COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 26. März 2012, 19.30 Uhr Einspruch! Intellektuelle als politische Vordenker? Eine Sendung von Eva Hillebrand Take 1: Frank Schirrmacher Das wäre ja noch schöner. Mittlerweile kann die Politik schon nicht mehr offen reden, weil die Erwartung der Erwartung der Erwartung von Märkten sie dazu zwingt. Und das ist das Gefährlichste überhaupt. Das nannte Ernst Bloch früher die Sklavensprache und da helfen solche Positionen ungemein, weil die haben sich davon noch nie beeindrucken lassen. Sprecher vom Dienst: Einspruch! Intellektuelle als politische Vordenker? Eine Sendung von Eva Hillebrand Take 2: Tilman Reitz Das Entscheidende ist: haben diese Leute einen Ankerpunkt, eine Bewegung, mit der sie sich solidarisieren können, haben die ein Projekt, mit dem sie sich in irgendeiner Weise einlassen können. Ein Intellektueller allein, der sich hinsetzt und die Zeit und die Welt und die Politik deutet, kann relativ wenig ausrichten, die klassischen Beispiele von großen Intellektuellen sind eigentlich solche, wo Leute die Fronten schon vorgefunden haben und dann noch zusätzlich zugespitzt und geschärft haben Sprecherin: Der Schriftsteller Emile Zola fand im ausgehenden 19.Jahrhundert solche Fronten im gesellschaftlichen Gefüge Frankreichs vor. Er erkannte sie, nutzte sie und gilt seitdem als rolemodel für die moderne Sozialfigur des kritischen Intellektuellen. Take 3: Franz Walter Es war 1898, als er sein "J´accuse", den offenen Brief an den Ministerpräsidenten der damaligen französischen Republik gesandt hat. Sprecher: Franz Walter, Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Take 4: Franz Walter Im Grunde genommen war Frankreich zu diesem Zeitpunkt gesellschaftlich schon deutlich gespalten, aber auch überschaubar gespalten in zwei Lager: ein eher säkularisiertes republikanisch demokratisches auch liberales Lager auf der einen Seite, auf der anderen Seite eben diejenigen, die die Staatsräson stark hochgehalten haben, auch das Militär war wichtig, und das Ganze wurde zusammengehalten durch die katholische Kirche und mit einer großen Distanz dann in diesem Falle zur Demokratie. Aber irgendetwas ging nicht mehr, wie es bis dahin gegangen ist Sprecherin: Jetzt bedurfte es nur noch des zündenden Funkens. Take 5: Franz Walter Und der ist dann durch den Hauptmann Dreyfus, einen jüdischen Franzosen gekommen, dem man unterstellt hat, dass er ein Spion war, und der dann lebenslang verurteilt worden war. Und es ist dann bekannt geworden, dass dieses eine manipulierte Angelegenheit war, auch viel mit Antisemitismus, viel mit militärischen Intrigen zu tun hat, und ein Intellektueller hat das dann öffentlich gemacht, so ein typisches Pamphlet oder ein typisches Manifest, das auf Öffentlichkeit auch aus ist. Sprecher: J´accuse, Jáccuse, j´accuse, j´accuse Sprecherin: Acht Anklagen schleuderte Emil Zola dem damaligen Präsidenten, den Vertretern des Kriegsministeriums und des Kriegsgerichts entgegen. Der offene Brief erschien in George Clemenceaus Zeitung L´ Aurore und deckte Details des Verrates an Hauptmann Dreyfus auf. Überall im Land brachen wütende Protestaktionen aus. Anhänger des Opfers, die so genannten Dreyfusards lieferten sich Straßenschlachten mit Nationalisten, aus deren Mitte heraus die erste faschistische Bewegung Europas entstand: die Action Francaise, deren Anhänger eine Diktatur forderten. Der Verleger George Clemenceau hatte Mut bewiesen und Emil Zola... Take 6: Franz Walter .. riskiert eine Menge, er wurde dann ja selber auch zur Haft verurteilt, er musste fliehen, das ist dann