Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 26. November 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr KW 47 Träume leben: Utopische Wohnprojekte in Großbritannien Mit Reportagen von Ruth Rach Moderation: Simonetta Dibbern Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – „ Die Nachbarn waren erst einmal ziemlich skeptisch. Die Gebäude fielen aus dem Rahmen, und das Konzept auch. Gleichzeitig waren sie sehr neugierig. Aber als sie sahen, dass wir uns mit Leib und Seele für unsere Sache einsetzen und darüberhinaus ganz normale Familien sind, hat sich die Situation relativ bald entspannt. “ Eine Bewohnerin der Hedgehog Community bei Brighton, die statt auf Bankkredite auf tatkräftige Mitarbeit der Mitglieder setzt. Und ein Gastwirt über die Kleinstadt, in der er wohnt – gebaut nach den architektonischen Vorstellungen von Prince Charles. „An Poundbury scheiden sich die Geister. Entweder du findest den Ort ganz toll oder ganz scheußlich. Alles ist neu. Nirgends sind Wegweiser. Selbst die Schornsteine sind nur Schein. Wir dürfen kein offenes Feuer machen. Aber es ist trotzdem nett hier.“ Träume leben. Utopische Wohnprojekte in Großbritannien. Gesichter Europas mit Reportagen von Ruth Rach. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern. „Jede Stadt ist in vier gleich große Segmente oder Viertel unterteilt, in deren Mitte sich je ein Marktplatz befindet. Dorthin werden die Produkte aller Familien in bestimmte Lagerhäuser gebracht, und von dort aus kann sich jeder Hausvater oder Familienvorstand alles holen, was er und die Seinen brauchen. Er nimmt es einfach mit, ohne etwas dafür zu bezahlen oder etwas anderes im Tausch zu hinterlegen oder irgendeine andere Gegenleistung zu erbringen. Warum schließlich sollte jemand um mehr bitten, als er nötig hat, wo doch niemals Mangel herrschen wird? Der Grund für Raffgier und Habgier liegt doch bei allen lebenden Wesen in der Angst vor dem Mangel und beim Menschen überdies im Stolz, mit dem er erfüllt wird, wenn er einen anderen mit dem prahlerischen Besitz von überflüssigen Dingen ausstechen kann. Doch ein solches Laster hat bei den Utopiern keinen Platz.“ Fast genau 500 Jahre ist es her, dass der englische Humanist Thomas Morus seinen Traum einer idealen Gesellschaft formulierte. Im Jahre 1516 erschien sein Text Utopia erstmals,in lateinischer Sprache. Und manche seiner Ideen sind immer noch aktuell, mancher seiner Fragen stellen wir uns auch im 21. Jahrhundert: Wie wollen wir leben. Wie können wir überleben? Und wer bezahlt die Miete? Genügend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen – vor allem in den urbanen Zentren – das ist eine der großen Herausforderungen unserer Zukunft. Neue Lösungen werden gesucht – von Politikern, Stadtplanern und von den Bewohnern der Städte selbst. Baugenossenschaften, Mehrgenerationenhäuser, Ökosiedlungen, Sharing communities – in vielen Großstädten entstehen neue Formen des Zusammenlebens. In Zeiten von Gentrifizierung und explodierenden Immobilienpreisen sind solche Gegentwürfe dringend nötig. Großbritannien ist nicht die Insel Utopia. Doch Versuche, für die Menschen gute und günstige Häuser zu bauen, gab es immer schon. Eine lärmige Küstenstraße, Wohnblöcke, Baulücken und hunderte von Bungalows. Eine Fish and Chip Bude, eine Tankstelle. Ein Friseur. Peacehaven, an der englischen Südküste auf halber Strecke zwischen Eastbourne und Brighton. Am liebsten Gas geben. Nichts wie weg.. Aber gerade hier sollte vor hundert Jahren ein Paradies entstehen, im Schatten des ersten Weltkriegs. Peacehaven heißt wörtlich: Hafen des Friedens. War als Zuflucht für Kriegshelden gedacht, für Heimkehrer, für Stadtmüde. Ein Hort der Freiheit. Der Sehnsucht. Der Selbstverwirklichung. Man muss nur genau hinschauen, und schon erkennt man noch Spuren, sagt Julia Winckler. Julia steht vor dem Meridian Monument. Eine unscheinbare Säule, die ein bisschen wie ein Grabstein aussieht, in bester Lage hoch über dem Meer aber gefährlich nahe am bröckelnden Klippenrand. „Das ist ein Obelisk, auf dem oben eine Weltkugel aus Kupfer drauf ist, und in der Mitte ein Brunnen, der heute nicht mehr geht, aber am Anfang war die Idee, dass dies der Weltbrunnen ist und dass durch diesen Obelisk Peacehaven nicht nur mit der Welt völlig verbunden ist, sondern auch im Zentrum der Welt steht.“ Auf einer Gedenk-Tafel eingraviert: Entfernungen. „Zum Beispiel sind wir 2893 Meilen von Halifax in Nova Scotia entfernt, nur tausend von Gibraltar, aber 6750 von Singapur.“ Julia Winckler ist Kunstdozentin an der Universität Brighton. Eine mädchenhafte Frau mit einem liebenswürdigen Lächeln. 18 Jahre lang hat sie in einem klassischen Peacehaven Bungalow gewohnt, den sie von ihrer deutschen Großtante Martha geerbt hatte. „Es kann sein, dass irgendwann diese Grundstücke noch verkauft werden, aber die liegen nun schon seit hundert Jahren...