COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 30.3.2008, 0.05 Uhr Mummenschanz & Klassenkampf Spielt Theater noch eine Rolle? Von Wolf Eismann Redaktion: Sigried Wesener Sendung: Deutschlandradio Kultur ? 30. März 2008 - Länge: 52?30 Sprecher/Er: Stephan Schad Sprecherin/Sie: Anne Weber O-Ton 01: ?Cyankali?: Die Arbeitslosenkrise: ein Weltphänomen. / Weil um jeden Dreck gestreikt wird. / Quatsch! Ausgesperrt sind wir. / Jacke wie Hose. Es geht immer um die Lohntüte. ? Hier steht?s, passt auf: Infolge dauernder Lohnforderungen stehen die Reallöhne heute schon 20% über dem Friedenssatz und haben die Waren so verteuert, dass der Innenmarkt völlig erlahmt. / Ach, hören Sie doch auf! Die Hauptsache ist doch, dass der Konsum nicht zumacht. Sprecherin: ?Bitte, sich nicht vor Ekel abzuwenden und zur Iphigenie oder zur Erhabenheit gotischer Dome zu flüchten?, schrieb der Autor Friedrich Wolf 1928 in einer Broschüre des Arbeiter-Theaterbundes Deutschland. ?Kunst ist Waffe!?, so proklamierte er. Sprecher: ?Der Dichter, der nicht die tragischen Konflikte der Straße sieht, der von ihnen nicht gepackt und hingerissen wird, er hat kein Blut in den Adern!? Sprecherin: Ein Jahr später sorgte Friedrich Wolf mit einem Theaterstück in Berlin für einen Skandal. Schauspieler Gerhard Bienert, der die männliche Hauptrolle spielte, erinnert sich. O-Ton 02: Gerhard Bienert: ?Cyankali?, wie das Stück heißen sollte... ? Das spielten wir als Premiere im September 1929. Da war Wolf bei. Wolf ist zu den letzten Proben nach Berlin schon gekommen und hat uns auch geholfen bei den Proben noch. Wir haben auch nachts geprobt, weil wir nicht fertig wurden. Wir hatten keine Zeit, uns acht Wochen oder zehn Wochen ? wie es der Brecht gemacht hat ? zehn Monate eventuell mit einem Stück aufzuhalten. Wir spielten das drauflos, und die Rollen lagen uns ja glänzend. Das war gar keine Frage. Und wir hatten einen Sensationserfolg... Musik: Einheit/Stein: Friedhofsmauer Sprecherin: ?Cyankali? erzählt von dem Heizer Paul, der während laufender Arbeitskämpfe die Werkskantine aufbricht, um den Frauen und Kindern der ausgesperrten Arbeiter etwas zu essen zu besorgen. Seine Freundin Hete hat gerade ihre Anstellung verloren. Dann erfährt sie, dass sie schwanger ist; Paul aber muss zu diesem Zeitpunkt bereits vor der Polizei flüchten. Der Arzt, den die verzweifelte Hete aufsucht, verweist sie auf den Abtreibungsparagraphen, und so landet sie schließlich bei einer so genannten Engelmacherin... O-Ton 03: ?Cyankali?: Haste denn Pinke? / Nicht viel. Wir sind doch arbeitslos. / Na, wieviel? / Zehn Mark. / Na, sag mal, du bist wohl verrückt, was? - Du, hör mal. Damit dir gleich ne Latüchte aufgeht. Hier biste in einem soliden Haus mit prima Bedienung. Alles mit Antisepsis und Sterilisation, verstehste? Von wegen dem Kindbettfieber. Und von wegen die Sepsis, die so leicht den Uterus raufschleicht... - Komm her, ich geb dir was. Hier. Nimmst du fünf Tropfen. Fünf Tropfen am Tag, verstehst du? Fünf Tropfen, nicht mehr. Fünf Tropfen am Tag. Das ist nämlich eigentlich Gift, verstehst du? Aber in schwachen Lösungen da hilft es. Cyankali. Sprecher: Im Januar 1930 ging die ?Gruppe junger Schauspieler? nach über 100 Aufführungen vor Ort mit ?Cyankali? auf Tournee durch alle großen deutschen Städte. Überall, wo sie auftraten, wurde das Stück Gegenstand erbitterter politischer Auseinandersetzungen. Deutsch-Nationale und Nationalsozialisten beschimpften die Darsteller als fanatische Hetzapostel für die Idee des Bolschewismus. Katholische Jugendliche lieferten sich mit dem Publikum ein Gefecht. In Halle endete die Vorstellung mit einer Kampfdemonstration des begeisterten Arbeiterpublikums, in Danzig warfen Faschisten Stinkbomben in den Saal. O-Ton 04: Gerhard Bienert: Also das Stück fängt an. Die Hete, ich glaube, die Rabasch spielte sie, meine Freundin... - ich spielte den Heizer Paul - ...sagt zu mir: Du Paul, es ist weggeblieben. Darauf erhob sich sofort ein tobendes Pfeifen im Parkett: Ihr Schweine! Pfui, Deibel! Und so weiter, und so weiter... Aufhören! Aufhören! ? Haut ab nach Berlin, ihr Bolschewisten und so ungefähr... ? Dass wir Bolschewisten waren, wussten wir selbst nicht so unbedingt. Wir sympathisierten mit ihnen, aber wir waren keine. Wir waren harmlose Künstler, die einen Weg suchten, wie es weitergeht mit der Wahrheit. Musik: Thom Yorke: Analyse (Various Remix) Sprecher: Mit ?Cyankali? wollte Friedrich Wolf das bürgerliche Zeitstück, die Familientragödie à la Schillers ?Kabale und Liebe? zu einem politisch sozialen Stück umformen. Sprecherin: Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Im Februar 1929 meldete die Statistik in Deutschland über drei Millionen Arbeitslose. Die Wohnungsnot war groß. Eine vierköpfige Arbeiterfamilie hatte in der Regel gerade einmal anderthalb Zimmer zur Verfügung, und so entbrannte zu jener Zeit auch der Kampf für die Geburtenregelung und gegen den § 218. Sprecher: Der 40jährige Friedrich Wolf lebte damals in Stuttgart, wo er schließlich den ?Spieltrupp Südwest? gründete, eine Agitprop-Spieltruppe aus Laiendarstellern. Doch Wolf war eben nicht nur Autor, sondern auch Arzt ? und Mitglied der KPD, die sich im besonderen Maße für eine Änderung der Sozial- und Gesundheitspolitik einsetzte. Sprecherin: ?Cyankali ist keine Dichtung. Aber seine primitiven Mittel sind hier am Platz?, schrieb der Kritiker Herbert Jhering nach der Uraufführung. Sprecher: Die Berliner Mittagszeitung staunte: ?Ein Riesenerfolg! Tosender, minutenlanger, völlig ehrlicher Beifall.? Sprecherin: Das Stück löste große öffentliche Diskussionen über den Abtreibungsparagraphen aus; Friedrich Wolf wurde sogar kurzzeitig verhaftet. Sprecher: Und Erich Kästner notierte für die Neue Leipziger Zeitung: ?Das Theater vermag es also, die Gesetzgebung und die innere Politik zu beeinflussen.? Sprecherin: Ein heute kaum noch vorstellbarer Gedanke... Musik aufblenden: A