COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 24. August 2009, 19.30 Uhr Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung... oder: Können die Freien Wähler mehr als Kommunalpolitik? Von Anja Schrum und Ernst Ludwig von Aster Take (Piazolo) Es ist im Moment auch die Strategie der Freien Wähler zu Landtagswahlen anzutreten, wo es Sinn macht. Wir sehen ja in allen Bundesländern - leider möchte ich sagen - eine Unzufriedenheit mit der Politik und den Parteien. Politik- und noch mehr Parteienverdrossenheit. Die Leute sind auf der Suche auch nach neuen Gruppierungen, die es vielleicht besser machen können. Take (Eisenbrand) Schon Landtag ist für mich schon ein bisschen grenzwertig als Freier Wähler. Bundestag habe ich ein schweres Problem. Weil ich denke, dass sich mit den Freien Wählern eher das Kleingliedrige, das Kommunale stärker verbindet. Sprecher vom Dienst Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung... oder: Können die Freien Wähler mehr als Kommunalpolitik? Von Anja Schrum und Ernst Ludwig von Aster Take 1 (Kamm) Da oben haben wir ein Industriegebiet, ein großes. Das ist jetzt die Einfahrt zum Knäules-Hof, unser neuestes und jüngstes Baugebiet... Sprecherin Albert Kamm lenkt seinen Geländewagen durch einen Kreisverkehr, vorbei an einem Baugebiet mit neuen Einfamilienhäusern. Take 2 (Kamm) (Atmo) Sie haben hier weite Strecken zum nächsten Ort, das sind zwischen 0,8 und 2,8 Kilometer zwischen den Ortschaften... Sprecherin Dörfer, die Aichschieß heißen oder Aichelberg, am Rande von Stuttgart liegen und Mitte der 70er Jahre zur Gemeinde Aichwald zusammengelegt wurden. Albert Kamm nimmt den Fuß vom Gaspedal. Take 3 (Atmo) Hier ist unser Kreisel entstanden, das waren hier mal vier Fahrspuren. Das war eine Formel 1-Strecke in den Ort hinein und jetzt haben wir es runtergebracht. (abblenden) Sprecherin "Wir" - damit meint Albert Kamm den Gemeinderat von Aichwald. In dem auch er sitzt. Als Fraktions-Vorsitzender der Freien Wähler. Über fünf Sitze verfügen sie, sind zweitstärkste Fraktion nach der CDU. Der 60jährige parkt seinen Wagen. Geht auf ein Einfamilienhaus zu. Die Zentrale seiner Firma. "Frei", sagt der gelernte Kfz-Mechaniker zieht sich durch mein ganzes Leben. Take 4 Hab mich dann später selbstständig gemacht mit einem freien, markenunabhängigen Autohaus. Ich betreue heute auch beruflich den freien europäischen Autoreparatur- Markt, also, daran sieht man, dass auch mein politisches Engagement im freien Bereich auch der richtige Weg war. Sprecherin Seit 15 Jahren sitzt Albert Kamm im Gemeinderat von Aichwald. Seit zehn Jahren ist er zweiter stellvertretender Bürgermeister. Take 5 Dass ich irgendwann mal CDU-Anhänger war und sogar Franz Josef als Aufkleber hatte, hinter meiner Tür im Besprechungszimmer, das gebe ich unumwunden zu und ich fand ihn auch super. Sprecherin Aber aktiv war er in keiner Partei. Sein politisches Engagement begann bei den Freien Wählern. Die sind in Baden-Württemberg schon seit Jahrzehnten eine kommunalpolitische Macht. Sie stellen 44 Prozent aller Gemeinderatsmitglieder. Take 6 Ich bin erst mit 45 Jahren auch angesprochen worden. Ich wurde vorher nicht angesprochen. Es ist so, dass sie erst auch angesprochen werden in einem Ort, so mit 8.000 Einwohnern, wenn sie irgendwo mal auffallen. Sprecherin Als Unternehmer wie Kamm zum Beispiel. Für die Freien Wähler sitzen im Aichwalder Gemeinderat neben dem Kfz-Meister: ein Maschinenbautechniker, ein selbständiger Zimmer- und ein Maurermeister sowie eine selbständige Floristin. Take 7 Wenn sie eben in einer