“ Das Konzept der Utopie Peacehaven stammt von Charles Neville, einem nordenglischen Unternehmer. Halb Idealist, halb Opportunist. Er kaufte 1915 eine Quadratmeile Land, direkt über den kahlen Klippen, auf denen bis dahin nur Schafe geweidet hatten. Sein Traum: eine Gartenstadt am Meer. 80 Meter über dem Wasser. Dass der direkte Zugang zum Strand fehlte,kümmerte ihn wenig. „Da hatte man sich vorzustellen eine Stadt, in der es sehr viele öffentliche Gärten gab, aber auch jedes Haus sollte einen Garten um sich herum haben. Es war eine Mischung zwischen Natur und Stadt, in der man etwas Neues schaffen würde...Die die Idee eines neuen Menschen, der sich in dieser Umgebung entwickeln kann.“ „Ist ja ganz schön steil hier..“ „Ja ganz schön steil. Das sind ungefähr 80 m was auch ein Problem war, denn ganz am Anfang konnte viele älteren Pioniere auch gar nicht die Treppen rauf und runter gehen.“ Wir klettern die steilen Stufen hinunter, die Charles Neville von walisischen Bergarbeitern ins Kreidekliff hauen ließ. Früher gab es hier auch ein Schwimmbecken, das sich bei Flut mit natürlichem Meerwasser füllte, aber das ist längst zubetoniert. Die Sonne strahlt, das Meer glitzert, doch der meilenlange Spazierweg unter den Klippen ist verlassen. Selbst in der Ferienzeit. Der Strand zu steinig, die Felsen zu glitschig,als dass man hier baden wollte. .. Aber was sind geographische Gegebenheiten, wenn ein Visionär seinen Traum verwirklichen will. Charles Neville startete eine riesige Vermarktungskampagne. Als erstes gründete er eine Zeitung und engagierte den angesehenen Künstler Gordon Volk. Mit dem Auftrag, symbolträchtige Illustrationen schaffen, die dann auch als Poster landesweit ausgehängt und sogar im Ausland verbreitet wurden. Volks Bildersprache sollte die Stadt vom Reißbrett mit einer mythologischen Aura umgeben,sie quasi in eine semi-religiöse Geschichte einbetten. Julia Winckler zieht eine alte Ausgabe der „Peacehaven Post“ aus der Tasche. „Auf diesem Bild hier zum Beispiel sieht man quasi ein neues Jerusalem. Die Sonne geht auf, man sieht Acker, man sieht das Meer, man sieht die weißen Felsen und man sieht das Bild einer jungen Frau in einem schönen Sommerkleid, die auf den Klippen steht und zwischen Meer und Land ein neues Leben beginnt. Der Schafhirte mit den Schafen - das war Neville und die Pioniere, die sich hier ansiedelten. Die Schiffe, die ankamen mit den Pilgrims, um hier schon fast schon ein neues Land, auf jeden Fall einen neuen Ort zu schaffen. Eine völlig idyllische Landschaft, die auch an ein Eden auf Erden erinnert.“ Besonders gerne beschwor Neville das Bild des amerikanischen „Wilden Westens“ herauf, in dem sich furchtlose Pioniere niederließen und zur Not auch ihre Häuser selbst bauten. Einstöckige Bungalows waren von der Konstruktion her relativ einfach, außerdem gab es genug Holz von alten Armeebaracken aus dem ersten Weltkrieg. Neville lag daran, verschiedene gesellschaftliche Gruppen anzulocken. In einem der ersten Zeitungskommentare hieß es denn auch nachdrücklich „Peacehaven ist eine Stadt ohne Aristokratie“. „So kamen am Anfang wirklich in den ersten zehn Jahren Bürger aus allen Schichten, aus der Arbeiterklasse, aus der Mittelschicht, aber auch einige sehr wohlhabende Leute, unter anderen Gracie Fields und ihre Familie, eine bekannte Sängerin zu der Zeit. Er sprach auch sehr stark Leute aus den früheren Kolonien an, die aus Kanada, aus Australien, Neuseeland und sogar Südafrika hier wieder her kamen – die wollten ihre eigenen Schafe haben, ihre eigenen Hühner, ihr Gemüse anbauen, ihre Obstgärten, haben. Es sprach Leute an, die unabhängig sein wollten, und bis zu einem gewissen Grad auch autonom.“ Zu Beginn der 20er Jahre hatten sich bereits rund 3000 „Pioniere und Pilgerväter“ in Peacehaven angesiedelt. „Hello how are you... „ Ihre betagteren Nachkommen versammeln sich heute noch im Dewdrop, zu deutsch Tautropfen. Der Pub ist nur ein paar Minuten von der Hauptstraße entfernt - und doch wie aus der Zeit gefallen. Braune Holzdecke, brauner Holztresen, weinrot gemusterter Teppichboden. Hier hat sich seit 50 Jahren wohl gar nichts verändert. Die Stammgäste lehnen im Halbdunkel an der Theke. Sie sprechen über Krankheiten, über den Werbefilm, der neulich am Strand von Peacehaven gedreht wurde. Und über die gute alte Zeit. „The spirit has gone..“ Peacehaven hat seine Seele verloren. Die freien Felder, die Natur, alles verschwunden, klagt Patricia, die vor einem halben Jahrhundert in die Gartenstadt am Meer zog. Viele alte Bungalows wurden abgerissen, die Gärten mit Appartmentblocks zugebaut. Und es gibt nicht einmal mehr vernünftige Geschäfte. Den Abriss ihres geliebten Peacehaven Hotels hat sie nie verwunden. Auch Julia Winckler erinnert sich ganz genau daran, wie sie von ihrer Großtante Martha zum Nachmittagstee ins Peacehaven Hotel ausgeführt wurde. „Das Peacehaven Hotel war der Palast der Menschen, in dem sie zusammenkamen zu gesellschaftlichen Veranstaltungen. Es war ein Bungalow Hotel mit einem sogenannten versunkenen Garten, vielen Statuen, Marmorböden, einer tollen Holzeinrichtung. Sie hatten sogar Arbeiter aus Italien kommen lassen, die die Böden gelegt hatten. Als das Hotel Ende der 80er Jahre abgerissen wurde, war es für viele Leute in Peacehaven das Ende ihres Traums.