ja nicht nur so 'ne Meinungsäußerung, die man in irgend 'ner Zeitung schreibt, sondern es ist der flammende Appell in dem man in der Tat einiges riskiert und dadurch sind die Verhältnisse zum Tanzen gekommen. Effekt Sprecherin: Hauptmann Dreyfus wurde rehabilitiert. Zola kehrte zurück nach Frankreich. Am Ende des Aufstands verfügte die katholische Kirche längst nicht mehr über die Machtposition, die sie noch Ende des 19.Jahrhunderts hatte. Frankreich hatte mit der Dreyfusaffaire eine gesellschaftliche Selbstverständigung durchlaufen. die zu einer Stärkung der Republik führte. Sprecher: Kaum war der Begriff "Intellektueller" in der Welt, wohnte ihm ein tiefer Widerspruch inne. Der Majorität nämlich galt er als Schimpfwort. Intellektuelle verkörperten das Gegenteil jener Werte, die die öffentliche Meinung in Europa prägten: Nationalismus und Antisemitismus.Für die Beschimpften indes kam die Bezeichnung "Intellektueller" einem Adelstitel gleich. Es war ein Kampfbegriff entstanden, der fast ein Jahrhundert lang die Geister spaltete. Effekt Sprecherin: Im Deutschland der NS-Zeit diente der Begriff "Intellektueller" den Rechten geradezu als Fluch, um ihre Erzfeinde, die Juden, die Liberalen, und die Kommunisten zu verdammen. Sie wurden stigmatisiert als Neinsager aus Prinzip, als Zersetzer, dekadente Weichlinge, kurz als undeutscher Typ schlechthin. Indes: auch bei den Kommunisten waren sie gar nicht wohl gelitten. Galten sie dort doch als Büttel der Bourgeoisie. Sprecher: "Die Intellektuellen müssen immer mit eiserner Faust angefasst werden." Sprecherin: verkündete Lenin - immerhin der Kopfarbeiter der russischen Revolution. Intellektuelle wurden zu jener Zeit also von rechts und von links in die Zange genommen. Regie: Zäsur Sprecher: Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Antonio Gramsci, Pierre Bourdieu, Hannah Arendt, Max Horkheimer und Theodor Adorno, Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Günther Grass, Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger Sprecherin: Nach den Verwüstungen des 2.Weltkrieges oblag es diesen Gesellschaftskritikern und republikanischen Geistern, die junge deutsche Bundesrepublik in den Umgang mit Kritik und Konflikten einzuüben. Dazu gehörte auch die Konfrontation mit den konservativen Kollegen. Sprecher: Carl Schmitt, Ernst Jünger, Martin Heidegger, Arnold Gehlen, Kurt Sontheimer, Helmut Schelsky, Ernst Nolte Sprecherin: Sie hingegen lehnten den Begriff "Intellektuelle" noch längere Zeit ab und bezeichneten sich als "Geistige". Sprecher: Gerade der Typus des mutigen intervenierenden Intellektuellen wird heutzutage vermisst, mitunter gar totgesagt. Aber ist es in unserer Gesellschaft der unzähligen öffentlichen Diskurse noch möglich, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, wie zu Zeiten Emil Zolas, wo noch klare Frontverläufe herrschten, der klassische Intellektuelle den Diskurs für "alle" führte? Sind nicht längst Experten an die Stelle der politischen Vordenker getreten und werden Menschenrechte nicht vor allem von Netzaktivisten verteidigt? Lässt die Konsensdemokratie überhaupt noch Spielraum für Einsprüche, und wenn ja, für welche, außer den talkshowtauglichen? Es scheint, als müssten Intellektuelle ständig in neue Rollen schlüpfen. Sprecherin: Wie anders geht es den Ökonomen! Sie wähnen sich weiterhin im Besitz von universalgültigen Handlungsmaximen: Mit ihrer ganz eigenen Kosten-Nutzen -Vermessung der Welt haben sie fast schleichend die Deutungshoheit über die politische und gesellschaftliche Sphäre übernommen. Ökonomische Theorien entwickelten sich