Partei sind als Unternehmer, sprich: als Dienstleister vor Ort, dann haben sie ein echtes Problem in eine Schublade gesteckt zu werden und müssen eben damit leben, dass wenn sie eben in der CDU sind, eben weniger SPD- oder Grünen-Kunden zu ihnen kommen oder umgekehrt genauso. abblenden Sprecherin Ein Freier Wähler kann mit allen Geschäfte machen, muss nicht für die Sünden einer Partei einstehen. Und gibt sich nach allen Seiten offen. Anders als bei den etablierten Parteien gibt es bei den Freien Wählern keinen Fraktionszwang. Take 8 Wenn ich das bei der CDU - um nur ein Beispiel zu nennen - sehe, da gehen immer sieben Hände hoch und das ist meiner Meinung nach eben schwierig. Und da würde ich mich nicht wohlfühlen, da würde ich ja immer ausbrechen, indem ich eine andere Meinung habe und die eben auch öffentlich kundtue. Sprecherin Die eigene Meinung kund zu tun - genau dazu ermutige er seine Fraktionskollegen, sagt Albert Kamm. So wie jüngst, bei der Abstimmung über die Ortskern-Sanierung. Take 9 Und da haben wir auch keine Einigung gehabt, die einen wollten Busbuchten, die anderen wollten es nicht. Ich finde, das ist doch Demokratie, das Spannende an der ganzen Geschichte. Meine Leute müssen doch nicht alle die Hand strecken, bloß weil ich sag: Und wir sind jetzt alle dagegen und dafür. Das macht auch gar keinen Spaß. Sprecherin Abstimmung nach Sachlage und nicht nach Partei-Buch, das ist Albert Kamm wichtig. Zum Beispiel als es um die Ausweisung des Neubaugebiets Knäules Hof ging. Take 10 Unser Knäules Hof ist ja entstanden, um Aichschieß nicht ausbluten zu lassen in punkto Schule. Die Schule wäre heute zu. Das war ja auch der Grund, warum wir, das war ein Antrag der CDU-Kollegen, wir haben also diesem Antrag vorbehaltlos zugestimmt. Weil das ist so, es ist Fakt. Und deswegen kann man so einem Antrag auch zustimmen, auch wenn man einer anderen Gruppierung angehört. Da muss man immer das Gemeinwohl sehen. Sprecherin Parteipolitische Kriterien sind bei kommunalpolitischen Entscheidungen nicht hilfreich, sind die freien Wähler überzeugt. Und so zitieren sie gern und oft den deutschen Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg, der einst formulierte: "Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung und keine sozialistischen Bedürfnisanstalten." Atmo 1 Schublade wühlen Sprecherin In Halle an der Saale wühlt Everhard Holtmann kurz in der Schublade, dann zieht der Politologie-Professor ein graues Faltblatt hervor: "Sonderforschungsbereich 580" steht auf der Titelseite. Take 11 Wir sind Teil eines Sonderforschungsbereiches der Deutschen Forschungsgemeinschaft, SFB 580. Und wir beschäftigen uns in insgesamt 17 Teilprojekten mit gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Systemumbruch in Ost- und Westdeutschland. Sprecherin Everhard Holtmann schiebt einige Unterlagen auf seinem Schreitisch beiseite, setzt sich. Der "gesellschaftlicher Wandel" ist seit Jahren das Thema des Wissenschaftlers an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. "Diskontinuität der System- und Strukturbildung" heißt das im Politologen-Deutsch. Holtmann interessiert sich dabei besonders für die parteifreien kommunalen Wählergemeinschaften. Take 12 Das ist gewissermaßen eine Art Chamäleon im deutschen Parteiensystem auf der lokalen Ebene. Auf der einen Seite, und das versuchen sie ja auch als ihr Alleinstellungsmerkmal zu kultivieren, sprechen parteifreie Gruppierungen, freie Wählergemeinschaften besonders konkrete lokale Probleme an. Sie setzen sich auch in einen mehr oder weniger offensiven streitbaren