich las das Gedicht, und es haute mich um. Von dem Augenblick an wollte ich Schriftsteller werden." Er übersetzte Octavio Paz, Pablo Neruda und andere spanischsprachige Dichter ins Englische, um selbst das Dichten zu lernen. Mit 18 Jahren traf er jemanden, der Octavio Paz persönlich kannte. So gelangten Weinbergers Übersetzungen einiger Gedichte zu dem Lyriker. Paz, der damals mexikanischer Botschafter in Indien war, war begeistert und bat den jungen Weinberger, ein ganzes Buch von ihm zu übersetzen. Eliot Weinberger: "Ich hatte ein Jahr lang studiert und dann abgebrochen. Ich war Studienabbrecher und Hippie und hatte nichts zu tun. Und als Paz mich bat, sein Buch zu übersetzen, sagte ich: 'Jetzt kann ich meinen Eltern erzählen, dass ich etwas tue.'" Der Anfang einer 30jährigen Arbeitsbeziehung und Freundschaft zu Octavio Paz. Der Übersetzer Weinberger war geboren. Neben Paz übertrug er auch Borges und den chinesischen Lyriker Bei Dao ins Englische. Denn Weinberger war für vier Jahre nach London gegangen und hatte dort begonnen, Chinesisch zu lernen. Und der Essayist Weinberger? Auch in diesem Punkt hinterließ Paz Wirkung: Eliot Weinberger: "Das Erstaunliche an Octavio war diese grenzenlose Neugier gegenüber der Welt. Wenn man mit ihm auf der Straße war, entging ihm nichts. Zu allem hatte er einen Kommentar parat; alles konnte er in einen größeren Kontext einordnen. Man meinte, er habe alles gelesen. Das war schon Angst einflößend. Er hat mich unglaublich inspiriert." Genau diese Eigenschaften, das schier unerschöpfliche Wissen und diese unbändige Neugier, sagt man nicht umsonst auch Eliot Weinberger nach. Er interessiert sich für Themen, in denen andere gar kein Thema sehen. Ein Essay über den wohl unscheinbarsten Vogel der Welt, den Zaunkönig, ein anderer darüber, welche Eigenschaften man auf Hawaii dem Nashorn zusprach. Überhaupt begeistert sich Eliot Weinberger für die Tierwelt. Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Nacktmulle Nacktmulle haben kein Fell, dafür sind ihre Lippen behaart. Ihre faltige rosige, gefleckte Haut umgibt sie wie bei einem Tier, das ziemlich an Gewicht verloren hat, damit sie sich leichter durch ihre schmalen Tunnel zwängen können. Das einzig Markante an ihren weichen Gesichtern sind die vorderen Schneidezähne, die ihnen wie Kneifzangen aus den Mäulern ragen." Eliot Weinberger: "Ich hatte etwas über Nacktmulle gelesen und fand sie so faszinierend, dass ich mir schließlich ein 600 Seiten starkes Buch mit dem Titel 'Die Biologie des Nacktmulls' besorgte. Als meine Familie sah, was ich da las, meinte sie, jetzt sei ich völlig durchgedreht. Im Grunde habe ich das 600-Seiten-Werk auf zwei Seiten reduziert. [LACHT] So müssen Sie es nicht mehr lesen." 600 Seiten über das wohl hässlichste Tier der Welt. Eliot Weinberger: "[LACHT] Na ja, Ihrer Meinung nach vielleicht. Aber Nacktmulle halten Sie womöglich für das hässlichste Tier der Welt. [LACHT] Unsere Sicht der Dinge ist ja eine anthropozentrische. Mich interessierte folgendes: Da gibt es dieses seltsame Tierreich unter der Erde. Nacktmulle kommen nämlich nicht an die Oberfläche. Und dann herrschte aber dort, also über ihnen, in Somalia Krieg, als ich 1995 diesen Text schrieb. Das war für mich ein unglaubliches Nebeneinander." Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Sie falten sich wie Klappmesser zusammen, das Maul am Anus und fressen ihren eigenen Kot. Sie finden ihren Weg, wenn sie ihn nicht kennen, indem sie vorwärts rennen, bis sie mit der Nase an die Wand stoßen, rückwärts rennen, den Winkel verändern, wieder vorwärts schießen. Manchmal bleibt ein Nacktmull urplötzlich stehen, stellt sich auf die Hinterbeine, preßt den Kopf gegen die Tunneldecke und rührt sich nicht. Über ihren Köpfen tobt der Bürgerkrieg in Somalia. Sie haben ein ausgezeichnetes Gehör." Zwei Sätze nur, und die Prosa Eliot Weinbergers hat der Poesie Platz gemacht. Nacktmulle als Kriegsbeobachter. Und Hunde als politische Ratgeber. Das jedenfalls galt für das mittelalterliche