zu einem anerkannten Verfahren der Gesellschaftspolitik und Weltauslegung. Im Westen jedenfalls. Mit anderen Worten: auch wenn es in diesem System Pannen gibt und Unglücksfälle, folgt es doch einem weisen und vernünftigen Plan. Zweifel waren und sind, obgleich es sich doch nur um ein Glaubenssystem handelt, nicht vorgesehen. Take 8: Ingo Schulze: Plötzlich war die Wirtschaft wie ein Naturereignis. Sprecher: Ingo Schulze, Schriftsteller, aufgewachsen in der DDR Take 9: Ingo Schulze Ich hatte das Gefühl, dass man aus einer Welt der Worte in eine Welt der Zahlen kommt, dass es völlig egal ist, was man sagt, es kommt nur noch drauf an, wie es sich rechnet. Und das ist natürlich´n großer Irrtum und ich hab sehr lange gebraucht, um aus diesem Irrtum aufzuwachen und zu sagen: auch der Westen beruht auf Metaphysik Take 10:Frank Schirrmacher: Das Desaster von Welterklärungsmodellen, die unsere Medien bestimmten in den letzten zehn Jahren, dann kann es einfach nicht sein, dass man jetzt so Business as usual macht. Sprecherin: Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im August 2011 erörterte er in der FAZ in Anlehnung an den britischen konservativen Journalisten Charles Moore, die Frage: "hatte die Linke vielleicht doch recht"? Take 11: Frank Schirrmacher: Man muss einfach auch im Sinne einer dialektischen Bewegung jetzt die Argumente an der neuen Realität wieder testen, auch mit Positionen, von denen man jetzt erkennt: sie waren, und dazu zählen natürlich eine Reihe von linken Positionen, sie waren überhaupt nicht falsch, sondern sie waren hellsichtig. Und das ist auch nicht des Remmidemmis willen oder der Provokation willen, sondern es geht hier wirklich um Erkenntnisprozesse. Sprecher: Schirrmacher schaffte im Feuilleton der FAZ ein Forum für Interventionen von Wirtschaftswissenschaftlern, die die Finanzkrise aus unorthodoxen Blickwinkeln analysierten. Take 12:Frank Schirrmacher In der damaligen Perspektive und ich bin nun auch kein Ökonom, schien es ganz einleuchtend, eine Art von rationales Instrument, ich würde noch nicht mal sagen, die neoliberale Ideologie an sich, sondern die Idee, eine moderne Gesellschaft auf neue rationale Grundlagen zu stellen. Nehmen Sie mal folgendes Beispiel: Liberalisierung der Finanzmärkte. Das klang ja ganz plausibel: wir liberalisieren, verdienen was, alle profitieren davon, ich weiß noch wie Leute sagten: Alle werden Aktieninhaber und dann identifizieren sie sich ganz neu mit den Unternehmen. Nein, das ist auch ein Prozess, der jetzt widerlegt ist durch die historischen Fakten. Ich bewundere all die, die es rechtzeitig gesehn haben. Effekt Sprecherin: Aber wie konnte das passieren, wie war es möglich, dass diese vermeintlich rationale Logik, die auf systemerhaltender Unvernunft basiert, sich fast das gesamte demokratische Spektrum Untertan machen konnte? Wie sind diese Theorien in die gesellschaftliche Praxis geschmuggelt worden und warum gab es darüber keine öffentliche Selbstverständigung? Zuerst gilt es zu konstatieren: Der Prozess hatte schon lange vor dem Mauerfall begonnen, fand aber hinter den Kulissen statt. Franz Walter Take 13: Franz Walter Und irgendwann hat es gedämmert, nicht erst 1989/90 sondern eigentlich auch schon in den frühen 70-er Jahren, als viele dieser Planungseuphorien, dieser Überzogenheit, auf staatliche Planung zu setzen, doch sich enorm diskreditiert hat. Bestimmte Zauberformeln der Linken, dass eben über die Sozialisierung also die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und dass über eine rationelle Steuerung von Produktion, Konsumption über einen