KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : 62110 Titel der Sendung : Das Zittern der Welt. Der Erste Weltkrieg und der politische Thriller Autor : Günther Wessel Redakteur : Kolja Mensing (-5521) Sendetermin : 12. November 2013 Besetzung : Jana Horstmann, Regina Lemnitz, Udo Schenk Regie : Roman Neumann Ton : Bernd Friebel Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. 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Sprecher 1: London 1903: Erskine Childers, 33 Jahre alt, Beamter im House of Commons veröffentlicht mit „The ridles of the sand“, „Das Rätsel der Sandbank“ seinen ersten Roman – seinen einzigen. Das Buch hat es in sich: Mit ihm zieht der Schrecken der Zeitgeschichte in die Literatur ein. Erskine Childers begründet mit seinem Debüt ein neues Genre. O-Ton 2: (Wörtche) Politthriller erfordert eine bestimmte Art von Leser. Politthriller fordert mehr als durchschnittlicher Kriminalroman oder ein Krimi einen kompetenten Leser. Man braucht Leute, die Zeitung lesen zumindest, die wissen was los ist ungefähr, die nicht alles glauben, was in der Bild-Zeitung steht, und auch nicht alles, was in der Tagesschau kommt. Sprecher 1: „Das Rätsel der Sandbank“ erscheint am Vorabend des Ersten Weltkriegs – und zu Beginn eines langen Jahrhunderts, dessen Krisen ihren Niederschlag auch in der Literatur finden: Ohne Erskine Childers und seine Helden Carruthers und Davies: Gäbe es den Superhelden James Bond? Gäbe es George Smiley vom britischen MI 6? Würde ein gewisser Karl Müller für den Bundesnachrichtendienst spionieren? Gäbe es all die Helden, die uns mal ruhiger, mal unruhiger schlafen lassen? Was ist damals passiert? MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Sprecher 2: Carruthers, ein junger Diplomat, unternimmt im Spätsommer 1902 mit seinem Freund Davies einen Segeltörn entlang der deutschen Küsten. Die beiden Männer treffen sich in Flensburg, segeln auf der „Dulcibella“ durch den heutigen Nord-Ostsee-Kanal in die Nordsee und dann durch die ostfriesische Inselwelt. Der Kurs, den Davies einschlägt, beunruhigt Carruthers. Endlich begreift er, worum es hier wirklich geht: Zitator: „Gütiger Himmel!“ Davies lehnte sich zurück und lachte fröhlich, „sehe ich etwa aus wie ein Spion?“ Ich stellte mir einen dieser romantischen Männer vor, von denen man in Groschenromanen liest, eine Kodak in der Krawattennadel, ein Zeichenblock im Anzugfutter und Maskenutensilien am Handgepäck. So wenig ich zu Fröhlichkeit aufgelegt war, ich konnte nicht anders als ebenfalls lächeln. Sprecher 1: London, Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Angst geht um. Die Angst vor dem Ausland. Das Empire wackelt. Weltweit sind britische Interessen bedroht. In Zentralasien macht Russland die Vorherrschaft streitig, Auch in Europa wachsen Konkurrenten heran. Mit dem Flottenaufbauprogramm versucht Deutschland in den Kreis der Weltmächte aufzusteigen: Die Welt beginnt zu zittern. Die nervöse Stimmung spiegelt sich auch in der Literatur wider. Der Spionageroman, so Thomas Wörtche, Literaturkritiker und Krimi-Spezialist, … O-Ton 4: (Wörtche) … entsteht in England wahrscheinlich, weil England erstmal eine Erzähltradition dafür hat, nämlich aus dem Abenteuerroman, aber auch aus dem thematischen Roman (…) wenn wir anfangen