self-fulfilling prophecy of endless possibility / You roll in reams across the street / It gets you down / It gets you down O-Ton 05: Ulrich Khuon: Ich finde, wir haben heute eine andere Situation in der Gesellschaft, und deswegen hat das Theater auch eine andere Aufgabe, also nicht zu polarisieren oder sich agitpropmäßig einzumischen. Sondern es ist eher ein Element, das den Blick auf bestimmte Dinge richtet. Ich würde auch sagen, das Theater sollte sich nicht überfordern und alle gesellschaftlichen Probleme gleichzeitig beeinflussen und lösen wollen. Man arbeitet in einer Stadt. Wir in Hamburg. Und da praktisch dafür zu sorgen, dass diese soziale Zerrissenheit wenigstens denen, die hier leben, bewusst wird, also den Blick der einen für die Realität der anderen zu schärfen, das wäre für mich so ein Ziel von Theater. Sprecherin: Ulrich Khuon, Jahrgang 1951, ist seit dem Sommer 2000 Intendant am Hamburger Thalia Theater, das unter seiner Leitung zweimal ? 2003 und 2007 ? von einer unabhängigen Kritiker-Jury zum deutschsprachigen ?Theater des Jahres? gekürt wurde. Sprecher: Ulrich Khuons Motto: Einmischen in die deutsche Wirklichkeit. Sprecherin: Aber: O-Ton 06: Ulrich Khuon: Theater ist nicht ein Vereinfachungsinstrument. Insofern eignet es sich nicht für die simple Schwarzweißmalerei oder für den Klassenkampf in der einfachen Weise. Oder auch nicht für Agitprop. Ich finde, Theater ist ein Differenzierungsinstrument. Ich finde ja, dass unsere Gesellschaft, obwohl viel geredet wird, darunter leidet, dass zu wenig differenziert wird. Im Übrigen glaube ich auch, dass man differenzieren kann und trotzdem handlungsfähig bleiben kann, weil ich höre schon den Einwand, dass man sagt, ja, Herr Khuon, super, Sie differenzieren sich zu Tode, und am Schluss hat jeder Recht und nichts ist passiert. Musik: Radiohead: Videotape Sprecher: In der Spielzeit 2007/2008 begab sich das Thalia Theater auf das wahnwitzige Schlachtfeld des ungezügelten Kapitalismus: in Andreas Marbers Komödie ?Die Beißfrequenz der Kettenhunde?. Mit René Pollesch war ?Die Welt zu Gast bei reichen Eltern?: atemlose Rededuelle zwischen Vater, Mutter und drei Kindern unter dem Motto ?Die Familie, das ist nicht nur Mord und Totschlag, das ist Kälte und Einsamkeit.? Sprecherin: Und schließlich geht?s im ?alten ford escort dunkelblau? mit drei Langzeitarbeitslosen quer durch die ostdeutsche Provinz: auf der Flucht vor der Realität, von der sie am Ende dann aber doch wieder eingeholt werden. Autor Dirk Laucke erhielt dafür den renommierten Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker. O-Ton 07: Dirk Laucke: Also, ich weiß, dass das Theater sich versteht als so eine Art Diskursführer, wo dann immer die aktuellsten Debatten laufen über Unterschichten, Osten, ausgegrenzte Leute, über Migration oder sonstwas. Und das geht sehr häufig an den Leuten vorbei, die es eigentlich betrifft. Irgendwie ist das so ein Hirnleistungstheater, was für mich zu sehr das Vergnügen für Intellektuelle beinhaltet. Also, wenn es zu künstlerisch abstrakt wird, wie Robert Wilson oder so, damit kann ich einfach nichts mehr anfangen. Das liegt vielleicht an meiner Generation oder so? Musik: Blixa Bargeld: Indoktrination Sie: hab ich dich je gefragt, warum das alles so beschissen ist. wir. haben wir uns das mal gefragt. oder mal versucht was aufzubauen. Er: mein rückgrat ist im arsch. Sie: wir haben doch nur gesehen wie alles kaputt geht. Er: ich trag den ring noch. hier. wo ist deiner. ich trag den ring, hab ich gesagt. ich trag ihn noch. ich halt mich dran. wo hast du. wo hast du deinen. Sie: verschärbelt. na und?! Er: den ring. drecksstück karin. du hast es mir geschworen. du hast gelogen. Sie: du hast gelogen. mit ja ich will hast du n flaschenboden gemeint. oder ne e-gitarre. Er: lass die musik da raus. Sie: den letzten rest geld fürne beschissene cd ausgeben. die genauso klingt wie alle andern. Er: halts maul. halts maul. Sie: is doch wahr, vier beknackte fettsäcke auf video zu sehen war dir wichtiger als dichte fenster. Er: ac/dc sind fünf. Sie: und es waren zwei quadratmeter schimmel an der kinderzimmerwand. Er: die ham mich nich verlassen. Sie: in fünf minuten bist du mit dem da raus. Er: karin. Sie: sonst garantier nämlich ich. Er: karin ich. Sie: für gar nichts mehr. Er: schorse wir gehn. Sprecherin: Schorse, Boxer und Paul versuchen, in dem alten Ford Escort ihrer sozialen Misere zu entfliehen. Die Fahrt auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer geht zur Musik von AC/DC durchs öde Mansfelder Land - Richtung Legoland. Im Stil eines Roadmovies erzählt Dirk Laucke in kurzen, lakonischen Sätzen stilsicher aus dem Leben ostdeutscher gestrandeter Existenzen. Er: solange das da draußen, windräder, äcker, tankstellen mansfelder land vorbei rauscht. langsam vorbei. wohnhaussiedlungen mit bisschen wiese davor und ner plastikrutsche knallrot für die kleinen. und plastikschaufeln und plastikharken in kleinen sandkästen mit zaun drum. und noch n zaun um den zaun. nur die ex-häuser die ohne scheiben wern nicht mehr eingesperrt. zwei stockwerke höchstens. grauer putz graue dächer. kann mich noch erinnern, als kind mit meim vater ma ne fahrt richtung bitterfeld gemacht. grün oder schwarz warn die früher die dächer. die gardinen gibs noch. zu nichts zu gebrauchen außer ins schwarze da rein kucken. sperrangelweit auf. wie wenn einer zu schreien versucht hat, stirbt und bleibt so. es reicht wenn ich einen tag hinter mir hab und stolz bin am leben zu sein. Sprecherin: Der viel gelobte 25jährige Autor Dirk Laucke sei ? zu aller Überraschung - glücklicherweise kein typischer Vertreter seiner Generation der politisch Desinteressierten, so heißt es in der Presse immer wieder. O-Ton 08: Dirk Laucke: Ich glaube, es ist schwieriger geworden, politisch aktiv zu werden in einer Gesellschaft, wo sehr viel scheinbare Toleranz herrscht, im Prinzip eine große Gleichheit, in dem Sinne, dass