zentralen Staat ,eine freie, eine emanzipierte Gesellschaft kommen kann, das ist in der Tat zerstört worden. Sprecher: Franz Walter verweist damit auch auf die Theorie von Keynes, die unter anderem eine offensive Ausgabenpolitik des Staates zur Stabilisierung der Wirtschaft befürwortet. Dieser ökonomische Ansatz war ebenso wie sein Counterpart, der entfesselte Markt unterfüttert von zuviel Glauben an seine Rationalität, der dann bei der ersten großen Wirtschaftskrise der Bundesrepublik in Zweifel umschlug. Die Lehre geriet in Misskredit, da auch sie sich als fehlbar erwiesen hatte. Sprecherin: Gleichzeitig wurde 1973 das Abkommen von Bretton Woods aus den vierziger Jahren, welches den Dollar an die Umtauschrelation zum Gold koppelte, aufgekündigt. Das war die Geburtsstunde der frei flottierenden Finanzströme und entfesselten Finanzmärkte, die bis dahin nicht existiert hatten. Reagonomics und Thatcherismus breiteten sich aus, die Weichen waren gestellt. Take 14: Franz Walter Denn was wir in den letzten Jahrhunderten hatten, gerade für die moderne Gesellschaft, waren zwei tragende Basissysteme, die wesentlich waren für den Erhalt und für die Fortentwicklung der modernen Gesellschaft. Das war der Staat auf der einen Seite und die Märkte auf der anderen Seite. Markt und Staat. Eine Instanz stand immer im Sonnenschein von Legitimation und Anerkennung. Man enteignet auch den Gegner. Bis dahin war der Gegner derjenige, der mit der Zukunft im Bunde stand mit ihm zog die neue Zeit und dann sagen die, nein, mit uns zieht die neue Zeit. Sprecher: Perioden von Veränderung oder Konflikten waren in den politischen Systemen der Moderne stets auch Zeiten, in denen Intellektuelle als Katalysator wirken konnten, als Sinnstifter, Ideenlieferanten, als Störenfriede. Im Zuge der Spiegelaffaire 1962 stärkten sie den Rechtsstaat, Willy Brandt stifteten sie dazu an, mehr Demokratie zu wagen. Und in der Auseinandersetzung mit der RAF im deutschen Herbst 1977 wurden sie pauschal als Sympathisanten diffamiert, hatten aber letztlich mit dazu beigetragen, dass der Rechtsstaat nicht in einen autoritären Staat abkippte. Sprecherin: Nahezu gleichzeitig, also viele Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges, hatte - von der Eisernen Lady 1981 verkündet - aber von Vielen unbemerkt, die Ära der Alternativ- losigkeit bereits begonnen. Insbesondere in beiden deutschen Staaten war es dann aber bis zum Mauerfall noch denkbar, dass Alternative oder Utopie quasi direkt vor der Tür lägen: in Gestalt des anderen deutschen Staates. Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Take 15: Frank Schirrmacher Ich glaube, dass man einfach nicht unterschätzen darf, dass das Jahr 1989 zunächst einmal das Ende einer Großideologie brachte. Daran kann ja überhaupt kein Zweifel sein. Es dauerte dann aber eine Weile, bis man merkte, dass diese Ideologie neben ihrem eigentlichen ideologischen Gehalt eine Art dialektisches Verhältnis zu unserem System hatte, das heißt, dass unser System so war, wie es war, weil es auf der anderen Seite ein kommunistisches System gab. Was interessant ist, auch im Rückblick, ist, dass viele diese Lücke ausgenutzt haben. Diese gesamte neoliberale Ideologie entpuppt sich jetzt im Rückblick , ich gebe zu, man muss diesen Begriff noch genauer definieren, als eine Art von Usurpation einer Gesellschaft, die ihr neues Navigationssystem noch nicht gefunden hatte. Sprecher: Und es bis heute noch sucht. Der Wechsel zwischen staat- und marktorientierten Systemen der früher für politisches Gleichgewicht gesorgt hatte, ist empfindlich gestört. Franz