“ Der Charme von Peacehaven ist auch für Julia längst verschwunden. Als Kind hat sie ihre schönsten Sommer in Marthas Bungalow verbracht und in den Sussex Downs gespielt, den Hügeln hinter Peacehaven. Aber, an allen Ecken werden neue Siedlungen hochgezogen, die Hauptstraße gleich einer Autobahn. Am Bungalow ihrer Großtante geht Julia gar nicht erst vorbei. Die neuen Besitzer haben den Garten mit den alten Rosen und dem Apfelbaum zubetoniert – und in einen Parkplatz verwandelt. „Die Ironie des Ortes ist ja eigentlich auch, dass einer der Hauptlockpunkte war, dass wir hier in den Downs sind, dass aber im Prozess der Stadtentwicklung und des Stadtbaus die Downs hier an dieser Stelle zerstört worden sind. Und das Problem bei Utopie ist ja häufig, dass in dem Moment, indem man eine Utopie verwirklicht, man dabei den Traum zerstört. „Die Straßen sind auf sehr schöne und praktische Weise so angelegt, dass sie sowohl den Verkehr aufnehmen können als auch zum Schutz gegen den Wind dienen. Die Häuser sind schön und prächtig und ziehen sich mit den Vorderfronten die gesamte Straße ohne Unterbrechung entlang. Die Straßen sind zwanzig Fuß breit, und an der Hinterseite der Häuser liegen – abermals entlang der gesamten Länge – große Gärten, die wiederum von der Rückseite der gegenüberliegenden Häuserzeile begrenzt werden. Jedes Haus besitzt zwei Türen: eine zur Straße und eine rückwärtige zum Garten. Diese Türen sind zweiflügelig und werden niemals verriegelt oder verschlossen; sie öffnen sich unter dem geringsten Fingerdruck und schließen sich von allein wieder. Jeder, der es will, kann und darf die Häuser betreten, denn es gibt nichts in ihnen, was im Privateigentum von irgendjemandem steht. Nach zehn Jahren werden die Häuser durch das Los neu zugeteilt. Auf ihre Gärten legen die Utopier sehr großen Wert. In ihnen bauen sie Wein, alle Arten von Früchten, Kräutern und Blumen an, und sie sind so gut gepflegt und angelegt, wie ich es bisher an keinem anderen Ort gesehen habe. Kultur und Natur miteinander zu verbinden, und zwar mitten in der Stadt: das war die Idee von Ebenezer Howard. Der britische Lebenskünstler hat die Gartenstadt erfunden – eine grüne Alternative zu den Elendsvierteln der Innenstädte. Seine Idee, Ende des 19. Jahrhunderts: eine neue Stadt zu bauen, auf billigem Agrarland. Sieben eigenständige Stadtteile, getrennt durch breite Streifen von Feldern und Weiden und miteinander verbunden durch eine Eisenbahn. Der Grund sollte genossenschaftlicher Gemeinbesitz bleiben und die Bewohner dadurch lebenslanges Mietrecht genießen. Solche sozialreformerische Ideen wurden in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg vielerorts geträumt – und auch umgesetzt: in Dresden-Hellerau etwa. Oder Wandsbek-Gartenstadt. Wohl jeder angehende Architekt und Stadtplaner lernt Howards ausgetüfteltes Modell der Garden City kennen – und seit einigen Jahren wird die Gartenstadt-Idee wiederbelebt: Siedlungen mit viel Grün. Kurvige Straßen, um den Verkehr zu bremsen. Und statt einer großen Kreuzung: ein Kreisverkehr. Den ersten seiner Art in Europa ließ Ebenezer Howard in Letchworth Garden City bauen. Den gibt es immer noch. Doch um als Wohnutopie zu dienen, ist Howards Modellstadt indes viel zu nahe an die Metropole herangerückt. Die Reise von London nach Letchworth dauert eine halbe Stunde. Schlafstädte. Felder. Gewerbeparks. Und dann, Letchworth Garden City. Ein kleiner Backsteinbahnhof mit zwei altmodischen Schornsteinen, einem Vorgarten, einer Teestube. Gleich rechts um die Ecke, ein mächtiger Park. Der Norton Common. Weitläufig, dicht bepflanzt, verschwiegen. Genauso, wie es sich Ebenezar Howard, der Begründer der Gartenstadt vorstellte. Howard träumte von einem Ort mitten in freier Natur, dessen Bewohner in gediegenen Häusern wohnen und jeden Tag freudvoll zur Arbeit wandern würden. Die Häuschen gegenüber vom Norton Common stammen noch aus der Gründerphase. Rote Ziegeldächer, lauschige Dachgauben, Dornröschenhecken. Modellhäuser aus den Jahren1905 und 1907. Die Exhibition Cottages. Sie sollten den Briten vorführen, wie die Gegenwelt zu den berüchtigten, menschenunwürdigen Slums von London aussehen könnte – und sollte. Nur wenige Meter weiter ist es mit der pastoralen Idylle vorbei. Billigläden, Wettbüros, TakeAways. Und Immobilienmakler. So sehen die meisten britischen Innenstädte aus. Einzige Überraschung: ein Springbrunnen. Ein Denkmal zu Ehren von Ebenezar Howard, erklärt Ros Allwood, langjährige Museumsleiterin von Letchworth Garden City. „We are sitting right in the middle...