alle Leute mit ihrem Individualismus? Jeder hat so seine Nische und kann da so vor sich hin McDonald?s essen. Im Prinzip glaube ich, dass es so funktioniert wie mit Reizüberflutung. Dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Also, es gibt zwei Möglichkeiten, bei Reizüberflutung zu reagieren: Entweder man schläft ein, und ich glaube, das ist der Fall. Oder man fängt an zu schreien. Musik: The Dresden Dolls: Girl Anachronism You can tell / From the scars on my arms / And the cracks on my hips / And the dents in my car / And the blisters on my lips / That I'm not the carefullest of girls Sprecherin: Auf der Studiobühne des Schauspiels Stuttgart richten sich die Schreie gegen das anwesende Publikum. Er: Es ist eine Riesengefahr, dass die Leute einen so scheißguten Geschmack anerzogen bekommen sollen, bis sie zu Monstern werden, die sich dank dem ganzen abgekupfterten Design angeblich eine Identität zulegen können. Alle sind sich schon so verdammt sicher, dass sie Geschmack haben. Und auf einmal sind alle so wahnsinnig bewusst und selbstbewusst und selbstkritisch und autonom und aufmerksam und konsumskeptisch und kulturindustrieskeptisch und wertekritisch und innovationsskeptisch und designskeptisch und zenmäßig und kontrovers und rebellisch, und zur selben Zeit sind alle ? dank dem eingebildeten, verschissenen, hochnäsigen, pseudoautonomen Kunstdesign ? so wahnsinnig konsumpositiv und nicht-snobistisch versnobt und kulturindustrieunabhängig und konsumunabhängig und pornoliberal und amoralisch und jenseits von diesem und jenem und genre-übergreifend und nicht-ironisch und nicht-politisch-politisch und nicht-dandy-dandyesk und so weiter, und so könnte man stundenlang alle möglichen blödsinnigen Einstellungen runterleiern, die den Leuten eingetrichtert werden durch diesen mentalitäts- und meinungsschaffenden und mentalitäts- und meinungsverbreitenden verfluchten Designterror, den sie auch nur wieder von dem abgefuckten Scheißkunstterror abgekupfert haben, der ursprünglich die Psychowelt, in der die Leute leben, widerspiegeln und problematisieren sollte, aber die Kunst landet auch nur immer schneller auf dem Wohnzimmertisch, genau vor dem beschissenen Psychosack, den die Kunst eigentlich hatte kritisieren wollen. Atmo: Applaus, Pfiffe Sprecherin: Im Februar 2008 hatte Regisseur Volker Lösch den Satire-Roman ?The Cocka Hola Company? des norwegischen Schriftstellers Matias Faldbakken in Stuttgart auf die Bühne gebracht. Sprecher: Eine Gruppe von Aussteigern arbeitet fieberhaft an einem Gegenentwurf zum Leben im Mainstream. Alles, was der bürgerlichen Gesellschaft lieb und teuer ist, steht auf ihrer Hassliste. Sprecherin: Ihre Aktionen finanzieren sie mit der Produktion von Pornofilmen. O-Ton 09: Volker Lösch: Der Versuch, sich gegen Gesellschaft zu positionieren, aus einer Verzweiflung heraus. Die Energie, zunächst mal gegen alles zu sein, was uns eigentlich scheinbar wertvoll ist. Das hat mich interessiert an diesem Stoff. Das ist eine Widerstandsenergie, die letztlich viel mit dem heutigen Zustand zu tun hat. Von Welt. Dass man nach einer Lücke sucht. Wie kann man anders sein in einer Zeit, in der scheinbar alles so ist, wie es ist, und in einer durrchkapitalisierten Welt auch kein Ausweg mehr da ist. Wo es so etwas nicht mehr gibt wie eine Gegenwelt, die eine Gegenutopie sein könnte. Derzeit ist ja alles vereinnahmt und in eine bestimmte Richtung gebürstet. Entweder du machst mit, oder du ganz draußen. Und da zu sagen, wir verweigern uns all diesen Dingen, das fand ich erstmal interessant als Denkansatz. Er: Ja, also? Ich habe die Faszinationsdiktatur der Kulturschaffenden satt gehabt, also dass alle kulturellen Äußerungen auf Tod und Leben immer so faszinierend sein müssen; ein Phänomen als faszinierend zu bezeichnen, taucht die ganze Welt in ein sentimentales, ein heuchlerisches Licht. Und da unser Land vor lauter Kulturarbeitern bald überläuft, dachte ich, es ist höchste Zeit, etwas gegen die Faszinations-Generation zu unternehmen? denn die verdirbt einfach alles? Wenn man nachdenkt, sieht man, dass man schon überhaupt nichts mehr wirklich faszinierend finden kann. Sprecherin: Die verzweifelte Suche der ?Cocka Hola Company? nach Alternativen scheitert am Ende doch. Irgendwann, so müssen die Protagonisten feststellen, wird jede Revolution vom Mainstream verschluckt. Und Wortführer Simpel konstatiert: ?Wenn Ihr mich gut findet, habe ich verloren.? Sie: Das Publikum liebt dich. Was hälst du von Zustimmung? Was, wenn die Leute dir zustimmen? Er: Wenn sie dir zustimmen, das ist wie? ewige Verdammnis. Wenn sie dich gut finden, hast du verloren. Dann bist du tot. Musik: Jonny Greenwood: Moon Thrills Sprecher: Die gesamte Spielzeit 2007/2008 am Schauspiel Stuttgart stand unter dem Motto ?Gegenwelten?. Alles drehte sich um die ?Idee einer Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und bürgerlicher Demokratie?, wohl wissend, dass bisher ?alle Entwürfe einer neuen sozialen Gemeinschaft, einer Lebensform, die Ausbeutung und Entfremdung nicht kennt, gescheitert sind?. Mit diesem Ansatz hat das Team um Intendant Hasko Weber unter anderem im Herbst 2007 ein groß angelegtes RAF-Projekt zum Erfolg geführt. Sprecherin: Unter dem Titel ?Endstation Stammheim? sollte daran erinnert werden, dass Stuttgart vor dreißig Jahren im Zentrum der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit stand. Die RAF-Prozesse in Stammheim, die Entführungen und Ermordungen von Generalbundesanwalt Buback, von Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer, aber auch der Selbstmord von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe markierten den Höhepunkt einer Gewaltspirale, die damals die Bundesrepublik erschütterte. Sprecher: ?Der Ästhetisierung der Politik kann man nur mit der Politisierung der Kunst begegnen?, schrieb Walter Benjamin 1936 in einem Essay. Sprecherin: Dieses Zitat sollte für Hasko Weber, dem