Walter, Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung: Take 16:Franz Walter Was wir in diesen Jahren befürchten müssen, und das wäre dann ein Menetekel tatsächlich, dass sich beide Basissysteme enorm delegitimieren .Also das Versagen, die finanzielle Katastrophe der Märkte führt ja dazu, dass die finanziellen Voraussetzung der Staaten auch letztlich nicht mehr da ist. Und das zu machen, was man früher immer vom Staat, bei Keynes beispielsweise erwartet hat, gegenzusteuern, und Gerechtigkeit durch flankierende oder auch intervenierende Maßnahmen herzustellen. Wenn das beide nicht mehr können, dann haben wir natürlich ein Riesenproblem. Sprecher: Hatten und haben Intellektuelle unter solchen Umständen noch eine Chance ins Steuer zu greifen, sich quer zu stellen, als Warner gehört zu werden? Die mentale Verfassung der Intellektuellen in Ost wie West nach dem Mauerfall jedenfalls glich einer Vorwegnahme der heutigen Stimmungslage: Ausweglosigkeit. Sprecherin. Wenige Tage vor, während und nach dem Mauerfall stand für viele Intellektuelle der DDR ein Zeitfenster offen, schienen eigene Wege gangbar in ein anderes Gesellschaftssystem Indes: Nicht allein der Gedanke an Freiheit sondern auch die Verlockungen des westlichen Konsumparadieses hatten dem Aufbegehren der Massen Nachdruck und Richtung verliehen. Viel zu schnell nahm die Geschichte ihren Weg durch den Hauptausgang in Richtung Bundesrepublik. Das Zeitfenster schloss sich wieder und unwiderruflich. Für die Intellektuellen glich das einem Schlag ins Gesicht. Die einen gliederten sich ein ins neue System, andere zogen sich für lange Zeit oder immer zurück. Effekt Sprecher: Auch in der Bundesrepublik trugen die Vordenker Trauer, waren verunsichert, ratlos, desorientiert, einige voller Selbstanklagen, weil sie einem Trugbild aufgesessen waren und vermeintlich dem falschen Traum nachgehangen hatten. Die Alternative war ihr Movens. Diejenigen, die Ende der sechziger Jahre an einem fälligen gesellschaftspolitischen Aufbruch mitgewirkt hatten, sahen sich einige Jahrzehnte später plötzlich am Pranger. Der Sieg des Kapitalismus schien ihre Gesellschaftskritik im nachhinein Lügen zu strafen. Die "Sieger der Geschichte" lehnten sich entspannt zurück. Neue linke Entwürfe lagen nicht in den Schubladen und ausgerechnet eine rotgrüne Regierung baute dann die letzten Hürden für den Primat der Ökonomie über die Politik ab. Es war die Zeit der Renegaten, die Zeit der großen Unübersichtlichkeit, die Jürgen Habermas schon den 80-er Jahren bescheinigt hatte. Take 17: Ingo Schulze Und das war flankiert von den Intellektuellen, von den Medien. Es ist 'ne Atmosphäre entstanden, in der eigentlich die Gesellschaft massiv gegen ihre eigenen Interessen gewählt und gearbeitet hat. Sprecherin: Sagt der Schriftsteller Ingo Schulze. Die Ideologie des dritten Weges war wieder en vogue. Ulrich Beck verarbeitete entsprechende Ideen von Anthony Giddens aus Großbritannien. Die neuen Konsensintellektuellen lobten die Linksintellektuellen für ihr Verschwinden. Endlich könne jeder die Sackgasse der Gesellschaftskritik verlassen. Tilman Reitz Juniorprofessor für Wissenssoziologie an der Friedrich Schiller Universität Jena. Take 18: Tilman Reitz Diese Leute saßen in einem Boot mit den Regierungen, die grade dran kamen, und das geht weiter bis zu dem Historiker Paul Nolte, der ja dann sozusagen noch nachträglich die Ideologie der SPD-Regierung geliefert hat. Also alle diese Intellektuellen gab es. Die standen eben nur nicht auf der Linken, bzw. auf ner Linken, die sich in ne relativ marktliberale Richtung bewegt hat. Also