“ Ros Allwood, eine adrette Frau um die 50. Die Spurensuche beginnt mit einem alten Foto, das Ros aus ihrer Handtasche zieht. Darauf abgebildet: ein Acker, ein Heuhaufen, drei Eichenschösslinge. „Ich liebe dieses Foto. Denn genau hier hat alles begonnen.“ Dann zeigt sie, was aus dem Acker geworden ist: Broadway Gardens, nur ein paar Fußminuten weiter. Ein riesiger Platz, halb Park, halb Garten, von dem strahlenförmig Alleen abgehen. Das alte Herzstück von Letchworth. Am Rand zwei riesige Eichen. Die Bäumchen aus dem Foto. „Well the idea came from ….“ Ebenezar Howard, 1850 geboren, war eigentlich gar kein Städteplaner, sondern ein Erfinder. Auf dem Platz ist eine Plakette eingelassen, die an seine Vision erinnert. Eine Traumstadt aus konzentrischen Kreisen. Im Mittelpunkt Geschäfte und Verwaltungsgebäude, umgeben von einem Wohn- und Gartengürtel, weiter draußen ein Ring aus Schulen, Kirchen - und Sportanlagen, dahinter Bauernhöfe, Äcker und Weideland, und im äußersten Kreis Fabriken, Märkte. Und eine Bahnlinie. Ein Traum für den Howard erst einmal Anhänger gewinnen musste. „Er hielt Vorlesungen, und brachte erst einmal die Medien und möglichst viele Promis auf seine Seite. Als nächstes organisierte er Investoren, fand ein billiges Stück Land, und beauftragte schließlich zwei junge Architekten, die ersten Häuser zu bauen: Richard Parker und Raymond Unwin. Sie waren romantische Sozialisten und Anhänger des Arts and Crafts- Stils - eine Bewegung, die billig gefertigte Massenware ablehnte, und die Tradition des Kunsthandwerks wiederbeleben wollte.“ Nicht alle Pioniere wussten solche architektonischen Feinheiten zu schätzen: „Einige der Fabrikarbeiter aus London waren entsetzt, dass ihre Türen keine modernen Klinken besaßen, sondern handgeschnitzte Holzriegel – so etwas kannten sie nur von einem Hühnerstall.“ Auch das gelbe Backstein-Schlößchen in der Barrington Road hat eine bescheidenen Eingangstür, dazu aber luftige Türmchen, offene Ballustraden, eine breite Fensterfront, und einen mächtigen Schornstein. The Cloisters, das eigenwilligste Bauwerk in Letchworth. Heute ein Tempel für Freimaurer, vor über hundert Jahren Fluchtpunkt und Pilgerschrein für Aussteiger, Künstler und Träumer. Edle Marmorböden, extravagante Marmorsäulen, Holzschnitzereien, ein Brunnen im Art Deco Stil. Sydney, die junge Managerin, begrüßt mich wie einen seltenen Gast. The Cloisters liegt mitten in einem modernen Villenviertel versteckt, eine gute halbe Stunde vom Zentrum entfernt. 1903 von der Philanthropin Annie Lawrence gebaut. „She travelled all over Europe...“ Sie wollte in den Cloisters ein neues Lebensmodell verwirklichen, von dem sich Freidenker aller Couleur angezogen fühlten: Vegetarier, Frutarier, Theosophen und Taubadende. Und Sozialisten. Unter ihnen Lenin, der Letchworth im Jahr 1907 einen Besuch abstattete. Sie lernten Esperanto, Schnitzen und Weben. Veranstalteten Volkstanz, Musik und Theater. Lehrten Philosophie, übten sich im Schreinern. Die gesamte Bevölkerung von Letchworth war geladen: Hier, in diesen Cloisters, sollte die Saat für eine utopische Gesellschaft aufgehen, in der sich Kunst und Arbeit aufs glücklichste vereinten. Die von Annie Lawrence gegründeten Cloisters stellen aber nur einen Aspekt von Letchworth Garden City dar, sagt Ros Allwood, als sich Sydney verabschiedet und die Holztür wieder geschlossen hat. Schließlich ist Ros Kulturmanagerin für die Region und möchte Letchworth nicht auf das utopische Erbe beschränken. Schon die konventionelleren Gründungsmitglieder von Letchworth hätten befürchtet, das Image ihrer Idylle könnte unter den Aktivitäten der exzentrischen Zuzügler leiden. „Ihnen war vor allem auch daran gelegen, finanzkräftige Unternehmer in die Gartenstadt zu locken. Sie sollten Fabriken gründen und Arbeitsplätze schaffen und natürlich schöne Häuser für die Arbeiter bauen. Sowie gute Verbindungen zu London herstellten, und zum übrigen Teil des Landes... Sehr viel weniger ins Programm passten ihnen Frauen,die keine Hüte und nicht einmal Strümpfe trugen, und Männer, die sogar ohne Schuhe herumliefen..