Intendanten des Schauspiel Stuttgart, zum Leitsatz der Stuttgarter Projektwochen werden. O-Ton 10: Hasko Weber: Wir haben hier in Stuttgart das Publikum. Leute, die damals jung waren, hier gelebt haben, eigentlich diese Zeit getankt haben, und die Ereignisse aus einem ganz anderen, aber sehr nahen Blick für sich wahrnehmen konnten. Und vor allem auch so eine emotionale Erinnerung an die Zeit hatten. Ob sie jetzt 77 mit der RAF was zu tun hatten oder nicht: Alle wussten, dass sie jetzt als Bürger dieser Stadte gemeint sind mit dem, was wir machen. Das war das Magnetische an der Sache. Und das hat eigentlich diese drei Projektwochen stabil auch getragen. - Dann kommt gleich der zweite Grundgedanke. Die größtmögliche Bandbreite an künstlerischer Greifbarkeit, was die Fakten angeht, die Zeit angeht, die Emotionalität angeht, in diesem Projekt unterzubringen. Damit der Zuschauer mit hoffentlich mehr als einem Erlebnis so einen Spektralblick bekommt. Und das natürlich auch mit dem Ziel, eine Debatte zu dem Thema Terrorismus ins Heute hinein auch auszulösen. Sprecher: Doch: Kann das Theater heute noch eine Bedeutung haben - im Schaffen von einer Massenwirksamkeit, im Herstellen einer kritischen Öffentlichkeit? Sprecherin: Thalia-Intendant Ulrich Khuon. O-Ton 11: Ulrich Khuon: Ich glaube, dass hat ein bisschen damit zu tun, wie grell die Gegensätze in der Gesellschaft aufeinander prallen. Oder wie deutlich die Not sich abzeichnet. Im Moment haben wir ja eher so eine Konsensgesellschaft, in der immer wieder so Erregungsfelder hochgeschwemmt werden. Man merkt aber auch, dass die dann sehr schnell wieder vorbei sind. So alle zwei Wochen wird ja ein anderes Thema extrem heftig diskutiert, und dann wundert man sich eher, wie folgenlos das ist. Jetzt ist es wieder die Jugendgewalt, dann immer wieder die Fragen um den Terrorismus, Kampf der Kulturen. Also, es kommt schon immer wieder, aber im Grunde sind es eher Erregungszentren, die sich dann wieder verspielen. O-Ton 12: Luk Perceval: Die Masse wird nur erreicht durch Massenmedien, und das ist Theater schon längst nicht mehr. Theater ist schon ein Medium, das sich leider beschränkt auf Spezialisten. Was ich sehr bedaure. Aber ich glaube trotzdem, dass der Beitrag, den Theater liefern kann, dass der sehr wichtig ist. Sprecher: Luk Perceval, Regisseur aus Belgien, arbeitet seit zehn Jahren vor allem in Deutschland. 2005 wurde er Hausregisseur an der Berliner Schaubühne. 2009 geht Perceval als Oberspielleiter an das Hamburger Thalia Theater. Mit einer unbändigen Lust am Risiko sucht er nach immer wieder neuen Spielformen. O-Ton 13: Luk Perceval: Letztendlich, könnte man sagen, ist das Theater eine Form der Suche nach Sinngebung. Nach dem Sinn dieses Lebens. Und was ich die große Qualität des Theaters finde, ist, dass es nicht dogmatisch ist. Jede Religion, fast jede Philosophie glaubt an einen bestimmten Weg und eine bestimmte Lösung. Theater hat keine Lösung. Es ist warten auf Godot. Es ist to be or not to be, wie Shakespeare gesagt hat. Es ist im Gegenteil das Individuum konfrontiert mit der Leere. Mit dem Fehlen von Antworten. Und ich glaube, dass dieses Bewusstsein wahnsinnig wichtig ist, auch wenn es nur ein paar Individuen trifft und bewusst macht. Das sind wahrscheinlich Tropfen auf dem heißen Stein, aber die Tropfen sind wichtig, weil sonst würde der Stein platzen. Musik: Blixa Bargeld: Lange Szene O-Ton 14: Ulrich Khuon: Wir sehen ja auch, wie die Medien innerhalb kürzester Zeit eine Öffentlichkeit oft schaffen, die extreme Emotionen produziert. Die BILD-Zeitung greift irgendwas auf? Die schafft ja das mühelos, Leute innerhalb von drei Tagen an die Wand zu nageln. Öffentlichen Druck herzustellen, ist relativ leicht für die Medien. Ich glaube, dass wir eher so eine Art Kontraposition sogar haben. Also dieser Satz von Peter Iden: Zur richtigen Zeit die falschen Fragen zu stellen oder zur falschen Zeit die richtigen Fragen zu stellen, also auch gegen die Zeit zu schwimmen. Und da erreicht man natürlich schon in einer Stadt auch eine Öffentlichkeit. Je größer der Radius wird, desto schwieriger ist das. Das ist mir schon klar. O-Ton 15: Hasko Weber: So, wie wir uns heute bewegen, hat man manchmal natürlich auch die Erfahrung, dass man sich extrem positionieren kann, und das Echo relativ gering ausfällt, weil die Bandbreite so groß ist und das Publikum viel schwerer in Gang zu bringen ist, sich ideologisch einzulassen. Das leistet natürlich radikalen Standpunkten im politischen Feld Vorschub. Bedient sich jetzt das Theater des Radikalen, dann läuft es auch ganz schnell Gefahr, das Gegenteil auszulösen. Die radikale Geste auf der Bühne ist eben trotzdem eine Theatergeste. Die Revolution auf der Bühne ist die Revolution auf der Bühne. Sprecher: Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Stuttgarter Projektwochen ?Endstation Stammheim? erlebte Hasko Weber von Anfang an als eher irritierend? O-Ton 16: Hasko Weber: Ich kann das ja ruhig mal sagen, dass aus allen politischen Lagern Zustimmung zu diesem Projekt da war. Also, ein CDU-Politiker, ein SPD-Politiker, jemand von der FDP fanden das Klasse, das wir das machen. Da kommt man schon ins Grübeln, nicht? (lacht) Aber es ist so. Da ist die Toleranzbreite viel größer geworden. Und damit auch die Möglichkeit der Erschütterung oder der Konfrontation geringer. Sprecherin: Ähnlich war es bei der ?Cocka Hola Company?: Das beschimpfte Publikum amüsierte sich prächtig. Regisseur Volker Lösch gelang es mit seinen Provokationen nicht, die Zuschauer aus der Reserve zu locken. O-Ton 17: Volker Lösch: Also, das war mein ganz persönlicher Grund, warum ich als Schauspieler aufgehört habe, weil mich das wahnsinnig gemacht hat. Ich war fünf Jahre Schauspieler und habe als letzte Rolle Marat gespielt, ?Marat/Sade? in Zürich, dem Peter-Weiss-Stück. Und war so zugeschmiert mit Maske bei der Premiere, dass mich die Zuschauer gar nicht erkannt