bei Kipling, wo es um das große Spiel geht, um Afghanistan, um die russischen Interessen gegen die britischen Interessen, gegen die berühmte Bedrohung der Handelswege nach Indien. Da entwickelt sich sozusagen thematisches Bewusstsein, und es gibt (…) in England (…) eine Erzähltradition und eine thematische Koinzidenz. MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Zitat: „Ihr seid Narren“, sagte er. Ihr seid verfluchte lästige junge Idioten. Ich dachte, ich wäre mit Ihnen fertig. Versprechen mir Immunität? Geben mir Zeit bis fünf? Bei Gott, ich gebe Ihnen fünf Minuten, nach England zu verschwinden und mich zu verwünschen oder als Spione eingesperrt zu werden. Zum Teufel, wofür halten Sie mich eigentlich?“ Sprecher 1: Wie war es damals wirklich? O-Ton 5: Weder die englische Politik noch die Admiralität haben ernsthafte Befürchtungen wegen den Deutschen gehabt (...) Sprecher 1: (Seyfried) Gerhard Seyfried, Comiczeichner und Autor. Sein letzter Roman heißt „Verdammte Deutsche“, ein historischer Thriller Er spielt zwischen 1911 und 1914, überwiegend in London. Das Thema: Die an Hysterie grenzende Angst vor deutschen Spionen. O-Ton 6: (Seyfried) Aber es war eine Deutschenangst da, die in der Presse geschürt worden ist. Sprecher 1: Verantwortlich für die Hysterie ist vor allem die Tageszeitung „Daily Mail“. In dem Boulevardblatt veröffentlicht der Schriftsteller William Tufnell Le Queux in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seine Fortsetzungsromane – und schürt darin fantasievoll die Angst vor kaiserlichen Einmarschplänen. Sprecher 1: Schriftsteller, Medien und Politik treiben sich gegenseitig an – in einer Spirale der Angst, die kein Ende findet. Zitat: Ein toller Plan tanzte vor mir. Die Uhrzeit, ich musste die Uhrzeit wissen! Ich duckte mich, zündete ein Streichholz an und verdeckte die Flamme mit meiner Jacke – halb drei; die Tide lief jetzt seit etwa dreieinhalb Stunden ab. Niedrigwasser bis etwa um fünf; sie würden bis halb acht auf Grund sitzen. Lebensgefahr? Keine. Sprecher 1: Childers Roman ist ein Bestseller, und Le Queux‘ ist noch erfolgreicher – sein erfolgreichster Band, „The Invasion of 1910“ soll über eine Million Käufer gefunden haben. Gerhard Seyfried: O-Ton 7: (Seyfried) Der hat durchaus Panik ausgelöst, Ängste, und Scotland Yard ist mit hunderten von Meldungen bombardiert worden, jede Woche, deutsche Kellner mit Lichtzeichen, ein Panzerauto fährt nachts in der Gegend, lauter solche Meldungen. Scotland Yard hat die, soweit es überhaupt möglich war, immer untersucht: Alles Quatsch. Steckt nichts dahinter. In keinem Fall. Sprecher 1: Dennoch: Die Politiker reagieren. Fiktion und Wirklichkeit sind eng miteinander verschränkt. Im Jahr 1907 jubelt das War Office darüber, dass aufgrund der Romane von Le Queux im Ausland der Eindruck entstanden sei, Großbritannien besäße einen gut organisierten Geheimdienst. Und umgekehrt wird aus literarischen Spekulation über deutsche Schläfer eine politische Wahrheit. 