es gab ja in kleineren Gruppen an den Universitäten durchaus noch marxistische Intellektuelle, wenn auch nicht auf bedeutenden Lehrstühlen, nur die sind in der Öffentlichkeit einfach kaum zur Sprache gekommen und haben eben für Publika von 2000/3000 Leuten jeweils ihre Ideen entwickelt Aber das ist alles auf ganz verschiedenen Ebenen angesiedelt, und das radikal utopische Potential, was man vielleicht in den 1970-er Jahren kultiviert hat, gibt es ganz sicher nicht, und ich würde sagen: gerade nicht bei den Leuten, die im Moment öffentliche Intellektuelle sind, oder als öffentliche Intellektuelle posieren. Sprecher: Der gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurs fand derweil eine Heimat in den Talkshows. Wie der Begriff schon suggeriert, wird Gesellschaftskritik in den Fernsehstudios simuliert und mithin domestiziert. Intellektuelle, ehemals Widerständler und Ruhestörer mutierten zu begehrten öffentlichen Meinungsträgern, zu Medienstars. Take 19: Franz Walter Also Intellektuelle haben wir ja auch immer wieder übersetzt , das sind diejenigen, die mutig sind, die unbeugsam auf die Wahrheit pochen, nicht im mainstream schwimmen und wenn damals ein Querdenker etwas sagte, dann war es etwas Eigenes, Sperriges gewesen und in der Regel hat er sich dann auch nicht mehr so schnell zu Wort gemeldet, die Versuchung war natürlich auch erheblich geringer, und daraus kam der Respekt vor dieser Figur. Würde heute jemand was Queres sagen, etwas, was provokativ ist, würde damit am Montag in die Öffentlichkeit kommen, dann wäre das am Freitag vermutlich schon in 25 verschiedenen Talkshows oder in heute journals, dann kann man sein Gesicht nicht mehr sehen, man kann seine Stimme nicht mehr hören und seine Botschaft ist inzwischen trivialisiert dass inzwischen die Provokation etwas ganz Billiges hat. Take 20: Ingo Schulze Ich hab das selbst erlebt, ich war mal in so 'ner Talkshow, und man ist so davon abhängig, wie man präsentiert wird, welche Fragen kommen, dass man das schon gar nicht mehr als 'ne freie Meinungsäußerung darstellen kann. Das Format, natürlich auch dieses Denken in Quote, sind schon so vorbestimmend, dass sich da also Inhalte kaum noch frei entfalten können. Es ist der Rahmen, in dem diskutiert werden kann schon so eng gezogen, dass es fast unmöglich ist über wirklich grundlegende Dinge zu sprechen. Sprecherin: Die Plätze in den medialen Quasselbuden sind mehr oder weniger reserviert. Für Populärphilosophen und Medienintellektuelle die den Wunsch nach klaren Weltbildern und übersichtlichen Frontverläufen bedienen und lebendig halten. Der dem kritischen Intellektuellen eigene Blick aufs große Ganze wird ersetzt durch lebensweltlichen Rat und Erklärungsangebote die immer seltener aus den Geistes- und immer häufiger aus den Lebenswissenschaften stammen: aus Soziobiologie und Neurowissenschaften. Sie hauen uns die Determiniertheit unserer lebensweltlichen Möglichkeiten um die Ohren. Sprecher: Ist es wirklich das, was die Mehrheit des Publikums will, oder gibt es sich nur mangels Alternative zufrieden mit dem, was ihm geboten wird: Frank Schirrmacher: Take 21: Frank Schirrmacher Also, ich bedaure des wahnsinnig, das Fernsehen könnte natürlich viel mehr machen. Was das Fernsehen ernst nimmt, ist ernst, selbst wenn es ne geringe Quote hat. Das heißt: würden wir nur einmal in der Woche um 20.15 Raum schaffen für ein kulturelles oder politisches Magazin, das gab es in den 60-er Jahren, Adorno war da sogar im Fernsehen und andere. Da werden die sagen, das guckt niemand. Nein! Wichtig ist, das die Botschaft kommt, das wird