haben, als ich dann im Foyer rumlief. Was aber ganz gut war, weil ich mich mal so in die Gruppen reingestellt habe und habe mal richtig zugehört, was so geredet worden ist. - Man sitzt in der reichsten Stadt der Welt, macht so ein Stück, ja? Von Peter Weiss, ?Marat/Sade?, und die Leute reden danach über Rotwein-Sorten, über Masken, über Kostüme? - über Ästhethik! Das war so ein Punkt, wo ich gesagt habe, so, jetzt reicht?s. Das geht nicht. Das ist nicht der Grund, warum ich Theater machen möchte. Ja? Das Handwerk muss einigermaßen funktionieren. Darüber möchte ich dann nicht mehr reden am nächsten Tag. Das mit der Ästhethik ist absolut zweitrangig. Die Ästhethik hat dem Inhalt zu dienen und nicht andersrum. Sprecher: Hasko Weber machte bei ?Endstation Stammheim? am Ende ähnliche Erfahrungen. O-Ton 18: Hasko Weber: Diese politische Debatte hat weniger eingesetzt. Als große Reaktion war es eine ästhetische Debatte. Also: Wie geht man mit Geschichte um? Was darf man? Darf der Baader auf der Bühne sein? Darf man Texte von der Meinhof verwenden? Und wenn ja: wie? Also, wo plötzlich moralische Kategorien eine Rolle spielen und plötzlich so Tabus auftauchen, die so eine Werteauslegung anzeigten, mit der unser Publikum doch unterwegs ist. Musik: Thom Yorke: Black Swan (Christian Vogel Spare Parts Remix) O-Ton 19: Luk Perceval: Heute leben wir in einer Welt, die uns alle vor ein großes Rätsel stellt und uns eigentlich sagt: Wir sind selber mit verantwortlich für? nicht nur, was mit dem Klima passiert, sondern auch diesem Krieg, der jetzt stattfindet im Irak. Weil wir letztlich auch Vorteile davon haben wegen des Ölpreises, der da bekämpft wird. Also, es ist sehr schwierig heute zu sagen, wir sind nicht Teil des Problems. Letztendlich leben wir in einer Zeit, wo es deutlich wird, dass wir uns mehr und mehr in dem Spiegel gucken müssen. Und das ist das, was heute das politische Theater macht. Es konfrontiert uns mit unserer eigenen Verantwortlichkeit. Ich glaube, dass das große Problem nicht die Haltung des Theaters ist, sondern die Haltung vieler Zuschauer, die das nicht akzeptieren wollen. Musik aufblenden: What will grow quickly, that you can't make straight / It's the price you gotta pay / Do yourself a favour and pack you bags / Buy a ticket and get on the train / Buy a ticket and get on the train O-Ton 20: Luk Perceval: Aber wenn das Theater sich nur beschränkt auf die Muster und Gewohnheiten des Publikums, dann ist es wie ein Callgirl, das man sich bestellt und sagt, ich möchte gern, dass du so und so tanzt und damit meine Lusterwartung befriedigst. Das ist etwas, was das Theater kann und oft auch bietet. Aber das ist, das Theater zu demütigen zu einer Rolle, die nicht künstlerisch ist. Ich glaube, dass Kunst erst dann entsteht, wenn es uns so etwas bewusst macht wie Wirklichkeit. Musik: Arvo Pärt: Fratres Sprecherin: Seit der Antike streitet das Theater darüber, was die politische Relevanz einer Inszenierung ausmacht. Die Aufklärung ernannte die Bühne zum Forum bürgerlicher Öffentlichkeit, allen voran preschte Schiller. Die Bühne, so erklärte er, solle zur vierten Macht im Staate werden. Er: ?Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl.? Sprecherin: Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts gründete Erwin Piscator das ?Proletarische Theater?, das sich ausschließlich an ein Arbeiterpublikum wandte. Die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne sollte aufgehoben werden, das Theater nicht nur als Spiegel der Zeit dienen, sondern als ein Mittel, die Zeit zu verändern. Erwin Piscator stellte den Lehrwert und die unmittelbare Agitation rigoros in den Mittelpunkt seines Theaters und verzichtete weitgehend auf jede unterhaltende oder vergnügliche Form, vor allem auf jeden Kunstanspruch. Er: Einfachheit im Ausdruck und Aufbau, klare eindeutige Wirkung auf das Empfinden des Arbeiterpublikums, Unterordnung jeder künstlerischen Absicht dem revolutionären Ziel, bewusste Betonung und Propagierung des Klassenkampfgedankens. Sprecherin: Sein Zeitgenosse Bertolt Brecht schloss an Piscators frühe Theaterexperimente an: Er wollte den politisch mündigen Zuschauer, der entschieden die Gesellschaft mitbestimmen sollte. Brecht setzte dabei auf Distanz und Verfremdung. Er: Je mehr wir das Publikum zum Mitgehen, Miterleben, Mitfühlen bringen, desto weniger sieht es die Zusammenhänge, desto weniger lernt es, und je mehr es zu lernen gibt, desto weniger kommt der Kunstgenuss zustande. ? Der Zuschauer sollte nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekidnappt werden; im Gegenteil sollte er in seine reale Welt eingeführt werden, mit wachen Sinnen. Musik: The Dresden Dolls: Gravity O-Ton 21: Hasko Weber: Die ganze Ausrichtung des Theaters hat sich ja bis in die Jetzt-Zeit extrem gewandelt. Es ist ja in vielen Häusern der Versuch da, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen, die dann im Spielplan spürbar werden. Oder in der Auslegung von Stücken. Wo sich das Ganze ein bisschen wegbewegt hat vom Repertoire-Verständnis. Da kann man lange darüber diskutieren, welche Reichweite das entfaltet und wie sinnvoll es im einzelnen Fall ist. Aber das Bewusstsein ist da, und das finde ich gut. O-Ton 22: Dirk Laucke: Also, Theater ist ja schon ein Kulturgut, was in den oberen Schichten stattfindet, was man sich mal gönnt, als geistiges Vergnügen oder so. O-Ton 23: Ulrich Khuon: Also, es ist ja klar, dass wir nicht alle sozialen Schichten im Theater erreichen können. Auch aufgrund der Ästhetik, aufgrund dessen, wie wir Theater erzählen. Das ist ja schon komplex oder versucht, komplex zu sein. Ist deswegen auch kompliziert und erschließt sich oft nicht gleich. O-Ton 24: Dirk Laucke: Ich glaube, diese Berührungsängste abzubauen, das ist eine Aufgabe des Theaters. O-Ton 25: Hasko Weber: Es gibt eine Kluft, und die hat mit der bürgerlichen Tradition des Theaters zu tun. Das ist auch nicht damit