1909 steht in einem Memorandum des Committee of Imperial Defence, dem Ausschuss, der für die Planung der Verteidigung des britischen Königreiches verantwortlich ist: Zitator: Die vorgelegten Belege lassen keinen Zweifel daran, dass in unserem Land ein umfassendes deutsches Spionagesystem existiert und dass wir keine Organisation haben, um diese Spionage zu beobachten und ihr Ausmaß oder ihre Ziele richtig einzuschätzen. Sprecher 1: Die Romane von William Le Queux werden zu Drehbüchern für die Wirklichkeit. O-Ton 8: (Seyfried) Auf diesen blödsinnigen Schriftsteller hin (…) ist quasi der MI 5 und der MI 6 gegründet worden. Sprecher 1: MI 5 und MI 6 – der britische Inlands- und Auslandsgeheimdienst, im Oktober 1909 unter einem Dach als Secret Service gegründet. Ausstattung: zwei Männer, Vernon Kell, Hauptmann des Heeres, und Mansfield Cumming, Oberstleutnant der Marine. Doch obwohl die beiden sich redlich mühen, können sie keine feindlichen Agenten aufspüren. Der Grund: Es gibt sie nur in Romanen! Dann tut ein Deutscher, nämlich Leutnant Siegfried Helm vom Nassauischen Pionier-Bataillon Nr. 21, den Briten den Gefallen und lässt sich im September 1910 als Spitzel erwischen. O-Ton 9: (Seyfried) Der hat noch den Mädeln damit imponieren wollen, damit, dass er n deutscher Spion ist. Sprecher 1: Englische Spione sind ähnlich romantisch veranlagt. Deutschland verhaftet im gleichen Jahr die Marineangehörigen Lieutenant Vivien Brandon und Captain Trench, die Verteidigungsanlagen auf Borkum ausgekundschaftet haben – zwei Möchtegern-Spione, die Childers Bestseller in der Wirklichkeit nachspielen. O-Ton 10: (Seyfried) Richtig Sherlock-Holmes-Zeit. Mit falschen Bärten, Wendemützen, Wendejacken und all diesem Zeug. Natürlich ne langsame Zeit, alle zu Fuß oder mit der Eisenbahn, Telegraf und Telefon gab es immerhin schon, und alles, was ich dazu gelesen habe über Spionage in dieser Zeit, gab’s kaum Gewalt. So gut wie gar nicht, und man war sehr gentlemanmäßig zueinander, sehr höflich bis der Krieg ausbrach. MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Zitat: Ich drehte das Licht an, aber es war niemand da. Dann sah ich hinten in der Ecke etwas – die Zigarre fiel herunter, und der kalte Schweiß brach mir aus. Mein Gast lag flach auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt. Ein langes Messer steckte in seinem Herzen und nagelte ihn auf dem Fußboden fest. Sprecher 1: Mit dem Kriegsbeginn ändert sich auch in der Literatur der Ton. Das Tempo wird schneller, die Gefahren werden größer, die Spannung steigt. 1915 veröffentlicht John Buchan seinen Roman „Die 39 Stufen“, der später von Hitchcock erfolgreich verfilmt werden soll. Das Buch spielt unmittelbar vor Kriegsbeginn und liefert die Blaupause für den modernen Politthriller. Thomas Wörtche: O-Ton 11: (Wörtche) Also er reagiert immer auf weltpolitische Ereignisse. Egal wie vermittelt. Das haben wir bis heute. Sprecher 2: Richard Hannay ist ein leicht snobistischer Vertreter der Upper-class: Zitator: Da war ich nun, 37 Jahre alt, kerngesund, hatte Geld genug, das Leben zu genießen, und brachte den ganzen Tag lang vor Gähnen den Mund nicht mehr zu. (...) Im ganzen Vereinigten Königreich gab es niemanden, der sich so langweilte wie ich. Sprecher 1: Britische Oberklasse. Modell: gelangweilter Jungmann, reich, klug, gut erzogen. Verbringt seine Zeit im Club. Doch dann …: Sprecher 2: Durch Zufall trifft Richard Hannay auf einen Geheimagenten. Der erzählt von einer Verschwörung, eine wirre Geschichte über ein Attentat auf dem Balkan – und deutsche Pläne für eine Invasion