“ Aber mittellose Aussteiger sind im modernen Letchworth nicht zu finden, sagt Ros ein Weilchen später im Pub - einem pseudomittelalterlichen Gebäude in der Nähe vom Bahnhof. Lediglich der Name erinnert an die Gründerzeit. The Three Magnets – die drei Magneten - so heißt das berühmte Diagramm, in dem Ebenezar Howard sein Konzept einer Garden City auf den Punkt brachte. Eigentlich ziemlich paradox, ausgerechnet eine Kneipe mit dem Gründungsvater in Verbindung zu bringen, meint Ros Allwood. Schließlich war Howard ein strenger Teatotaller, der den Ausschank von Alkohol streng verboten hatte. Erst 1958 wurde in Letchworth – nach einem Referendum – das erste Pub zugelassen. Der ursprüngliche Charakter der Gartenstadt ging allerdings schon viel früher verloren. „Der erste Weltkrieg stellte eine gewaltige Zäsur dar. Nach 1918 brachen in England ganz andere Zeiten an –auch in Letchworth Garden City. Schon damals begannen die Leute nostalgisch von seiner Gründerphase zu schwärmen, als kreative und mutige Pioniere gegen den Willen ihrer Familien ihre sichere Existenz aufgaben, um einer idealistischen Vision zu folgen. Aber inzwischen gilt Letchworth gerade bei Pendlern aus der wohlhabenden Mittelschicht als begehrenswerter Vorort von London, und ist viel zu teuer geworden, als dass sich mittellose Künstler hier überhaupt noch niederlassen könnten.“ „Es heißt, König Utopus persönlich habe die Stadt in ihrer gegenwärtigen Gestalt angelegt, aber ihre Ausschmückung und Erweiterung überließ er späteren Generationen, da er erkannt hatte, dass eine allein damit niemals fertig werden kann. In den Chroniken, die mit großer Sorgfalt seit der Eroberung der Insel vor eintausendsiebenhundertsechzig Jahren geführt werden, ist nachzulesen, dass die Häuser zu Anfang sehr niedrig und eher wie gemütliche Kotten oder die Hütten armer Schäfer waren, erbaut aus dem Holz, das gerade zur Hand war, mit Lehmwänden und riedgedeckten, spitzgiebligen Dächern. Doch nun haben alle Häuser drei Stockwerke, deren Fassaden entweder aus Stein oder aus Stuck und Ziegeln bestehen, während die Innenwände mit Holz verstärkt sind. Die Flachdächer sind mit einem Verputz versehen, der kaum etwas kostet, aber so gehärtet ist, dass kein Feuer ihm schaden kann und er die Widrigkeiten des Wetters besser übersteht als jedes Blei. Den Wind halten sie von ihren Fenstern durch eine Verglasung fern, die dort sehr häufig anzutreffen ist, aber manchmal auch mit einem eingeölten oder gummierten feinen Leinentuch. Auf diese Weise fällt mehr Licht ein, und der Wind bleibt draußen.“ Musik hoch Mod Häuser für die Zukunft zu entwerfen: gewagte Konstruktionen aus Glas, Beton und Stahl – darum kümmert sich seit mehr als 150 Jahren die Architectural Association School of Architecture in London, kurz AA. Ein weltweit angesehenes Labor für neue Bau-Ideen. Nur im eigenen Land bekommen die Material-Visionäre seit einigen Jahren Gegenwind von ganz oben: Prince Charles. Der britische Thronfolger begann Ende der 1980er Jahre, die futuristischen Gebäude von Star-Architekten wie Renzo Piano, Rem Kohlhaas oder Zaha Hadid öffentlich zu kritisieren, ungefragt, laut und vielbeachtet. Er machte einen Gegenentwurf: A vision of Britain – ein Buch, in dem er unter anderem 10 Grundsätze formuliert, für ein, Zitat: “nachhaltiges städtisches Wachstum, das die Tradition wertschätzt”. Und hat sich erlaubt, seine urbanistischen und architektonischen Vorstellungen auch selbst umzusetzen: in seiner eigenen Stadt. Schottergässchen, Torbögen, Stadthäuser, Cottages. Alles bunt durcheinander. Keine Reklame, keine Ampeln, wenig Straßenschilder. Und kaum Menschen. Halb Traumkulisse. Halb Puppenstube. „Toll, dass Sie sich nicht gleich verirrt haben!“ Bridget Trotman, Rentnerin, und Inhaberin des einzigen Bed and Breakfast in Poundbury. Erst einmal eine Tasse Tee. Bridget Trotman zog 2002 nach Poundbury. Als ihr Mann pflegebedürftig wurde, mussten sie ihr altes Bauernhaus auf dem Land aufgeben. „Ich hätte nie gedacht, dass es ihm in einer Stadtsiedlung gefallen würde. Aber das Haus hier war nagelneu, pflegeleicht, bestens isoliert, und ausgesprochen preiswert. Und übrigens auch eine wirklich gute Geldanlage: innerhalb von zehn Jahren hat sich sein Wert verdoppelt.“ Bridget Trotman kann sich noch gut an die Anfänge von Poundbury erinnern. Prinz Charles hatte die Elite der britischen Architekten schon jahrelang gegen sich aufgebracht, weil er ihre modernen Wohnbunker als brutalistisch und abscheulich bezeichnete. Nun konnten sie sich endlich revanchieren und seine Modellstadt Poundbury unter Beschuss nehmen. „Kritiker haben dem Prinzen Landraub vorgeworfen. Und Überheblichkeit. Und einen gravierenden Mangel an originellem Denken. Das Bauland war zwar Teil der Duchy von Cornwall, das heißt es hat ihm ohnehin schon gehört. Aber es handelte sich um besten Ackerboden. Ein normal Sterblicher hätte es nie geschafft, eine Baugenehmigung zu bekommen.“ 1994 wurde der Grundstein für die erste Phase gelegt. Bridget Trotman arbeitete damals im kommunalen Planungsdezernat. „Die Architekten entwarfen zunächst ganze Straßenzüge mit Häusern, die alle gleich aussahen. Das war aber nun gar nicht im Sinne von Prinz Charles. Er engagierte daraufhin einen Künstler und Architekten aus Luxemburg. Und der gab jedem Haus eine andere Fassade, eine andere Höhe, einen anderen Schornstein. Wobei er sich möglichst an den traditionellen Häusern und Materialien der umliegenden Dörfer orientierte. Das Ganze sollte so aussehen, als ob es sich über die Jahrhunderte entwickelt hätte.