Gegensatz zu politischen Parteien. Auch auf der örtlichen Ebene. Und das Hauptargument ist hier, dass Parteien auch auf der lokalen Ebene doch in gewisser Weise ideologieverdächtig seien und das es auf der lokalen Ebene eben vor allem darauf ankomme, so genannte Sachpolitik zu machen. Sprecherin Politik ja, Partei nein - das ist der kleinste gemeinsame Nenner der Wählervereinigungen. Seit den 60er Jahren schon machen sie im Süden der Republik Lokalpolitik. Seit der Wende regieren parteiunabhängige Gruppierungen auch verstärkt in ostdeutschen Kommunen mit. Take 13 Auch gerade die jüngsten Kommunalwahlen in Thüringen, in Sachsen-Anhalt und in anderen Ländern in Ost wie in West haben eine Tendenz bestärkt, die sich in der Vergangenheit schon abzeichnete: dass die Parteifreien wirklich keineswegs nur ihre Domäne in den Klein- und Kleinstgemeinden haben, sondern das zunehmend auch parteifreie Gruppierungen in großen und größeren Städten stark werden und in die Gemeinderäte einrücken. Die Politikwissenschaftler bezeichnen dies als Fragmentierung, also als Zerklüftung des lokalen Parteiensystems. Sprecherin Wer aber macht da welche Politik abseits der Parteienlandschaft? Und warum? Holtmann und seine Kollegen befragten knapp 3.000 parteifreie Mandatsträger, konnten so ganz unterschiedliche Typen von Wählervereinigungen beschreiben. Take 14 Da gibt es zum einen die Ein-Punkt-Bewegungen. Das heißt, es taucht vor Ort beispielsweise ein streitiges Projekt auf, ein Kernkraftwerk oder irgendetwas Ähnliches oder auch eine Umgehungsstraße. Und das ist Anlass, dass sich dann Parteifreie formieren, häufig auch aus einer Bürgerinitiative heraus und dann bei den nächsten Kommunalwahlen antreten. Sprecherin So wie zum Beispiel in Flensburg. Dort bekam die Gruppe "Wir in Flensburg" bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr mit 22,3 Prozent die meisten Wählerstimmen. Die Vereinigung hatte sich erst ein Jahr zuvor gegründet, um gegen einen Hotelneubau mobil zu machen. Bürger-Protest, der zur Polit-Bewegung wird. Das ist eine Spielart der parteifreien Wählervereinigungen. Andere Gruppen entstehen im kommunalpolitischen Vakuum. Take 15 Dann gibt es, wir nennen das die "Feuerwehrlisten", gerade da, wo es keine Parteiorganisationen gibt und wo manchmal auch aus der Not heraus, dass keine Repräsentationslücke entsteht, dann die Feuerwehr, die es ja Gott sei Dank auch in kleinen Gemeinden gibt, beschließt, ja gut, wir müssen in den Gemeinderat eintreten. Sprecherin Für alle parteifreien Vereinigungen aber gilt: der durchschnittliche kommunalpolitische Freigeist ist männlich, zwischen 46 und 55 Jahre alt, bürgerlich- konservativ. Der Anteil der Selbständigen liegt überdurchschnittlich hoch. Take 16 Dann gibt es zum Dritten, das was wir als Tarnlisten bezeichnen, denn auch die Parteien haben ja längst den Charme von parteifreien Gruppierungen entdeckt und hier und dort gründen dann auch Parteimitglieder Listen, die dann nach außen hin parteifrei sind und dann durchaus auch Mitglieder ganz unterschiedlicher Parteien zusammenbinden können. Wir sagen, das sind gewissermaßen Parteilisten im Tarngewand. Es gibt sicherlich auch jene, die im Streit von etablierten Parteien scheiden und dann ihre eigene Liste aufmachen. Sprecherin Auch rechtsextreme Politiker versuchen gelegentlich mit Tarnlisten unter unverfänglich klingenden Bezeichnungen in die Kommunalparlamente zu kommen. So gingen in Erfurt unter dem Namen "Pro Erfurt" ehemalige NPD-Mitglieder auf Stimmenfang. In München konkurrierte bei den Kommunalwahlen eine "Bürgerinitiative