Großbritanniens. Zitat: Mein Wagen rutschte durch die Hecke wie durch Butter und kippte schwindelerregend vornüber. Ich sah, was kommen musste, war im Nu auf dem Sitz und wollte aus dem Wagen springen. Aber ein Weißdornzweig verfing sich in meinem Hemd, hob mich auf und hielt mich fest, während unter mir eine Tonne oder zwei teuren Metalls wegglitt, sich aufbäumte und dann mit fürchterlichem Krachen fünfzig Fuß tief ins Bachbett stürzte. Sprecher 2: Der Geheimagent wird ermordet – und Hannay muss fliehen, zum einen vor den Verschwörern, zum anderen vor der Polizei, die ihn für einen Mörder hält. Sprecher 1: Atemlos hetzt er durch das schottische Hochland, eine Verfolgungsjagd – und da ist Buchan absolut stilbildend – auf dem Stand der Technik des Jahres 1914: per Zug, Fahrrad, Auto und Flugzeug. Überall trifft Hannay Helfer und Verräter, zwischendrin sogar den Chef der Verschwörer: Zitator: Es stand mehr in diesen Augen als gewöhnlicher Triumph. (…) Jetzt flammten sie mit dem Stolz eines Raubvogels. Fanatische Weißglut brannte in ihnen, und zum erstenmal wurde mir das Entsetzliche klar, mit dem ich’s aufgenommen hatte. Dieser Mann war mehr als ein Spion. Auf seine satanische Art war er ein Patriot. O-Ton 13: (Wörtche) Also da gibt es natürlich eine gewisse Hochachtung, Sprecher 1: meint Thomas Wörtche. Sprecher 2: Denn das gesteht Richard Hannay seinem Gegnern zu: Er handelt aus übergeordneten Motiven. Genau wie er selbst. Die Pflicht ruft. Zitator: Alle Welt weiß, dass wir sieben Wochen später Krieg hatten. Ich meldete mich während der ersten Woche freiwillig, und (…) wurde (…) sofort Captain. Aber den besten Dienst hatte ich dem Vaterland wohl geleistet, ehe ich die Uniform anzog. MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Zitat: Bond wusste genau, wo der Lichtschalter war, und mit einer einzigen Bewegung stand er nicht nur auf der Schwelle, die Tür weit aufgerissen, sondern hatte gleichzeitig das Licht angeknipst und die Pistole in der Hand. Der leere Raum grinste ihn höhnisch an. Sprecher 1: Der berühmteste Spion, der je das Licht der Buch- und Filmwelt erblickte, ist James Bond, Agent 007. Sein Schöpfer: Ian Flemings, ehemals Mitarbeiter des Marine-Nachrichtendienstes. Auch Bond ist ein Patriot, der von 1953 bis 1964 radikal die britischen Interessen vertritt. Und das heißt in dieser Zeit: die Interessen der westlichen Welt. Zitat „Du hast doch sicher noch deine alte Beretta, oder?“ „Doch“, sagte Bond, „immer noch die Beretta.“ „Und du hast immer noch die zweistellige Nummer mit der vorgesetzten Null, die dir erlaubt einen Gegner notfalls umzulegen?“ „Ja“, sagte Bond trocken, „die habe ich auch noch.“ Sprecher 1: Fleming schrieb ein Dutzend James-Bond-Romane, die alle verfilmt wurden. Am berühmtesten wurde „Liebesgrüße aus Moskau“, 1957 geschrieben. Vier Jahre nach dem Erscheinen bezeichnete John F. Kennedy es als eines seiner Lieblingsbücher - im Frühjahr 1961, kurz vor dem Mauerbau in Berlin und dem Ausbruch der Kuba-Krise. Sprecher 2: Der russische Geheimdienst schmiedet einen bösen Plan: Mit Hilfe der schönen Spionin Tatjana Romanova soll James Bond in eine tödliche Falle gelockt werden. Nach allerlei Intrigen, Liebesszenen und Schießereien in Istanbul, Belgrad und im Orient-Express kommt es schließlich zum Showdown in Paris: Bond kämpft mit der russischen Agentin Rosa Klebb, die versucht, ihn mit einer im Schuh versteckten, vergifteten Klinge zu töten. O-Ton 14: (Wörtche) Die James Bond Romane sind ja noch schlechter als ich sie in Erinnerung hatte. Diese sind ja gruselig. Das ist ja unglaublich. Es braucht wohl ne ästhetische Schlichtheit oder ne ästhetische Breitenkompatibilität, um son Strahlemännchen zu etablieren. 