gesellschaftlich ernst genommen. Sprecherin: Die Botschaft aber kommt heute nicht mehr. Öffentliche Intellektuelle, die sich um einen ernsthaften politischen Orientierungsdiskurs bemühen, bleiben vorerst auf der Strecke. Angesagt sind Experten. Mit ihrer sektoralen Intelligenz sind sie alternativen Gesellschaftsentwürfen gegenüber eher abhold. Dabei stehen die Lotsen der letzten Jahre, die ökonomischen Fachleute derzeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Fragen nach dem Wohin. Take 22: Frank Schirrmacher: Die Botschaft des Jahres 2011 und das ist ganz wichtig zu verstehen, ist diametral anders, weil: die neunziger Jahre und das frühe 21. Jahrhunderts stand im Zeichen eines Wissens, so müssen wir es machen, und dann ist das die Lösung. Was wir jetzt gerade sehen ist, dass sie selbst bei den Experten keine Antwort finden, auf die Fragen, die uns betreffen. Jeder widerspricht sich, keiner hat eine endgültige Antwort. Take 23: Tilman Reitz: Die Frage, die ich dann interessant finde, ist erstmal strukturell: wie kommt das eigentlich. Dass so viele Wirtschaftsexperten so- im Nachhinein- falsche, in jedem Fall einseitige Ratschläge gegeben haben. Und da würd ich sagen, dass ist eine Sache, die eben nicht bei den Intellektuellen liegt, sondern bei den Machtkonstellationen. In den Universitäten, in den Stiftungen, bei den Institutionen, die Geld für Forschung haben. Und es ist ja kein Zufall, dass Volkswirtschaftslehre hauptsächlich mit dem neoklassischen Paradigma, d.h. einer sehr bestimmten Form von Ökonomie unterrichtet wird. In Deutschland, in Amerika, in anderen westlichen Staaten. Das heißt also, man hat eine relativ einseitige Art und Weise, wie die Expertengremien besetzt werden und man hat dann noch zusätzlich eine relativ einseitige Art und Weise, wie Institutionen ihre Vertreter zu Interviews schicken. Sprecher: Forschungseinrichtungen, Stiftungen, Banken, Regierungen. Zwischen diesen Institutionen pendeln Finanzexperten und wechseln ihre Jobs wie Manager. Die Politiker, die ihnen den Weg dorthin geebnet haben, sollten ihre eigene Entmachtung nun nicht beklagen - sie haben sie selbst ermöglicht. Intellektuelle reiben sich verwundert die Augen. Take 24: Frank Schirrmacher: Ich würde zum Beispiel sagen: Sind wir uns eigentlich so sicher, dass das Grundgesetz, als Geschenk, dass wir bekommen haben, wirklich verstanden wird. Ist es noch wirklich im Herzen, im Kern, dieser Gesellschaft - und was folgt daraus? Können wir uns damit abfinden, dass z.B. jetzt, in der jetzigen Legislaturperiode, egal, wie man jetzt zu den politischen Entscheidungen steht, Bundeswehr, Fukushima, was auch immer, alle möglichen Entscheidungen getroffen wurden, die nie zur Wahl standen? Sprecherin: Zur Wahl standen auch nicht die Milliardensummen, die Europas Staaten in marode Banken pumpen und deren selbst verursachtes Minus in Staatsschulden verwandeln. Für Staatsschulden müssen die Bürger aufkommen. Take 25:Frank Schirrmacher Es kann nicht sein, dass man den Sozialstaat jetzt, das ist ja die größte Bedrohung, die wir haben, dass man sagt: Über die Verhältnisse gelebt, wer ist schuld, der Sozialstaat. Wenn das eine Ideologie wird und ein unhinterfragtes Motiv, und dass dann gleichzeitig auch noch durchgesetzt wird über abstrakte Behörden in Brüssel, und gar nicht mehr über wählbare Politiker, sondern über Technokraten, dann, denke ich, werden wir erleben, dass ganz überraschende Leute sich zusammen tun und sagen aus ganz verschiedenen Richtungen: Das ist nicht die Gesellschaft, die wir uns vorstellen. Sprecher: Auch Ingo Schulze stellt die