Ausländerstopp" mit der Gruppe "Pro München" - hinter beiden verbargen sich rechtsextreme Politiker. In Lübeck kam bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr die Gruppe "Bürger für Lübeck" aus dem Stand auf 13,9 Prozent. Und konnte sieben Mitglieder in die Bürgerschaft schicken. "Bürger für Lübeck" wurde gegründet von ehemaligen CDU- Mitgliedern und will - Zitat- "jenseits von Parteiideologien dem gesunden Menschenverstand wieder mehr Geltung verschaffen". Take 17 Es gibt den Fall, das - wenn parteifreie Bürgermeister gewählt werden - diese sich dann auch gewissermaßen aus dem Amt heraus, ihre eigene Unterstützerliste formieren. Sprecherin Feuerwehrlisten, frustrierte Parteipolitiker, Protest-Bewegte - alle sind sich einig, das sie keine Partei sein wollen. Und trotzdem mitregieren. Eine kommunalpolitische Bürgerbewegung. Allein die Freien Wähler, die größte Gruppierung der Parteiunabhängigen, bringt es nach eigenen Schätzungen bundesweit auf 280.000 Mitglieder. Atmo 2 (Fenster öffnen) ... Im Moment sieht man, wenn man aus meinem Fenster rausschaut eine Riesenbaustelle, Sprecherin Rüdiger Eisenbrand lehnt sich aus dem Rathausfenster, blickt auf den Marktplatz. Oder vielmehr auf das, was von ihm übrig ist. Das Pflaster ist aufgerissen, Bagger hieven Erdreich zur Seite, Kanalisation wird verlegt, Take 18 Ich denke, das ist die Jahresbaustelle 2009 in Apolda, der Marktplatz wird umgestaltet, das war eines meiner schwierigsten Projekte. Sprecherin Nicht zuletzt wegen der Linden. Die zierten den alten Marktplatz der 24.000- Einwohner-Stadt in Thüringen. Bis sie den Bauarbeiten weichen mussten. Take 19 Dort kam es natürlich zu starken Demonstrationen, dass die Bäume erhalten bleiben mussten. Wir haben dann ein Baumgutachten dazu gemacht, auch das haben die Bürger nicht geglaubt. Sprecherin Der 53-Jährige blickt betroffen durch die eckige Brille. Fast ein wenig beleidigt, Schließlich ist er doch angetreten dem Bürgerwillen wieder mehr Geltung im Rathaus zu verschaffen. Take 20 "Bürgermeister für diese Stadt", das war mein Slogan, das war dann schon mit Freie Wähler Logo. Sprecherin 2006 war das. Rüdiger Eisenbrands kommunaler Durchmarsch. Er holte 71 Prozent bei der Direktwahl des Bürgermeisters. Der kam hier eigentlich immer von der CDU, regierte im Stadtrat mit einer satten Mehrheit. Dann kam Eisenbrand: Berufsschullehrer, parteilos, Ortsbürgermeister im Stadtteil Oberndorf, Mitglied im Heimatverein, Feuerwehrverein, in der Kirmesgesellschaft, Ehrenmitglied bei den Büchsenschützen. Take 21 Meine Grundeinstellung besteht ja darin: Auf Kommunalebene bis hin zum Kreis sollte eigentlich die Partei gar keine Rolle spiele. Aber das erzählen sie mal jemanden, der in der Partei ist, der nimmt ihnen das nicht ab. Und ich sage immer, man muss sich seine Mehrheiten suchen Also ich spreche mit allen. Ich spreche mit links, mit der FDP, ich spreche mit der SPD und ich spreche auch mit der CDU, die ja bei uns bis jetzt fast die absolute Mehrheit hatte mit 14 von 30 Sitzen. Sprecherin Die Freien Wähler brachten es im Stadtrat bei seinem Amtsantritt gerade mal auf zwei Sitze. Regieren ohne Parteibuch - und ohne Hausmacht. Das ist seitdem Eisenbrands Alltagsgeschäft. Take 22 Ich hatte eigentlich immer den Eindruck, wenn ich dann eine Vorlage hatte, die von mehrere getragen wurde, sie musste ja auch von Parteien mitgetragen werden, damit sie im Stadtrat überhaupt Mehrheiten gefunden haben, dann war ich mir fast sicher, das es eine gute Vorlage war. Und wenn ich das eben nicht geschafft habe, dann muss man