Indien: Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Allgemein gesprochen, war im Königreich alles in Ordnung, wenn der Hund sich den Kopf mit der rechten Vorderpfote kratzte, sich die linke Pfote mit der rechten Pfote kratzte, das rechte Hinterbein zum Urinieren anhob oder, falls es sich um eine Hündin handelte, sich den Bauch kratzte. Es gab schwerwiegende Probleme mit der Regierung, wenn der Hund gähnte, sich übergab, davon lief, einen Schluckauf hatte, hustete, ängstlich wirkte, einschlief und sich heftig schüttelte, ein Loch grub, jaulte oder in die Sonne schaute." In diesem Essay kommt der politische Mensch Eliot Weinberger durch, der ebenso präzise wie scharfzüngige, politische Kommentator. Weinberger misstraut anderen Kommentatoren, besonders jenen im Fernsehen. Fragt sich, wem er mehr politisches Urteilsvermögen zutraut: Barack Obama, George W. Bush oder einem Hund: Eliot Weinberger "[LACHT LAUT] In der Aufzählung natürlich Obama. Die meisten US- amerikanischen Experten liegen völlig falsch. Wahrscheinlich sollte man sowieso der Analyse eines Hundes mehr vertrauen als jedem CNN-Experten. Aber in der Aufzählung scheint mir natürlich Obama der intelligenteste und am besten informierte Kandidat für diese Tätigkeit zu sein." Eliot Weinberger hat sich, wie fast alle Intellektuellen, für Barack Obama als neuen Präsidenten ausgesprochen. Zu sehr war er von George W. Bush enttäuscht und ganz besonders vom Irak-Krieg. Die Wut staute sich. Und entlud sich in scharfzüngigen Kommentaren. In nur zwei Wochen schrieb Eliot Weinberger 2005 den Text "Was ich hörte vom Irak". Lesung Eliot Weinberger: "What I heard about Iraq In 1992, a year after the first Gulf War, I heard Dick Cheney, then secretary of defense, say that ..." Erneut hat Weinberger auf den ersten Blick nur Informationen zusammengetragen, diesmal Zitate von US-Politikern und ihren Verbündeten zum Irak-Krieg. Aber auch hier spricht die Zusammenstellung für sich. Die Politiker und Kriegsbeobachter widersprechen sich selbst und gegenseitig. Weinbergers Methode: Entlarven durch Zitieren. Aufdecken und aufklären ohne erhobenen Zeigefinger. "Was ich hörte vom Irak" trifft den Nerv der Zeit. "2005 hörte ich, daß Streitkräfte der Koalition in den Ruinen Babylons untergebracht seien. Ich hörte, daß Bulldozer Gräben durch das Gelände gezogen und Flächen für Hubschrauberlandeplätze und Parkplätze planiert hätten, daß Tausende von Sandsäcken mit Erde und archäologischen Fragmenten gefüllt worden seien, daß ein 2 600 Jahre altes Ziegelpflaster von Panzern zermalmt worden sei und die mit Drachen verzierten Backsteine von Soldaten als Souvenirs aus dem Ischtar-Tor herausgebrochen wurden. Ich hörte, daß die Ruinen der sumerischen Städte Umma, Umm al-Akareb, Larsa und Tello vollständig zerstört und nun Kraterlandschaften seien." (Übersetzer: Eike Schönfeld) Der Text wird zigtausendfach im Internet verbreitet, in etlichen Ländern verlesen und auf Bühnen aufgeführt. Eliot Weinberger: "Der Hauptgrund für den Erfolg dieses Textes ist, dass der Irakkrieg keinen literarischen Text hervorgebracht hat. Ganz im Gegensatz zum Vietnamkrieg. Es gibt eine große Anzahl von Gedichten und Kurzgeschichten gegen den Vietnamkrieg. Poesie war Ausdruck des Anti-Kriegsbewusstseins. Im Irakkrieg kam aber nichts von den US-amerikanischen Belletristik-Autoren. Stattdessen von den politischen Bloggern. Blogger sind wunderbar, aber eben nicht Zola oder Alain Ginsberg. Das ist etwas anderes." Genau dieses Vakuum hat Eliot Weinberger mit seinem entlarvenden politischen Poem ausgefüllt. Auf Politiker seines Landes, da ist sich Eliot Weinberger sicher, hat es keine Wirkung gehabt: Eliot Weinberger: "Es gibt darauf keine Reaktionen von US-Politikern. In den USA gibt es eine sehr klare Trennung zwischen Politik und Literatur. Obama ist der erste Politiker in einem hohen US-Amt, der Bücher und Belletristik liest. Na ja, Clinton hat vielleicht auch schon Bücher gelesen. Aber in den USA gibt es nicht denselben Typ des Intellektuellen wie in