getan, dass man mit den Projekten an die Orte des Geschehens umzieht. Auch das hat ja alles schon stattgefunden. Auch dort versammelt sich wieder das bürgerliche Publikum. Trotzdem darf man nicht aufhören, konfliktorientiert zu denken. O-Ton 26: Dirk Laucke: Naja, ich versuch?s jetzt selber in die Hand zu nehmen mit dem Stück, was ich jetzt in meiner Heimatstadt mache. ?Silberhöhe gibt?s nich mehr? heißt das. Das mache ich am Kinder- und Jugendtheater in Halle. Da gehe ich in so ein Plattenbaugebiet, was immer schon als verrufen galt. Sprecherin: Dirk Laucke, mit seinen 25 Jahren Theatermacher der nächsten Generation, will die bestehenden Strukturen aufbrechen. O-Ton 27: Dirk Laucke: Ich meine, ich komme auch aus der Platte, aber das war dann noch was anderes, als aus diesem so genannten Ghetto zu kommen. Das war immer so Mythen behaftet, dass es da kriminell ist und dass da Reporter mit Flaschen beschmissen werden. Das findet so ähnlich statt, aber nur, weil die Reporter nicht wissen, wo sie die Kamera hinhalten können. Die können natürlich nicht da filmen, wo gerade gedealt wird. Dann ist ja klar, dass die Flaschen fliegen. Und das hat mich interessiert, woher dieser Mythos kommt und so. Und seit März letzten Jahres hänge ich halt mit so ein paar Leuten ab, und wir entwickeln ein Stück zusammen. Also, wir spielen sozusagen ihre Geschichten auf der Bühne. Musik: Sound Gladiators: City of God (Halle Silberhöhe) Sprecherin: Da gibt es Ecky, der mit seinem Kumpel Struwe und dem überdrehten Skater Dave einen Film dreht, weil er die Gettobilder auferstehen sehen will. Oder die 16jährige Jeannie, die keinen Bock auf den Gangsterkram der Jungs hat, weil der seit langem keine Rolle mehr spielt und nur noch in Hollywoodfilmen vorkommt. Sie hat andere Probleme. Sie sucht eine Lehrstelle, die sie wegen des miesen Rufs ihres Viertels nicht bekommt. Als Jeannie ein dokumentarisches Bewerbungsvideo dreht, das beim Hochladen ins Internet mit Eckys Film verwechselt wird, überschlagen sich die Ereignisse. Sprecher: In Dirk Lauckes ?Silberhöhe gibt?s nich mehr? geht es um eine Jugend ohne Sprachrohr. Die Fragen, die über sie gestellt werden, werden ohne sie gestellt. Es geht um eine Jugend, die auf ihr Konsumverhalten und ihre Bildungslosigkeit reduziert wird. Ohne Ausbildung. Ohne Arbeit. Deren Welt im Abseits der Innenstädte liegt. Deren Welt Problemviertel genannt wird. Ohne Hochkultur, gesichertes Einkommen und Universitäten. Mehr Abriss als Straßencafés. Der Stadtteil stirbt seit Jahren. Es geht um eine Jugend, bei der soziale Programme deshalb nicht greifen. O-Ton 28: Dirk Laucke: Also, die saßen da an der Skate-Bahn rum, und ich bin da vorbeigegangen und hab dann angefangen, mit denen Bier zu trinken und mich mit denen zu unterhalten. Und als ich das erste Mal zu denen gesagt habe, also, ich mache eigentlich Theater und so?n Zeug und hätte Lust, mit euch zu arbeiten, weil die für mich Charisma hatten und Lebensfreude und so? War erstmal so Unbehagen bei denen angesagt. Theater haben sie keinen Bock. Und ich hab dann gefragt, worauf sie Bock haben. Mein Angebot war, ich mach genau das mit euch, worauf ihr Bock habt. Und darüber machen wir dann ein Stück. Und ich hab gedacht, jetzt kommt sowas wie an die Ostsee fahren, mal hier raus und das ganze Zeug. Aber die haben schon Interesse an Kultur. Das sieht halt nur anders aus. Zum Beispiel Dave, der da mitmacht, der dreht seine Skate-Videos selber. Ecky, der da auch mitmacht, hat früher viel gesprüht und so, ist dann auch achtmal vorbestraft. Aber im Prinzip hat er einen extremen Kopf für das Kreative. Er ist aber auch schon lange arbeitslos. Das Problem, was ich da so sehe, ist, dass sie keinen Zugang haben zu so einer Hochkultur. Sie haben auch einfach Scheu davor. Das Ding ist einfach, dass da andere Kulturen laufen, die mich interessieren. Und ich glaube, das ist es wert, in die Hochkulturmaschine Theater zu bringen. Andersrum: Die Hochkulturmaschine Theater wieder auf den Boden zu holen. Musik: Big Calm (Soundtrack ?Hamlet?) Sprecher: Anders als Dirk Laucke hat Regisseur Volker Lösch das traditionelle Theater, den Kunstraum Bühne, bislang nicht verlassen. Und doch gelingt es ihm, in seinen stets auf Rumor bedachten Arbeiten die Wirklichkeit außerhalb des Theaters äußerst unmittelbar in das Bühnengeschehen zu integrieren und die Grenzen zwischen Kunstraum und gesellschaftlicher Realität durchlässig zu machen. O-Ton 29: Volker Lösch: Ich glaube, der zentrale Punkt bei der Sache ist, dass man den Willen haben muss, die Themen, die man bearbeitet, immer wieder ins Verhältnis zu stellen zum gesellschaftlichen Ist-Zustand. Und die Mittel, mit denen man das macht, können sehr unterschiedlich sein. Also, man kann versuchen, eine Durchmischung herzustellen über Laien, dass man sich immer wieder von außen die Energie holt und sich Leute reinholt ins Theater und nicht in diesem kleinen elitären Zirkel versucht, Dinge zu beschreiben. Weil das dann auch immer wieder elitär wird. Sprecherin: Ulrich Khuon, Intendant des Hamburger Thalia Theaters, sieht allerdings auch in seiner Arbeit für jenen ?kleinen elitären Zirkel? durchaus einen Sinn. O-Ton 30: Ulrich Khuon: Also, wir erzählen ja praktisch im Theater oft etwas über die so genannte Mitte der Gesellschaft, über die bürgerliche ? wenn es das noch gibt, ich würde sagen: ja ? über das bürgerliche Zentrum. Das in so einer gewissen Sicherheit lebt und auch davon ausgeht, dass es in ein paar Jahren auch noch gesichert ist. Was auch so einen gewissen Kodex hat, natürlich auch eine Selbstverteidigungstendenz und so weiter. Und denen etwas zu erzählen über die eigenen Abgründe, über die Fassadenhaftigkeit mancher Vorgänge, aber auch über die eigenen Ängste? Da bin ich absolut zufrieden, wenn mir das gelingt. Weil, wer sich selber gegenüber etwas offener ist, ist meistens auch nicht so hysterisch, wenn ein anderer ein paar Fragen an ihn stellt. Umgekehrt