sagen, dann musste nachbessern, dann musste nachlegen, dann musste neue Argumente suchen, um das zu machen oder musst deine Vorlage verändern. Sprecherin Kommunalpolitik - das ist Eisenbrands politisches Alltagsgeschäft. Seit einiger Zeit aber muss er auch eine Politik-Ebene höher Flagge zeigen. Er wurde zum Mitglied im Landesvorstand der Freien Wähler gewählt. Der nun Thüringen-weit Politik machen will und zur Landtagswahl antritt: Take 23 Ich habe manchmal den Eindruck, dass der Wähler den Freien Wählern auf Landesebene nicht soviel zutraut, auf kommunaler Ebene ja, weil man sagt, da gehören sie hin, das ist für mich wie gesagt eine Gratwanderung, in der ich mich gerade selbst befinde. Sprecherin Eisenbrand zweifelt. Und man merkt es ihm an. Vom Kommunalparlament Richtung Landtag, das ist ein Weg voller Widersprüche. Darf man zu thüringischen Landtagswahlen doch nur als Partei antreten. Take 24 Die Freien Wähler mussten also die Anerkennung erringen, damit sie überhaupt antreten können für die Landtagswahl. Und dort bin ich als Delegierter und bin ich auch im Vorstand, ich will deshalb auch die Zulassung meiner Frien Wähler nicht gefährden, das ich jetzt sage: Ich bin kein Parteimitglied, da lavier ich jetzt einfach mal so drum herum, das verstehen Se vielleicht (lacht) Sprecherin Denn eigentlich werben die Freien Wähler vor allem mit einem: Dass sie keine Partei sind. Take 25 Ich glaube nicht, dass es geht, ein bisschen Partei zu sein. Man ist es oder man ist es nicht. Sprecherin Sagt Dr. Bernhard Weßels. Sozialwissenschaftler und Parteienforscher am Berliner Wissenschaftszentrum. Take 26 Die Freien Wähler sind natürlich insbesondere durch die Landtagswahl in Bayern sozusagen aufgetaucht, sie waren vorher nicht so richtig vollständig in meiner Neugierde. Sprecherin 10,2 Prozent holten die Freien Wähler bei der Bayerischen Landtagswahl im September 2008. Ein überraschender Erfolg. Die Parteiwerdung einer Bewegung - das hat Bernhard Weßels schon einmal verfolgt: Take 27 Das waren soziale Bewegungen bevor die Grünen kamen, die mich sehr interessiert haben, wo ich gedacht habe, das könnte was werden, wo alle Wahlsystemforscher gesagt haben,unser System wird das nie zulassen, dass die das schaffen. Sprecherin Die dauerhafte Verankerung im politischen System der Bundesrepublik. Zwar kommen die Freien Wähler genauso von der Basis, wie seinerzeit die Bürgerinitiativen und Anti-AKW-Bewegungen, die schließlich zur Gründung der Grünen führten. Ob es den Freien Wähler aber gelingen wird, ähnlich frischen Wind in das parlamentarische System zu bringen - Weßels wiegt den Kopf. Zwischen den Grünen und den Freien Wählern gibt es einen fundamentalen Unterschied, sagt er: Take 28 Weil die Grünen von vorneherein so etwas wie ein klares politisches Portfolio hatten. Es war klar, welche Themen im Vordergrund stehen, also Umweltschutz, mehr Partizipation, mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, das waren ja die Kristallisationskerne der neuen sozialen Bewegung. Das macht es anders als bei den Freien Wählern, die von ihrer ganzen Interessenstruktur sehr viel heterogener sind, sich nicht auf einzelne Themen beschränken, sondern ihren Ort und ihren Erfolg in der Kommunalpolitik haben, die ja quasi viel machen muss und viel abarbeiten muss, wo es um konkrete Projekte geht und nicht die ideologische Landkarte sozusagen den Weg bestimmt, sondern die Problemlösung vor Ort. Sprecherin Natürlich könnten sich auch die Freien Wähler eine Art programmatische Leitschnur zulegen, sagt Weßels. Nur dürfte das eher ein grober