6:01 Sprecher 1: Flemings Romane sind Musterbeispiele von Kalter-Krieg-Literatur. Sie halten sich nicht mit Zwischentönen auf: Die Russen sind üble Apparatschiks, finstere, brutale Gestalten. Sie betrügen, sie täuschen, sie töten. Einzige Hoffnung des Westens ist der MI 6 mit Bond, James Bond. Wo andere Geheimdienste wie die CIA versagen, rettet Bond die Welt. Er verkörpert englische Überlegenheit. Unbesiegbarkeit. Konzentration aufs Wesentliche. Wenn es sein muss, auch Skrupellosigkeit. Von Fleming wird der Satz kolportiert, England sei kein Land, sondern eine Religion. Ginge es um England sei jeder Brite ein Jesuit: Davon überzeugt, dass der Zweck die Mittel heilige. O-Ton 15: (Brittnacher) Sicherlich ist es so, dass Ian Fleming mit seinen Romanen, er war ja selbst beim MI 5 gewesen, natürlich ein romantisches Bild des Geheimdienstes zeigt. O-Ton 16: (Wörtche) Manche waren selbst dabei, oder manche waren assoziiert. Die Geheimdienste wären nicht geheim, wenn man’s genau wüsste, wie das so ist. MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Zitat: Leamas beobachtete den Wagen. Es standen zwei Vopos an der Fahrertür, der eine sprach, der andere hielt sich abwartend im Hintergrund. Ein Dritter schlenderte um den Wagen herum. Es blieb beim Kofferraum stehen und ging dann zur Fahrerin zurück. Er verlangte den Schlüssel. Er eröffnete den Kofferraum, schaute hinein, schloss ihn, gab den Schlüssel zurück und ging auf der Straße dreißig Schritte weiter bis zu dem einzelnen ostdeutschen Posten, der dort auf halbem Wege zwischen den beiden Kontrollpunkten stand: eine vielfältige Silhouette in Stiefeln und bauschigen Hosen. Die beiden sprachen miteinander, das gleißende Licht der Bogenlampen machte sie befangen. Sprecher 1: 1963, in Berlin steht die Mauer. Zeitgleich mit dem neunten Bond-Roman, der unter dem Titel „On her Majesty’s Secret Service“ erscheint, veröffentlicht der britische Geheimdienstmitarbeiter John Le Carré mit Erlaubnis seiner Behörde einen Roman, der einen ganz anderen Agentenalltag schildert: „Der Spion, der aus der Kälte kam“. Sprecher 2: In der DDR wird ein Spionagering der Briten wird enttarnt. Der Agentenführer George Smiley ruft seinen Spion Alec Leamas aus dem geteilten Berlin zurück nach London – und schickt ihn auf eine gefährliche Mission: Der Ost-Berliner Spionagechef Mundt soll ausgeschaltet werden. Leamas wird offiziell aus dem Geheimdienst entlassen, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, verwahrlost immer mehr. Schließlich wird der vermeintlich aus der Bahn geworfene Spion vom ostdeutschen Geheimdienst kontaktiert – und lässt sich anwerben. Sprecher 1: Mit John Le Carré bekommen die Spionageromane einen neuen, melancholischen Ton. Erstmals wird thematisiert, dass westliche Spione nicht immer edel und gut sind, dass sie ihre Arbeit verrichten, weil es ihre Arbeit ist, dass