Frage nach dem "Was wollen wir" in den Mittelpunkt seiner öffentlichen Interventionen: Take 25: Ingo Schulze Ich erlebe unseren Alltag als unglaublich doppelbödig, das, was wir hier tun, oder wie wir uns hier verhalten, hat ja unmittellbare Folgen für die ganze Welt. Also wenn ich jetzt hier in nachwachsende Rohstoffe investiere, wie ich eben auf vielen Plakaten dazu aufgefordert werde, kann des durchaus bedeuten, dass des 10 Millionen mehr Hungernde gibt, wenn nicht sogar Leute, die verhungern werden. Und das ist eigentlich dieser fehlende Zusammenhang zwischen Kritik und diesen Alltagsmechanismen. Dass diese Kritik kaum in diese Alltagsmechanismen eingreift und in der Lage ist, dann diese Selbstverständlichkeiten zu ändern. Das ist aber durchaus ne Aufgabe, für die auch Intellektuelle da sind. Indem man wirklich die Dinge scharf nennt, differenziert. An so 'nen aufklärerischen Impetus glaub ich immer noch. Sprecherin: Ingo Schulze glaubt an den sanften Zwang des Arguments: benennen, was ist, zur Sprache bringen, was anderen die Sprache verschlägt. Mit der Waffe des Begriffs. Frank Schirrmacher, gewiss fern davon, dem zu widersprechen, räumt gleichzeitig der digitalen Vernetzung großes gesellschaftliches Veränderungspotenzial ein. Take 26:Frank Schirrmacher: Ich glaube, dass das Kollaborative, gemeinsam zu Gedanken zu kommen und aufgrund dieser Gedanken, die jetzt nicht um der Gedanken willen, sondern als Handlungsempfehlungen zu benutzen, das ist, was wir gerade beobachten. Und da wird sich eben, und das ist die Netzwelt, auch das Beste zusammengesucht und aus dem Besten was man sich zusammensucht hat, schaut man: Was funktioniert, was funktioniert nicht. Das sind Erkenntnisplattformen. Das sind Plattformen, mit denen können Sie ganz andere gesellschaftliche Fragen auch diskutieren. Wir sind noch ganz am Anfang, aber ich denke, dass aus diesen Milieus sich sozusagen die Intellektuellen der Zukunft herausbilden werden. Sprecher: Öffentliche Interventionen von Kulturschaffenden, offene Briefe, Artikel in Zeitungen und politischen Zeitschriften- jawohl, das Kursbuch ist wieder da - Theater, alternative thinktanks, die Blogosphäre. Das Spektrum der Foren für gesellschaftskritische Interventionen ist breit gefächert. Dieses "für jeden etwas" droht aber zugleich Manifeste und Appelle in Konsumartikel zu verwandeln. Take 27: Tilman Reitz Also es kommt darauf an, wie stark die Bewegungen sind, mit denen man sich verbunden fühlt und ob man soziale Kräfte hat, mit denen man sich verbunden fühlt, und ob man das Gefühl hat, dass man mit denen zusammen etwas reißen kann. Und dann natürlich, ob man überhaupt irgendeinen Leidensdruck im Hintergrund hat. Klar, warum sollte man auch sonst öffentlich die Stimme erheben, wenn man das Gefühl hat, es würde alles schon prima laufen, sondern der Grundimpuls ist, egal ob von rechts, ob von links oder konservativliberal, sozialistisch, man kritisiert. Effekt Sprecherin: Bemerkenswert bleibt die Wirkung, die der deutsch-französische ehemalige Widerstandskämpfer Stephane Hessels mit seinen beiden Schriften: "Empört Euch" und "Engagiert Euch" ausgelöst hat. Darf man daraus schließen, dass weiterhin eine Sehnsucht besteht nach unbestechlichen Persönlichkeiten. Die ihr Leben dem riskanten Denken und dem Einklagen von Menschenrechten widmen? Eine Sehnsucht nach Vordenkern und Vordenkerinnen? Sprecher vom Dienst Einspruch! Intellektuelle als politische Vordenker? Eine Sendung von Eva Hillebrand Es sprachen: Viola Sauer und Markus Hoffmann Ton: Bernd Friebel Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 1