diese Mitte mal aufzuschließen gegenüber dem, was am ökonomisch gefährdeten Rand passiert, für deren Not den Blick zu schärfen? Da finde ich jetzt nicht unbedingt, dass alle Arbeitslosen im Theater sitzen müssen, um zu sagen, jetzt erfahre ich mal etwas über mich. O-Ton 31: Luk Perceval: Ich würde sagen: Politisch ist Theater ab dem Moment, wo es gelingt, den individuellen Zuschauer in seiner individuellen Verantwortlichkeit zu befragen. Dass das Theater es schafft, den, der zuguckt, bewusst macht, wie er mit sich und seiner Umgebung, mit der Gesellschaft umgeht. O-Ton 32: ?Medea?: (Chor der Frauen) Ich werde jahrelang von meinem Mann gedemütigt. Beleidigt, weil ich keine Jungfrau bin. Er findet diverse Gründe, mich zu schlagen. Seine Familie zu bedienen, ist Pflicht. (türkische Musik) O-Ton 34: Hasko Weber: Wie Volker Lösch ?Medea? inszeniert hat? Sprecher: In der griechischen Tragödie erzählt Euripides von der Königstochter Medea, die von ihrem Mann Jason verstoßen wird. Für ihn hatte sie einst ihre Heimat und die eigene Familie verlassen. Um sich nun an dem untreu gewordenen Jason furchtbar zu rächen, tötet sie ihre eigenen Kinder. Sprecherin: Die Tragödie des Euripides handelt vom Fremdsein in einer modern eingerichteten Welt. Medea ist darin eine unwillkommene Asylantin, die geduldet, aber letztlich nicht integriert wird. O-Ton 35: Hasko Weber: Volker hat mit zwanzig türkischen Frauen hier aus der Stadt einen Chor zusammengeholt. Die über weite Streckung die Position der Medea übernehmen. Die damit natürlich ihre ganze Sozialisation noch mit ins Theater bringen, und das auch auf der Bühne spürbar ist? - Damit wird natürlich der ganze antike Plot in die Jetzt-Zeit verlagert. Die emotionale Kraft, der Entfaltungswille dieser Frauen, hat etwas Befreiendes, und das ist? manchmal fast erschlagend, aber das macht auch große Lust, sich nochmal neu auf dieses Thema einzustellen. O-Ton 36: ?Medea?: (Chor der Frauen) Ohne dich, wie ich jetzt bin, muss ich das Land verlassen. Bin verbannt, bin ohne Freunde. Bin allein. Allein mit meinen Kindern. Ich, die dich gerettet hat. / (Jason) Du schraubst ja dein Verdienst gewaltig in die Höhe. Du hast durch meine Rettung mehr bekommen, als gegeben. Statt im Lande der Barbaren, wohnst du jetzt in Griechenland. Du weißt, was das heißt: Gerechtigkeit. Du weißt auch, wie man mit Gesetzen lebt. Und nicht bloß durch Gewalt. Sprecher: Volker Lösch hatte bereits 2004 in seiner Dresdner Inszenierung der ?Weber? von Gerhart Hauptmann mit einem Chor aus arbeitslosen Bürgern der Stadt für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt. O-Ton 37: Volker Lösch: Also, ich finde es eigentlich immer einen sehr inspirierenden Punkt, wenn Leute, die unmittelbar da leben, wo man etwas macht, mit in Arbeiten eingebunden werden. In welcher Form auch immer. Das ist natürlich im Chor auch leichter, weil man diese Menschen in einer gewissen Form und Professionalität auch zusammenlassen kann, ohne dass sie eine Ausbildung haben. Das ist eben das Problem. Wenn man sie alleine dann spielen lässt, individuell agieren lässt, ist es oft peinlich. Und auch nicht richtig, weil man muss sie auch schützen, weil sie das ja nicht können. Aber in Chören kann man sie sehr gut binden und kann deren Gedankenwelt sehr sprachkräftig rüberbringen. Also, das ist eine Möglichkeit. Musik: Einheit/Stein: Nintendoo Sprecherin: Gerhart Hauptmann schrieb sein Stück ?Die Weber? Ende des 19. Jahrhunderts. Er thematisierte darin den Aufstand der von ihren Arbeitgebern ausgebeuteten schlesischen Weber im Juni 1844, der letztlich mit militärischer Gewalt niedergeschlagen worden war. Das Drama von Hauptmann war damals derart brisant, das seine Aufführung von der preussischen Zensur verboten wurde, weil man in dem Stück einen Aufruf zum Klassenkampf witterte. Sprecher: Regisseur Volker Lösch wollte ?den verzweifelten wütenden Gestus des Stücks? in die heutige Zeit übertragen. Und zog eine Parallele zwischen der historischen Situation der hungernden schlesischen Weber und den Arbeitslosen und Hartz IV-Empfängern von heute. Sprecherin: Arbeitslosigkeit sei ein Gewaltakt, so zitierte Lösch den Sozialphilosophen Oskar Negt. Sprecher: Und forderte seinen Chor der Arbeitslosen auf, sich auf der Bühne öffentlich Luft zu machen, dem Publikum seinen Hass und seine Verzweiflung entgegenzubrüllen. Sprecherin: Die Ausbrüche des Volkszorns waren deftig, aber authentisch. Sprecher: Vom ?Verräterschwein Schröder? war die Rede, von Sachsens Ministerpräsidenten Milbradt, der ?blöden Sau?. Sprecherin: Der Chor forderte, alle verantwortlichen Politiker einzubuddeln, anzupissen, zuzuscheißen. O-Ton 38: Volker Lösch: Indem man einfach Sätze, die man so von einem Einzelnen gar nicht mehr hören möchte, vervielfältigt, vergrößert, kriegt das eine ganz andere Dimension. Und man hört diesen Sachen wieder anders zu. Man stellt auch andere Kraftfelder auf zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiven. Es gibt ja eine so ein bisschen vereinfachende These, die sagt, das bürgerliche Theater hat aus seiner Logik heraus den Chor, der aus der Antike kommt, verdammt irgendwann mal. Weil sich das bürgerliche Theater letztlich nur um das Individuum gekümmert hat, um die Nöte und Seelennöte des Individuums. Und ich glaube, das ist logisch, dass es in den letzten zehn Jahren ganz vermehrt auch wieder das Bedürfnis gibt, mit der Masse etwas auszudrücken. Oder die ins Verhältnis zu stellen zum Einzelnen, der sich daran abarbeiten muss. Das ist eigentlich auch eine ganz nachvollziehbare Sache, wenn man das antike Theater kennt, weil das ist eigentlich immer der Standpunkt des Bürgers gewesen. Sprecherin: Es kam zum öffentlichen Skandal, der durch die Medien ? allen voran die BILD-Zeitung ? heftig geschürt wurde. Die Staatsanwaltschaft prüfte den ?Verdacht der Volksverhetzung?; die Aufführung wurde vorübergehend verboten. Doch Volker Lösch lehnte