sie nicht von Ideologie und Freiheitsliebe getrieben sind und Methoden anwenden, die sie ihren Gegnern gleich machen. Leser fanden beide: Flemings strahlender Superheld James Bond und Le Carrés schwermütiger, mit Schuld beladener Agent George Smiley. Der Literaturwissenschaftler Hans-Richard Brittnacher: O-Ton 17: (Brittnacher) „Als John le Carrés Roman erschienen ist, ist der rezensiert worden von Micha Wolf, von Allen (...) Dulles, das war der damalige CIA-Direktor, von dem englischen Geheimdienstchef, alle haben gesagt: so geht es nicht zu im Geheimdienst, was natürlich die allerbeste Reklame war für diesen Roman, und wenn man so will auch eine Bekräftigung dafür: genau so geht es dazu.“ MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Zitator: „Die Wirklichkeit ist nicht nur viel fantastischer, als wir denken, sie ist auch viel fantastischer, als wir sie uns vorstellen können.“ Sprecher 1: Gerhard Wessel, Präsident des Bundesnachrichtendienstes von 1968-1978 Zitator: „Eine sichere Leitung nach Mumbai bitte und dort zu Müller.“ Als die Leitung stand, fragte er: „Gut angekommen? Wie ist die Stimmung?“ „Bestens“, antwortete Müller knapp. „Ich denke, ich muss Ihnen sagen, weshalb Sie ausgerechnet Indien stürmen sollen.“ „Ich glaube, ich habe Sie schon verstanden. Sie fürchten, dass Mumbai nicht der letzte große terroristische Schlag war. Dass von Pakistan aus zu viel in diese Richtung gesteuert wird. Und dass möglicherweise Terroristen von dort zu uns exportiert werden können. Auch Einzeltäter.“ Sprecher 1: Jacques Berndorf: Der Meisterschüler, erschienen 2009. Der Schriftsteller Jacques Berndorf ist eine Größe unter den deutschen Thrillerautoren. Neben anderthalb Dutzend recht beschaulicher Krimis, die in der Eifel spielen, hat er zuletzt auch vier Spionagethriller geschrieben. Thomas Wörtche: O-Ton 18: Der Politthriller hat ne Zeit lang unter dem blöden Spruch gelitten, den konnte man in jeder fünften Rezension lesen: Seitdem der kalte Krieg zu Ende ist, ist dem Politthriller das Thema ausgegangen. Was natürlich überhaupt nicht stimmt. Sprecher 2: Im Mittelpunkt von Bernsdorfs Trillern: Karl Müller, äußerlich Allerweltsmann. Zitator: „Er war (…) etwa einen Meter achtzig groß, zur Fülle neigend. Sein Teint war blass, seine Nase spitz, sein Kopf rundlich, bedeckt von dünnem, aschblondem Haar mit weiten Geheimsratsecken. (…) Er war der Mann, der alles sein konnte.“ Sprecher 1: Der Bundesnachrichtendienst unterstützte Berndorfs Recherchen. Und manches grobe Detail entspricht vermutlich der Wirklichkeit: Der BND hat natürlich sogenannte menschliche Quellen, die von Einsatzkräften wie Karl Müller vor Ort befragt werden, er hat auch technische Ressourcen – die sogenannte Signal Intelligence, die auf der Webseite des BND vorgestellt wird. Aber vor allem sind die Bedrohungsszenearien und Einsatzorte Müllers sorgfältig gewählt. Es ist eine neue Zeit. Der Kalte Krieg ist vorüber, und spätestens seit dem 11. September 2001 beschäftigen sich die Nachrichtendienste weltweit mit anderen Themen. Das gilt auch für die Autoren von Spannungsromanen. Der islamische Terrorismus, das nordkoreanische Atomprogramm und die revolutionären Veränderungen in Nordafrika sind einige der Herausforderungen, denen sich Berndorfs Held stellen