Strick werden, angesichts der Heterogenität der Bewegung: Take 29 Was sie machen könnten im Prinzip, ist, dass sie ein Programm über die Grammatik der Politik, also wie man Politik macht, darauf könnten sie sich wahrscheinlich verständigen. Da würde so etwas herauskommen wie "möglichst nah am Bürger", "möglichst stark von unten" und Ähnliches, darauf kann man sich wahrscheinlich relativ schnell einigen, die Prinzipien, nach denen Politik gemacht wird Das könnte auch etwas sein, was für die Bürger attraktiv ist. Sprecherin Mehr Bürgerbeteiligung - darauf können sich wohl alle Freien Wähler verständigen. Als programmatischer Überbau wird das allerdings nicht ausreichen, glaubt Weßels: Take 30 In dem Moment, wo es um Sachpolitik geht, die also in der Aggregationsstufe sozusagen höher liegt als eine konkrete Entscheidung für Kindergarten, Park, Parkbank oder sonst was, da wird das dann sehr schwierig, weil dann muss man sich doch darauf verständigen, das es so etwas wie eine gemeinsame Zielorientierung auf mittlere Frist gibt, das heißt, es muss ein Parteiprogramm geben, bei dem es - ich will nicht sagen - unbedingt eine ideologische, aber eine gemeinsame Vorstellung davon, was ist denn gut für die Gesellschaft, das muss da sein. Und das ist - glaube ich - in der Heterogenität wie sie aufgestellt sind, nicht einfach zu leisten. Sprecherin Hinzu kommt: In dem Augenblick wo man sich programmatisch und organisatorisch festlegt, entfernen sich die Freien Wähler von ihrem Prinzip der Nicht-Partei. Gibt es erstmal ein Programm, wird dieses zur Richtschnur. Take 31 Sie müssen sich entlang dieses Programms politisch bewegen. Wenn sie jetzt aber zu der Vorstellung kommen, was auf der lokalen Ebene ja durchaus denkbar ist, es ist aber viel sinnvoller, jetzt doch mal vielleicht mit der CSU ne bestimmte Problemlösung, ne bestimmte Entscheidung zu treffen, und die Parteilinie sagt aber: Ne, Ne, dann ist das klar etwas, was mit dem Prinzip, Nicht-Partei zu sein, bricht. Sprecherin Das Dilemma der Freien Wähler auf Landes- und Bundesebene: Jedes Programm macht sie mehr zur Partei. Das Fehlen eines Programms aber entfernt sie weiter vom Wähler. Take 32 Hohe Heterogenität, kein echtes Programm, keine echten Organisationsstrukturen, also Nicht-Partei zu sein, dann wissen die Wählerinnen und Wähler ja auch nicht unbedingt, wofür sie da eigentlich ein Mandat geben. Das ist ein Problem. Atmo 3 Zwei Busse, bayerische Stimmen vor dem Bayerischen Landtag Sprecherin Besuchergruppen verlassen das Maximilianeum in München - Haidhausen. Seit genau 60 Jahren beherbergt der Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert den Bayerischen Landtag. Während die CSU-Fraktion im Nordflügel residiert, haben die Oppositionsparteien den Südflügel bezogen. Im vierten Stock liegen - seit dem Landtags-Einzug im vergangenen Jahr - auch die Büros der Freien Wähler. Im Zimmer S442 arbeitet der Landtagsabgeordnete Professor Michael Piazolo. Teilt sich den kleinen Raum mit einem Mitarbeiter: Take 33 Wir sind eben auch im Landtag hier bescheiden...Lachen... Sprecherin Mit 10,2 Prozent gehörten die Freien Wähler zu den Gewinnern der Landtagswahl 2008. Ein überraschender Erfolg, der aber nur zum Teil auf das Konto der Freien Wähler geht, weiß der Politologe Piazolo: Take 34 Dazu gekommen ist sicherlich eine Schwäche der CSU in den letzten Jahren, die sogenannte Arroganz der Macht, die haben die Bürger deutlich zu spüren bekommen und ich glaube, aus diesen beiden Komponenten setzt sich der Wahlerfolg zusammen. Sprecherin Hinzu kam der sogenannte "Pauli-Faktor". Stoiber-Kritikerin und Ex-CSU-Mitglied Gabriele Pauli trat als Spitzenkandidatin an. Sorgte Bayern-weit für Glamour. Take 35 Dazu kommt natürlich, dass Frau Pauli ihren eigenen Stil hat, auch bekannt war. Und gerade auch in den Großstädten - ich möchte sagen - ein belebendes Element war. Sprecherin Mittlerweile allerdings hat Gabriele Pauli ihre eigene Partei gegründet. Dass Michael Piazolo bei den Freien Wählern landete, nennt er rückblickend "einen Zufall". Die Münchener Freien hatten den Politikwissenschaftler zu einem Vortrag über Demokratie-Theorie eingeladen. Take 36 Was mir bei den Freien Wählern gefallen hat, warum ich dann auch zu ihnen gegangen bin, ist zum einen die offene Diskussionskultur, dass man sich eben Fragen offen nähert. Zum Zweiten, dass man bewusst keine Partei ist, auch nicht die Hierarchien hat, wo von oben alles vorgegeben wird und zum Dritten sicherlich auch das Neue, Frischere, wo man das eine oder andere noch ausprobieren kann, was sich in Parteien schon längst eingeschleift hat. Sprecherin Wir diskutieren Themen sehr lange, sagt Piazolo. Und nennt als Beispiel die Lockerung des strengen bayerischen Nichtraucher-Schutzgesetzes. Mitte Juli stand die Novellierung im Landtag zur Abstimmung. Die Freien Wähler verzichteten auf Fraktionsdisziplin. Zwar legte sie einen eigenen Gesetzesentwurf vor, der eine - wie im Wahlkampf gefordert - weitgehende Lockerung vorsah. Aber nur ein Teil der Fraktion stimmte für den eigenen Gesetzesentwurf. Einige votierten mit den Grünen, ein anderer unterstützte den Vorschlag der CSU-FDP-Koalition. Take 37 Ich glaube schon, dass wir in der Fraktion mehr diskutieren als es in anderen, besonders auch in den großen Parteien üblich ist. Wenn sie eine CSU-Fraktion mit 90 Abgeordneten haben, dann geht es auch organisatorisch nicht, dass sie jede Frage offen diskutieren. Da sind viele Positionen auch festgezurrt, werden von oben vorgegeben, also gerade in Bezug auf die CSU arbeiten wir anders. Sprecherin "Intensiv diskutieren", "offen diskutieren" - Worte, die der Abgeordnete immer wieder gebraucht. Der Diskussionsbedarf wird in Zukunft weiter zunehmen: Muss sich die Landtagsfraktion doch in viele, zum Teil völlig neue Themen einarbeiten. Themen, mit denen man auf kommunaler Ebene nicht befasst war. Mindestens so häufig wie die Wendung "offen diskutieren" gebraucht Michael Piazolo das Schlagwort "Bürger-Beteiligung". Und meint mehr Volkswille, weniger Einfluss der Parteien. Take 38 Es ist auch nicht so, dass wir den Parteienstaat an sich verteufeln und eine Anti- Partei wären, das nicht. Wir lehnen es ja auch nicht ab, dass es Parteien gibt, sondern wir wenden uns in der Struktur und auch in der politischen Richtung gegen die Bedeutung, die inzwischen Parteien erlangt haben und die Art und Weise, wie dort Politik gemacht wird und da gibt es schon Unterschiede bei den Freien Wählern. Sprecherin Dabei könnte es durchaus sein, dass die Freien Wähler selbst Partei werden müssen. Zumindest wenn sie zur Bundestagswahl antreten wollen. Ob das 2013 geschehen wird oder nicht, da will sich der Politikwissenschaftler Piazolo heute lieber noch nicht festlegen. Es besteht noch Diskussions-Bedarf. Folgte doch auf den Sieg bei den bayerischen Landtagswahlen eine herbe Schlappe bei der Europawahl. Atmo 4 (Wahlspot) "Frischer Wind für Europa. Kraft, Leidenschaft, Freude - dafür steht Dr. Gabriele Pauli. Europa ist überall. Mehr Mitspracherecht für Jeden" Sprecherin Ein Werbespot der Freien Wähler zur Europawahl Anfang Juni. Take 39 Wenn man dieses Fenster als parteifreie