Europa. Romanautoren schreiben keine politischen Texte, sondern Romane. Dichter schreiben Verse. Man hat mir gesagt, dass Gerhard Schröder meinen Text 'Was ich hörte vom Irak' mag. Aber sicher kennt kein US-Politiker den Text. Wenn man George Bush bitten würde, einen zeitgenössischen US-Schriftsteller zu nennen, könnte er es nicht." Und wer sich nicht für die Kultur des eigenen Landes interessiert, von dem kann man nicht erwarten, dass er etwas über vorsokratische Philosophen weiß, über Empedokles zum Beispiel. Eliot Weinberger hat ihm einen Essay gewidmet. Und zwar einen entlarvenden. Denn er offenbart die unsicheren Quellen zu dessen Person. Und gerade diese Tatsache interessiert Weinberger. Er reiht ganz bewusst widersprüchliche Aussagen aneinander. Und hat die Lacher des Lesers auf seiner Seite: Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Empedokles Er war Schüler von Parmenides oder Xenophanes oder Anaxagoras oder Pythagoras oder Pythagoras' Sohn Telauges. Er trug rote Gewänder und ein Kopfband aus getriebenem Gold oder ein rotes Kopfband aus Tuch [...] Er war Sizilianer, stammte aus der Stadt Agrigent, aus der er verbannt wurde oder auch nicht [...]" Wohl kein anderer Essayist ist so sehr auf die Worte "oder" und "und" angewiesen und spielt so gerne mit ihnen wie Eliot Weinberger. Mit dem "oder" verweist er auf widersprüchliche Quellen. Mit dem "und" verbindet er oft, was auf den ersten Blick unvereinbar ist: die Sexualpartner in der Tierwelt einerseits mit den Vorlieben der lesbischen Dichterin Sappho andererseits: Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Guppys mögen ihre Guppys strahlend orange; Weißfische ihre Männchen blau; Kalmare mögen einen anderen Kalmar, der seine Hautfarbe ändern kann. [...] Eine Küchenschabe schaut dem Männchen bei den Liegestützen zu. [...] Sappho ist uns nur in Papryrusresten überliefert, mit denen Mumien eingewickelt worden waren, doch einige Grundzüge ihrer Begierde sind erhalten geblieben. Sie will - um Davenports Übersetzung zu paraphrasieren - eine Frau, schlank wie ein junger Baum, mit dünnem Händen und Handgelenken schmal wie eine Wildrose. Augen, die herausfordernd sind oder voll strahlendem Lächeln, schöne Füße und etwas, hier ist das Wort verloren gegangen, Haut wahrscheinlich, weißer als Milch, weißer noch als ein Ei." Menschen, Tiere, Winde, Jahreszeiten, Sterne - Eliot Weinberger versucht in seinen Essays, und ganz besonders in seinem Band "Das Wesentliche", zu den elementaren Dingen vorzudringen. Auf dem Cover der amerikanischen Originalausgabe ist ein Foto des japanischen Fotografen und Konzeptkünstlers Hiroshi Sugimoto abgedruckt. Es zeigt den Meeresboden und die entsprechende Tier- und Pflanzenwelt, wie sie vermutlich vor 400 Millionen Jahren ausgesehen haben. Heinrich v. Berenberg: "Das heißt, diesen Meeresboden gibt es natürlich nicht mehr. Den hat dieser japanische Fotograf gebaut, hingestellt und inszeniert. Und dann hat er ihn fotografiert. Diese Art und Weise, wie dieses Foto aufgebaut, wie dieses Foto entstanden ist, ist für mich ein ganz sprechendes Beispiel für das, was Eliot auch macht. Es ist immer eine poetische Inszenierung dahinter. Das ist ganz deutlich. Für mich ist es große Literatur." Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "Der Wind Wind: Was ist das? Du sieht ihn nicht, aber du hörst ihn und spürst seine Kraft. Er bringt Regen, Dürre, Kälte, Hitze, Heuschrecken, raschelt mit den Zweigen, zerstört Häuser, facht Brände an; er treibt Schiffe voran oder türmt Wellen auf, in denen sie versinken. Seine Brisen im Frühling wecken Gefühle, sein Heulen im Winter macht Angst. In China war der Kalender kreisförmig, unterteilt in acht Abschnitte zu je fünfundvierzig Tagen; jeder davon wurde von einem Wind beherrscht, der aus einer der acht Richtungen kam, und der wiederum bestimmte die Rituale der Staatsgeschäfte, welche Speisen man zu sich nahm, welche Roben zu tragen waren, er bestimmte Strafe und Begnadigungen von Verbrechern, die Stunden, zu denen man aufstehen oder zu Bett gehen sollte, Zeiten und Orte, um einen Spaziergang zu machen, die Geschenke, die der Kaiser senden sollte." Heinrich v. Berenberg: "Das andere ist seine große Sprachmächtigkeit. Das ist sein großes Vergnügen, mit der Sprache umzugehen. Ich glaube, das kann auch jeder sehen, der ihn auch live erlebt. Es ist nicht nur ein großes Vergnügen, ihn zu lesen, sondern es ist auch ein großes Vergnügen, ihn in Aktion zu erleben. Sei es im Privatgespräch oder sei es bei einem öffentlichen Anlass." 