muss. Deutschland ist vom potentiellen Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs zum globalen Player geworden. MUSIKAKZENT [NEUER ABSCHNITT] Zitat: Natürlich wusste jeder, der mit dieser Sache betraut war, das Scheffer ein Musterprofi war, der sich doppelt absicherte und dem es gelang, sich dem geschicktesten Verfolger zu entziehen. Sogar in Moskau. Niemand im Dienst glaubte, dass Scheffer einen Fehler gemacht hatte. Jeder andere, der nicht. Aber der Zweifel konnte jeden fertigmachen, auch den Unschuldigsten. O-Ton 19: (Ditfurth) Die Recherche läuft wie eigentlich bei einem ganz normalen historischen Sachbuch. Man versucht soviel Sekundärliteratur zu kriegen und zu lesen, wie man kann. Und man versucht, vor allem autobiografisches Material zu verarbeiten. Sprecher 1: Christian von Ditfurth schreibt neben politischen Sachbüchern ebenfalls Krimis. Am bekanntesten sind wohl die Stachelmann-Romane, in denen ein Hamburger Historiker Detektiv spielt. Doch von Dithfurth hat auch einen politischer Thriller verfasst: „Das Moskau-Spiel“ ist eine spannende Geschichte über einen Vater und einen Sohn, die beide für den Bundesnachrichtendienst arbeiteten Sprecher 2: Theo Martenthaler stößt im Jahre 2010 auf ein Komplott, in das sein Vater verwickelt war. Der war Anfang der 80er Jahre als BND-Agent in Moskau aktiv, zu einer Zeit, als die Welt wegen des Wettrüstens von Nato und Warschauer Pakt nur Millimeter vom Atomkrieg entfernt ist. Zu einer Zeit, als eine alte Garde im Kreml auf militärische Stärke setzt, ein koreanisches Passagierflugzeug abschießen lässt und Fehlalarme mehrfach fast Atomkriege auslösen. Nach dem Tod Leonid Breschnews im Herbst 1982 tobt ein Machtkampf im Kreml: Behält die alte Garde das Sagen oder können sich Erneuerer durchsetzen? O-Ton 20: (Ditfurth) Ich bin ein bisschen vorbelastet, ich hab ja dereinst als Lektor das Erinnerungsbuch von Heinz Felfe, damals als Sowjetspion im Bundesnachrichtendienst, betreut, und ihn auch persönlich ganz gut kennengelernt. Ich habe zum Beispiel mit einem Offizier der Hauptverwaltung Aufklärung sehr intensiv zusammengearbeitet. Der auch alles gelesen hat, und mit dem ich mich über viele Dinge auch gesprochen habe, was so auch das Spionagehandwerk angeht. Also das ist nicht so, so hollywoodmäßig abgeht, sondern ein wenig realistischer vielleicht. Sprecher 1: Auf eine gewisse Art und Weise ist der Politthriller im 21. Jahrhundert so tatsächlich in der Wirklichkeit angekommen. Die Schauplätze müssen stimmen, die Atmosphäre muss passen, die Details müssen funktionieren: Recherche halt. Handwerk. Wissen, worüber man schreibt. Wissen auch, dass die Welt komplex ist. Hans-Richard Brittnacher: O-Ton 21: (Brittnacher) Wer sich so einfach macht, die Welt in gut und böse zu unterteilen, und das tut natürlich Ian Fleming mit seinem James Bond (…) schreibt keine literarisch anspruchsvollen Romane. Die sind unterhaltsam, aber mehr auch nicht. (…) Susan Sonntag hat mal gesagt: ne ambivalente Metapher ist ne gute Metapher, oder umgekehrt: nur eine Metapher, die auch ambivalent ist, ist auch gut, die ist belastbar, die ist elastisch, die führt uns dazu, dass wir Dinge nicht eindeutig, sondern zweideutig oder dreideutig sehen. Die lässt uns nachdenken, und deshalb sind Romane, die im Zwielicht