“ Bridget Trotman deutet aus dem Fenster auf die Pendruffle Lane. Direkt gegenüber steht ein Flintsteinhaus mit rotem Ziegeldach, daneben ein Cottage mit grauem Schieferdach, und weiter hinten, schräg versetzt, ein weißverputztes Stadthaus in der Optik des 18. Jahrhunderts. Eine stilistische „Tour de Force“, gibt sie zu. Aber dennoch interessanter als die meisten modernen Wohnsiedlungen. Da nimmt sie auch die Auflagen in Kauf, die den Bewohnern auferlegt werden, erzählt sie während eines kurzen Rundgangs durch die Nachbarschaft. Keine Plastikfenster, keine Fernsehantennen. Und nur ganz bestimmte Farben für die Haustüren „Wir hatten die Wahl zwischen fünf Farben, alle stinkhässlich. Eidottergelb, hellblau, schwarz, knallrot, grün. Inzwischen ist die Farbpalette etwas erweitert.“ „So now you can have any? Yes, any..“ Die genauen Regeln sind in den sogenannten „Covenants“ nachzulesen, eine Art Hausordnung für jeden, der in Poundbury wohnen will. Überwacht werden die Auflagen von einem Management Gremium, in dem Prinz Charles – als Landbesitzer – das letzte Wort hat. Er kommt mindestens zweimal im Jahr nach Poundbury, um seine Traumstadt zu inspizieren. Aber eigentlich wäre das gar nicht nötig, meint Bridget Trotman. Die Leute hielten sich ganz genau an die Regeln. Jeder Blumenkübel ist sorgfältig platziert, jede Pflanze artig beschnitten. „Es wäre so unerwartet, hier eine leere Chips Tüte zu finden. Jeder würde sie sofort aufheben.“ Nur ein paar Schritte weiter und wir sind mitten in der freien Natur. Satte Wiesen, sanfte Hügel bis zum fernen Horizont. Ein paar Jungs spielen Fußball, ein kleines Mädchen führt den Hund aus. Ohne von Erwachsenen bewacht zu werden... In Poundbury fühlen sich die Leute sicher, betont auch Alex, der junge Wirt im „Hofdichter“, dem Pub auf dem Pummery Platz. „Ich bin erst vor zwei Jahren mit meiner Frau hierhergezogen. Wir sind gerne hier. Obwohl es sich nicht wie ein Dorf, sondern eher wie eine Filmkulisse anfühlt. An Poundbury scheiden sich die Geister. Entweder du findest den Ort ganz toll oder ganz scheußlich. Alles ist neu. Nirgends sind Wegweiser. Selbst die Schornsteine sind nur Schein. Wir dürfen kein offenes Feuer machen. Aber es ist trotzdem nett hier. Verschroben. Ruhig.“ Hinter dem Holztresen gleißen Dutzende von Zapfhähnen mit lokal gebrauten Bieren. Für Hundeliebhaber steht ein Glasbehälter für Dogbiscuits bereit. In der Ecke haben sich ein paar Stammgäste in den tiefen Ohrensesseln niedergelassen. „Die große Idee hinter Poundbury ist, dass man hier leben und zur Fuß zur Arbeit gehen kann. Aber wenn Sie sich den neuen Queen Mother Square anschauen, können Sie nur noch staunen. Dort werden gerade Luxusappartments hochgezogen, für eine Million Pfund! Für Leute, die hier arbeiten? Wohl kaum.“ Tatsächlich könnte man sich neueste Viertel rund um den Queen Mother Square eher im Zentrum von London vorstellen. Bzw in einem Erlebnispark zu Ehren des britischen Königshauses. Im Mittelpunkt: eine überlebensgroße Statue der verstorbenen Königinmutter. Der Pub schräg gegenüber gleicht einem italienischen Palazzo und heißt Duchess of Cornwall. Nicht weiter verwunderlich, dass der benachbarte Appartmentblock mit seinen riesigen korinthischen Säulen im Volksmund bereits in „Buckingham Palace“ umgetauft wurde... Aber Miriam Phillips, Herausgeberin des lokalen Lifestyle Magazins „Celebrating Poundbury“, verteidigt die Piazza: „Wo würden heutzutage überhaupt noch öffentlichen Plätze gebaut!“ Miriam gehört zur neuen Generation junger Familien, die Poundbury für sich entdeckt haben. Gerade für unabhängige Start Ups herrschten fantastische Geschäftsbedingungen. „Als ich hier her kam, war ich erstaunt über den hohen Anteil junger Mütter, die hier arbeiten und sich ausgesprochen wohl fühlen. Wegen der guten Schulen, der günstigen Pachtverträge, der großzügigen Subventionen - außerdem ist das Umfeld kinderfreundlich und total sicher.“ Miriam nimmt mich zur Spielgruppe mit. Zwei Dutzend Eltern und Kleinkinder in der Brownsword Hall direkt über der mittelalterlich gestylten Markthalle. Freya, ehrenamtliche Mitarbeiterin, Mutter und Videoproduzentin, ist vor zwei Jahren aus London nach Poundbury gezogen. „Ich gehöre zur Generation, die sich nie ein Haus kaufen könnte. Die Mieten hier sind zwar auch nicht gerade niedrig, aber die Lebensqualität und das Gemeinschaftsgefühl – das alles wäre in London gar nicht denkbar.