2008 beim Internationalen Literaturfestival Berlin. Eliot Weinberger nimmt an einer Podiumsdiskussion über Barack Obama teil. Aber die Simultanübersetzung kommt nicht in seinem Kopfhörer an. Eliot Weinberger: "Entschuldigung, meine Übersetzung funktioniert wohl nicht. Ich bin mir nicht sicher, was die Frage war, aber die Antwort darauf lautet: [PUBLIKUM LACHT] ..." Eliot Weinberger strotzt nur so vor Witz und Wissen. Aber er protzt nicht damit. Er will nicht klug daherkommen. Man glaubt ihm gerne, dass es ihm nur um den Gegenstand, die Sache selbst, geht. In seinen Essays nimmt er sich selbst zurück. Das Wörtchen "ich" taucht so gut wie nie auf. Ein bescheidener Mensch, könnte man denken. Verleger Heinrich v. Berenberg: Heinrich v. Berenberg: "Ich glaube nicht, dass er bescheiden ist. Das wäre das falsche Wort. Er weiß sehr wohl, dass ein großer Teil der amerikanischen Intelligenz inzwischen auch auf das hört, was er schreibt und was er sagt. Andererseits ist es wahr: Darin hat er eine fast englische Art, die eigene Person mit großer Selbstironie, mit einer Portion Distanz zu sehen und nicht für so wichtig zu halten. Aber ich glaube, er weiß selber genau, was für ein bedeutender Mensch er ist." Fragt sich, wie der dichtende Essayist Eliot Weinberger selbst erklärt, dass ein "Ich" in seinen Texten kaum vorkommt und dass er dafür Zitate, Ideen und Meinungen anderer verarbeitet. Eliot Weinberger zieht an seinem Zigarillo und schmunzelt: Eliot Weinberger: "Mir mangelt es halt an Fanatasie! Das hat mit meiner Neugier oder mit meinem Dilettantismus zu tun. Der tiefer gehende Grund ist sicher, dass ich in New York geboren wurde und hier mein ganzes Leben gewohnt habe. New York ist doch ein Mikrokosmos, in dem die ganze Welt zusammenströmt. Die Hälfte der Einwohner New Yorks ist in anderen Ländern geboren. Und die Mehrheit der anderen Hälfte das sind deren Kinder. Für mich ist es deshalb selbstverständlich, von einer Kultur in die andere zu wechseln, anstatt mich nur mit einer Sache zu beschäftigen und mein Leben in einem Dorf in den Bergen zu verbringen." Sprecherin: Dazu ist Eliot Weinberger viel zu sehr Kosmopolit. Von seinen zahlreichen Reisen in die abgelegensten Winkel der Erde wird er auch in Zukunft neues Material mitbringen, um daraus weitere experimentelle Essays zu konstruieren. Und dabei ist eins sicher: Nichts davon wird Eliot Weinberger erfinden. Das ist für ihn Ehrensache. Egal, ob er über isländische Sagas schreibt, über Winde oder Nacktmulle: Eliot Weinberger: "Es war nie meine Absicht, über Tiere zu schreiben. Ich habe zuerst über Politik geschrieben und zuletzt über Nacktmulle. So hat es sich halt ergeben." Heinrich v. Berenberg: "Das ist ja eines seiner schönen Textgeheimnisse, dass man denkt, es ist eine Kompilation von Wissen. Aber das, was diese Texte bindet, ist die große poetische Kraft ihrer Sprache. Und insofern ist er in diesen Prosatexten nicht nur ein Schriftsteller, sondern ich würde auch sagen, tatsächlich ein Dichter." Lesung Eliot Weinberger (Übersetzer: Peter Torberg): "da ist der Stern der Tausend Farben, die Hand der Gerechtigkeit, der Einfache und Gerade Weg; da ist das Doppelte Doppel; da die Herberge an der Straße; da der Staatsbaldachin; da die Schäferhütte; da der Geier; schau: der Worfelfächer; da das Wachsende Kleine; dort der Hof Gottes; da das Wachtelfeuer; da das Boot des hl. Petrus und der Stern der See; da: schau: da oben: die Sterne." Tobias Wenzel: Der Essayist Eliot Weinberger Tel. 030 - 97 98 76 11 Seite 10