operieren, auch was unsere moralischen Stellungnahmen betrifft, solchen, die es uns einfach machen, haushoch überlegen. (…) Also auch in literarischer Hinsicht. MUSIKAKZENT [NEUER – UND LETZTER ABSCHNITT] Zitat: Wie längst vergessene Grabsteine warfen die verfallenen Häuser in der Friedrichstraße unregelmäßige Schatten in die Abenddämmerung, und die beiden Männer nutzten sie Deckung routiniert aus. O-Ton 24: (Brittnacher) Es gab ja in den siebziger, achtziger, auch neunziger Jahren hoch engagierte Politthriller, also ich denke jetzt an die Romane von Brian Freemantle., Sprecher 1: Hans-Richard Brittnacher bringt zum Schluss einen weiteren Spion ins Spiel. Die Grauzone wird größer. Auftritt Charlie Muffin, ein MI-6-Mann. Vielleicht der modernste aller Agenten, obwohl Brian Freemantle ihn schon in den späten 1970er Jahren erfunden hat. Denn bei ihm finden sich am wenigsten die althergebrachten Begriffe von Moral und Patriotismus. Zumindest nicht als feststehende, übergeordnete Kategorien. Charlie Muffin weiß: Er muss seine moralischen Werte im Einzelfall immer wieder neu definieren und individuell nachjustieren. Ein Agent fürs 21. Jahrhundert? O-Ton 25: (Brittnacher) Dieser Held ist ein Underdog, das ist eben nicht der Eton-Absolvent mit seiner Club-Krawatte, der zur upper-Class gehört, sondern einer mit ausgelatschten Schuhen, der im Dienst grau geworden ist, der aber jeden Schlich und Trick kennt und auf die Art und Weise sein Spiel spielt. Er weiß, dass es im Zweifelsfall gar nicht so sehr um den Konflikt zwischen Ost und West geht, sondern um den Konflikt zwischen Oberschicht und Unterschicht, und er ist sozusagen doppeltes Opfer, der dann auch von den eigenen Leuten geopfert wird, und weil er eben clever ist und das rechtzeitig einsieht, noch Maßnahmen dagegen ergreifen kann. Aber das ist ein schönes Beispiel, wie ein Roman systematisch jede vorgefasste gute Meinung von Westen und jede chlechte Meinung vom Osten systematisch eindunkelt und trübt, so dass wir hinterher wirklich im Trüben fischen und uns unser moralisches Urteil erstmal neu ausbuchstabieren müssen. Zitat: „Wie viele Einsätze wird es noch geben, Charlie?“ bedrängte ihn der Russe. „Schnappen wir Sie beim nächsten? Oder kommen Sie noch einmal davon und leben ein paar Monate länger?“ Charlie seufzte. „Vielleicht gibt man mir einen Verwaltungsjob in Whitehall.“ Berenkow schüttelte den Kopf. „So wird das bei Euch nicht gehandhabt“, stellte er richtig. „Sie landen auf dem Müllhaufen.“ ENDE QUELLENANGABEN Autor Titel des Buches bei Lyrik auch Titel des Gedichts Verlag Ersch. Jahr Übersetzer Erskine Childers Das Rätsel der Sandbank Diogenes, Zürich 1975 Hubert Deymann William Tufnell Le Queux Spies of the Kaiser Zitiert nach: Chrsitopher Andrew: MI 5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes, List Verlag 2011 Stephan Gebauer, Enrico Heinemann,. Norbert Juraschitz John Buchan Die 39 Stufen Diogenes, Zürich 1975 Marta Hackel Ian Fleming Casino Royale Ullstein 1960 ohne Angabe John Le Carré Der Spion, der aus der Kälte kam Bertelsmann Ohne Jahr Christian Wessels, Manfred von Conta Jacques Berndorf Der Meisterschüler Heyne TB 2011 Christian von Ditfurth Das Moskau-Spiel Kiepenheuer und Witsch 2010 Brian Freemantle Agentenpoker Ullstein 1980 Michael K. Georgi