“ „Darüber hinaus haben die Utopier noch das Glück, dass sie bei ihren notwendigen Beschäftigungen nicht soviel arbeiten müssen wie andere Nationen. Zum ersten erfordert das Bauen und Erhalten eines Hauses überall sonst die andauernde Arbeit vieler Menschen, wenn ein unbedachtsamer Erbe das Haus verfallen ließ, das sein Vater erbaut hat. So muss er das, das er unter geringen Kosten hätte erhalten können, teuer wiederherstellen. Zweitens komm es oft vor, dass das Haus, das jemand unter großen Kosten gebaut hat, einem anderen gar nicht gefällt, der sich mit einem feineren Sinn für die Schönheiten der Architektur brüstet und es verfallen lässt, während er ein anderes Haus an einem anderen Ort zu genauso hohen Kosten errichten lässt. Aber bei den Utopiern, bei denen alles in guter Ordnung ist, kommt es nur sehr selten vor, dass jemand auf einem neuen Grundstück ein neues Haus baut. Sie finden nicht nur schnelle Lösungen für alle Mängel an einem Bau, sondern verhindern es bereits im Voraus, dass solche auftreten. deshalb ist es ihnen möglich, ihre Häuser unter geringem Aufwand lange zu erhalten, sodass die dazu abgestellten Arbeiter fast nichts zu tun haben, außer zu Hause Bauholz zurechtzusägen und Steine zu behauen, damit die Arbeit schneller vorangeht, wenn sie denn doch einmal nötig ist.“ Freiheit. Gleichheit. Lebensqualität.  Der Traum von einem Eden auf Erden ist uralt. Sehnsuchtsorte,  in denen "der neue Mensch" zu seinem Glück finden soll, existieren zumeist nur in den Köpfen und auf dem Papier. Und werfen immer wieder Fragen auf: Lässt sich die ideale Stadt am Reißbrett konzipieren? Oder sollten die Bewohner an der Planung beteiligt sein, dass ein solches utopisches Modell funktioniert? Wieviele Konflikte können ausgetragen werden, müssen es gar? Welche Kompromisse sind zu machen? Kann es im 21. Jahrhundert genügen,genug zu haben zum Leben? Eigentum oder Miete? Visionäre Wohnmodelle entstehen auch in Großbritannien: Smart cities. Cities in the Sky. Oder die geplante Garden Bridge in London. Wagemutige Ideen für urbane Zentren. Manchen jedoch reicht es, nette Nachbarn zu haben. Und ein Dach über dem Kopf. Der Bus aus Brighton gibt kräftig Gas, bevor er den Berg von Moulscoombe nach Bevendean hochkriecht. Die Sonne scheint, die Möwen kreischen, vom Meer weht ein frischer Wind. In diese Hügel, nur wenige Kilometer von der Küste entfernt, waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganze Communities aus den Elendsvierteln von Brighton ausgesiedelt worden, in der Hoffnung, die neue Umgebung, die freie Natur werde nicht nur die angeschlagene Gesundheit der Bewohner, sondern auch alle gesellschaftlichen Übel heilen. Ein soziales Experiment, das nicht den erwünschten „Garden Suburb“ hervorbrachte, sondern eine unbarmherzige Serie von Reißbrettsieldungen. Endlose Zeilen von Reihenhäusern, vernachlässigte Vorgärten, zugenagelte Ladenfronten. Erst weiter oben werden die Straßen breiter, Häuser und Gärten größer. Zeichen von Gentrifizierung und Privatbesitz – dazu ein hinreißender Blick auf die umliegenden Downs, auf den Nationalpark, aufs Meer. Unvermittelt eine steile Anhöhe, dahinter, lauschig verborgen, zehn langgestreckte Bungalows auf Stelzen. Bunte, moderne Bauten, von breiten Holzverandas umgeben, und mit viel Grün - etliche allerdings bis übers Dach eingerüstet. “Everybody seems to work”... “No, the roofs need doing.They’re just renewing the turf.“ Nein, die Häuser seien völlig in Ordnung, versichert Mat, einer der Bewohner von Hogs Edge. Aber das Gras auf den Dächern, dass müsse ausgetauscht werden. Mat baut gerade ein Hochbett mit Treppe für Debbie, seine Nachbarin. Natürlich könnte sie das auch selber erledigen, sagt er: aber Debbie habe zur Zeit viel am Hals. Debbie wohnt in der Nummer Vier. Lebhaft, herzlich, vielleicht Mitte 40. Sie steht am Herd und kocht Eintopf. Für sich, für ihre Tochter Rosa und deren Freund. Die beiden haben ihr Studium in London abgeschlossen und sich anschließend mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Aber ihr ganzer Verdienst ging praktisch in die Miete, erzählt Debbie. Und so seien sie vorübergehend bei ihr eingezogen. Typisch für die Boomerang Generation – sie müssten für die akute Wohnungsnot büßen. „Cup of tea? Coffee?“ Debbie liebt ihren Bungalow. Die hellen Räume, die großen Fenster. Die schnuckeligen Ecken. Alles selbstgebaut. Sie kann sich noch gut erinnern, wie sie die Tragebalken zurechtgesägt, den Boden verlegt, die Fensterrahmen eingesetzt hat. Draußen im Gemüsegarten erzählt sie, wie es dazu kam. „Ich wohnte in Brighton zur Miete, aber dann wollte der Eigentümer sein Haus verkaufen und setzte mich kurzfristig auf die Straße. Erst kam ich bei Freunden unter. Ich zog praktisch von Sofa zu Sofa, damals war meine Tochter noch ganz klein. Schließlich wurden wir vom Sozialamt in einem Hotel untergebracht,wir sollten warten, bis eine Sozialwohnung frei würde.“ Und dann die glückliche Wende. 