Gruppierung aufmacht, dann weht einem sofort der raue Wind des Parteienwettbewerbs um die Ohren. Und dann fragen sich sicher viele Bürgerinnen und Bürger auch: was denn der besondere Charme dieser parteifreien Partei sein soll. Sprecherin: Sagt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann. Atmo 5 (Wahlspot) Pauli: "Brüssel und Strassburg sind weit weg, die Bürger und Politiker vor Ort sollten mehr in die Entscheidungen mit einbezogen werden. .... frischer Wind für mehr Demokratie in Europa. Europa braucht Freie Wähler. abblenden [Ihre Stimme für Dr. Gabriele Pauli "] Sprecherin Das sahen allerdings nur 1,7 Prozent der Bundesbürger so. Für die Freien Wähler ein ernüchterndes Ergebnis. Bundespolitische Ambitionen für 2009 wurden dann auch vorerst zurückgestellt. Auch die Teilnahme an Landtagswahlen ist weiterhin umstritten. Baden-Württemberg und Sachsen - erklärte Gegner jeglichen Engagements jenseits der Kommunalebene - haben den Bundesverband der Freien Wähler verlassen. Take 40 Die Partei-Freien werden sich, das ist - glaube ich - keine Frage, auf der lokalen Ebene weiterhin stabil halten. Sie werden meines Erachtens eher Probleme haben sich auf der regionalen Ebene zu etablieren. Bayern halte ich für einen nicht verallgemeinerbaren Fall. Sprecherin Oberhalb der kommunalen Ebene wird die Luft dünn für die Freien Wähler, glaubt Holtmann. Eine riskante Gratwanderung, die durchaus Konsequenzen für die Lokalpolitik haben könnte: Take 41 Denn ein Teil dieser besonderen Identität speist sich ja auch daraus, dass sie sich als eine Art lokale Alternative zu den Parteien verstehen. Und da gerät dann gewissermaßen die eigene Identität, das eigene Erscheinungsbild mit sich in Widerspruch. Sprecherin Die Anti-Parteien-Slogans, die Betonung von Sach- nicht Zweckbündnissen, die viel beschworene Bürgernähe - inwiefern diese Selbstdarstellung der Freien Wähler überhaupt der Realität entspricht, das würde Everhard Holtmann allzu gerne untersuchen. Arbeiten doch auf kommunaler Ebene in der Regel auch Parteipolitiker sachorientiert, Zweckbündnisse - etwa zwischen den Linken und der CDU - sind keine Ausnahme. Take 42 Welche Auswirkungen die stärkere Zerklüftung der gewählten Ratsvertretungen auf die Leistungsfähigkeit der Gemeindevertretungen hat - dazu wissen wir bislang wenig. Die Frage beispielsweise, ist die Arbeit, die in den Gemeinderäten geleistet wird, verändert sich die, werden die vielleicht schwerfälliger, werden die träger, kommt es hier nur zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners? Zu einer Unbeweglichkeit, zu einer Innovationsfeindlichkeit? Sprecherin Klein-Klein statt Kommunalpolitik? Partikular-Interessen statt Programmatik? Take 43 Die andere Seite könnte natürlich auch sein: Kommt es stattdessen zu einer stärkeren Einbeziehung aller möglichen partikularen Interessen einer Gemeinde, die vorher vielleicht vor dem Rathaus-Tor bleiben mussten. All dieses wissen wir nicht: das ist aber für den Charakter und auch für die Akzeptanz der kommunalen Politik von eminenter Wichtigkeit. Und da gibt es noch die eine oder andere lohnende Forschungsfrage, mit der wir uns durchaus beschäftigen wollen Sprecherin Etwa mit der Frage, ob Freie Wähler die Kommunalpolitik voranbringen. Weiter als Parteipolitiker, zum Beispiel. Sprecher vom Dienst Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung... Oder: Können die Freien Wähler mehr als Kommunalpolitik? Von Anja Schrum und Ernst Ludwig von Aster Es sprach: Nadja Schulz-Berlinghoff Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2009 8