1996 hörte Debbie von einem neuartigen Projekt, das von dem deutsch-britischen Architekten Walter Segal inspiriert war. Segal hatte in London schon in den 60er Jahren Prototypen für Holzrahmenhäuser entwickelt, die im Do-It-Yourself Verfahren gebaut werden konnten. Billig, schnell, und ohne Fachausbildung. Das Hogs Edge Projekt nahe Brighton sollte von zwei Wohnungsgenossenschaften finanziert werden: zehn Häuser, für zehn obdachlose Familien, die auf der Prioritätenliste für Sozialwohnungen ganz oben standen und keinen Penny auf der Bank hatten. „Jeder von uns musste sich verpflichten, dreißig Stunden pro Woche auf dem Bau zu arbeiten. Keiner hatte vom Bauen auch nur eine schwache Ahnung. Aber dies war unsere einzige Chance, für eine sichere Zukunft zu sorgen, vor allem für unsere Kinder. Das hat uns von Anfang an zusammengeschweißt. Hinzu kam, dass wir unsere Ziele sehr genau definierten, wir hatten zahlreiche Meetings, lange bevor wir mit dem Bauen anfingen. Eine sehr wichtige Rolle hat auch der Manager gespielt, der die ganze Arbeit koordinierte und uns praktisch alles beibrachte. Und so lernten wir, während wir bauten: für die ersten zwei Häuser brauchten ziemlich lange. Die Bauphase selbst dauerte zweieinhalb Jahre - und gab uns die Möglichkeit, einander wirklich ganz genau kennenzulernen und zu respektieren.“ Und so entstand die Hedgehog community, auf einem Steilhang, der von kommerziellen Bauherren als unrentabel abgelehnt und von Anwohnern als Müllkippe benutzt worden war. 17 Erwachsene und 13 Kinder. Als erstes richtete die Gruppe eine Kinderkrippe ein, um die Hände fürs Bauen frei zu haben. Dann organisierte sie regelmäßige Treffen mit den Nachbarn. „Die Nachbarn waren erst einmal ziemlich skeptisch. Die Gebäude fielen aus dem Rahmen, und das Konzept auch. Gleichzeitig waren sie sehr neugierig. Aber als sie sahen, dass wir uns mit Leib und Seele für unsere Sache einsetzten und darüberhinaus ganz normale Familien sind, hat sich die Situation relativ bald entspannt.“ Debbie zeigt auf einen kleinen Teich hinter ihrem Gemüsebeet. Den hat sie erst vor kurzem angelegt. Seit sie ihr eigenes Haus gebaut hat, traut sie sich eigentlich fast alles zu. Männer finden es immer noch ungewöhnlich, wenn eine Frau auf einer Baustelle arbeitet und nicht nur den Tee macht. Aber ich hatte großen Spaß daran. Obwohl es manchmal elend kalt war und nass und dunkel. Kein einziger von uns ist abgesprungen. Das lag sicher auch daran, dass wir uns schon in der Planungsphase genau abgesprochen haben, damals sind tatsächlich mehrere Leute ausgestiegen. Aber die Gründungsmitglieder leben bis heute noch hier. Alle. Kein einziger hat das Bedürfnis umzuziehen. Wenn das so weitergeht, wird Hogs Edge irgendwann einmal eine Altensiedlung werden, scherzt Debbie. „That would be fun. Quite possibly.“ Sie arbeitet neuerdings für eine Organisation, die sich um die wachsende Zahl der Obdachlosen in Brighton kümmert. Ein Job, der sie voll beansprucht und ihr jeden Tag aufs Neue verdeutlicht, welch eine glückliche Wende ihr eigenes Leben genommen hat. Debbie bezahlt nur ein paar hundert Pfund Miete und besitzt ein lebenslanges Wohnrecht, das sie sogar an ihre Tochter vererben kann. Plötzlich springt sie auf. Sie hat ihre Suppe vergessen. Sie hastet ins Haus zurück. „That’s fine.“ Alles in Ordnung. Dann geht sie auf die Veranda. An der Aussicht kann sie sich einfach nicht satt sehen. „Unsere Kinderkrippe haben wir schon längst abgerissen, die Kinder sind erwachsen. Wer weiß, ob sie wirklich einmal hier wohnen wollen. Aber ich werde nie vergessen, wie fasziniert sie uns damals beim Bauen zuschauten. Das hat sie so inspiriert, dass sie gleich auch etwas für sich bauen wollten. Nun ja, die wenigsten Eltern bauen schließlich ihr eigenes Haus. Und das finde ich einfach toll: dass sie gesehen haben, wie eine Community entsteht, und dass sie einen Sinn dafür bekamen, was alles möglich ist.“ „Da die Utopier alle auf diese Weise mit nützlichen Arbeiten beschäftigt und für jede Tätigkeit nur wenige Handwerker nötig sind, um eine mehr als ausreichende Anzahl von Waren herzustellen, ist es ihnen möglich, hin und wieder eine riesige Zahl von Menschen zusammenzubringen, um beschädigte Straßen auszubessern. Wenn solche Arbeiten gerade nicht notwendig sind, wird oftmals die Arbeitszeit durch Verordnung einfach herabgesetzt, denn der Magistrat belastet seine Bürger nicht gegen deren Willen mit unnützen Arbeiten. Schließlich ist es das Zeil des Staates, dass alle Bürger, soweit sie nicht ihren notwendigen Beschäftigungen oder den Angelegenheiten des Staates nachgehen müssen, von körperlicher Arbeit befreit sind und sich geistigen Dingen widmen können. Denn ihrer Meinung nach liegt darin das wahre Glück des Lebens.“ Träume leben. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: utopische Wohnprojekte in Großbritannien. Eine Sendung mit Reportagen von Ruth Rach. Die Literaturpassagen entnahmen wir dem Klassiker von Thomas Morus, „Utopia“. Jonas Baeck hat sie gelesen. Ton und Technik: Gunther Rose und Thomas Widdig. Im Namen des ganzen Teams verabschiedet sich am Mikrophon: Simonetta Dibbern. 1