jede Änderung der Inszenierung ab. ?Die Stammtisch-Sätze?, so erklärte er, ?seien kein Statement des Theaters, sondern Ausdruck emotionaler Erregung Betroffener?. O-Ton 39: Volker Lösch: Ich glaube, der Skandal war einfach der, dass man es von verschiedenen Seiten als anrüchig empfunden hat, dass die Wut von Leuten, die ohne Arbeitsperspektive leben, dass diese Leute sich so unmittelbar äußern. Und das alles eingebunden in das wahrscheinlich revolutionärste deutsche Stück, das jemals geschrieben wurde, nämlich ?Die Weber? von Gerhart Hauptmann. Das war im Publikum eher so, dass die Menschen, die da drin waren, sich sehr stark mit den Leuten identifiziert haben. Weil es waren ja Leute aus der Stadt, und es war das Stadtthema. Und es war ein wirklich beglückender Vorgang, dass danach fast alle geblieben sind zum Publikumsgespräch. Die gesagt haben, das ist endlich wieder so, dass man das Gefühl hat, dass Leute sich an einem bestimmten Ort in der Stadt treffen und über Themen reden, streiten, debattieren, die sie unmittelbar betreffen. Also, das Theater als politisches Forum. Im Sinne des Sich-aufladens über bestimmte Themen und des Weitertragens dieser Themen in die Realität. Und das ist ein Glücksfall, wenn so etwas passiert, finde ich. Er: Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu ändern vermag. Sprecherin: Bertolt Brecht. Musik: The Dresden Dolls: Gravity O-Ton 40: Volker Lösch: Und muss dann natürlich auch die Möglichkeit haben, mit Fremdtexten zu arbeiten. Wenn man es braucht. Dieses Material aufladen mit Gegenwart, ob das Fremdtexte sind, ob das noch andere literarische Texte sind, O-Töne sind von irgendwelchen Leuten, ob das Lieder sind, ob?s Zeitungsartikel sind? Keine Ahnung. Das ist etwas, das dazugehört. Deswegen extrem unverständlich für mich die Haltung von Verlagen, wie zum Beispiel den, der die Brecht-Stücke vertritt. Man würde sich in so einem Fall wünschen, dass der nochmal für einen Tag aus seinem Grab herauskäme und die mal alle dahin verweisen würde, wo sie hingehören, nämlich auf die Plätze. Das kann doch gar nicht im Sinne von Brecht sein, dass man seine Stücke hütet wie Museumsreliquien. Und darauf besteht, dass sie Wort für Wort nachgespielt werden. Dass heißt ja nicht, dass man sie kaputt macht, sondern man lädt sie auf mit Gegenwart. O-Ton 41: Luk Perceval: Politiker erwarten nur noch, dass das Theater Erfolg hat und eine hohe Anzahl Zuschauer. Dann ist es gut. Kritiker richten sich meist darauf: Was erzählt das Bühnenbild, und was ist die Haltung des Regisseurs. Es geht also meistens nur um das, was man wahrnehmen kann, messen kann. Nicht um das, was man erfahren kann. Als ob das nicht wichtig wäre. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Wir gehen ins Theater, weil wir süchtig sind nach einer Form von Solidarität. Lasst uns ehrlich sein: Wann sind wir begeistert im Theater? Wenn es unser Herz trifft, etwas tut mit unseren Emotionen. Und darüber haben wir nicht gelernt zu reden. Im Gegenteil: Das ist für manche Leute beschämend. Es steht heute viel besser, zynisch zu reden. Aber das hat viel zu tun mit dem Klima, in dem wir leben. Das nur noch über Zahlen redet, aber nicht mehr über das, wofür wir eigentlich Kunst brauchen: unsere Emotionen. Damit wir auch fühlen können und dürfen. O-Ton 42: Volker Lösch: Wenn die Theater es nicht schaffen, öffentliches Forum zu werden, dann müssen sie glaube ich zumachen. Weil die jüngere Klientel, die in den Theatern nun ja auch zunehmend sein muss, um die überhaupt zu füllen, wird sich nicht damit begnügen, irgendwelche Stoffe abgehandelt zu sehen, die zum so genannten Bildungsbürger-Kanon gehören. Das interessiert die gar nicht mehr. Die wissen nicht, was Clavigo ist, und die wollen das auch nicht sehen. Clavigo von Goethe. Es sei denn, da ist irgendwas dabei, was das Ganze im Sinne ihres Lebens thematisiert und auflädt. Und das ist auch eine gute Entwicklung, dass es so kommt, weil das passiert zu oft, finde ich, dass die Dinge, die man im Theater sieht, komplett an dem vorbeigehen, was draußen stattfindet. Sprecher: Und das, was draußen stattfindet, steht längst in Konkurrenz zum Kunstraum Bühne. Sprecherin: Theatrale Inszenierungen prägen die Alltagsrealität unserer Gesellschaft. Alle Bereiche - Kultur, Politik, Sport, Religion - werden für und durch die Medien inszeniert. Erst als Event werden sie relevant. O-Ton 43: Ulrich Khuon: Das ist ja inzwischen so, dass jeder Millimeter abgesucht wird durch mediale Beobachtung. Insofern gibt es kaum noch Räume, wo man unbeobachtet seiner Arbeit nachgehen kann. Das hat Vor- und Nachteile. Es hat den Nachteile, dass natürlich die Tendenz dazu wächst, alles zu inszenieren. Weil man beobachtet wird. O-Ton 44: Hasko Weber: Jedes Kaufhaus, das ein Konzept hat, wie es an seine Kunden herantritt, arbeitet mit extremer Verstellung und Verkleidung. Also: Wie sehen die Verkäuferinnen aus, wie verhalten die sich? Das sind große Inszenierungen, die stattfinden und die natürlich das Theatralische, was die Bühne lange Zeit für sich in Anspruch nehmen konnte als authentisches Erlebnis, in gewisser Weise auch auffressen. Wir haben es mit einem Publikum zu tun, was schon so an theatrale Vorgänge gewöhnt ist, dass das, was auf der Bühne passiert, sogar noch ein Stück besonderer sein muss, um überhaupt durch diese Erfahrung durchzudringen. Musik: The Dresden Dolls: Gravity / György Ligeti: Cordes à vide Sprecher: ?Das Theater muss wieder eine moralische Anstalt werden?, meinte die Regisseurin Andrea Breth auf einer Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zur Frage: ?Wohin treibt das Theater?? Sie: Das Theater muss wieder eine moralische Anstalt werden. Es muss Haltung zeigen gegen die Beliebigkeit, es muss sich angreifbar machen durch Entschiedenheit. Moral meint nicht die Überheblichkeit der Theaterschaffenden, die so leicht glauben, auf der richtigen Seite zu stehen, die Avantgarde der Gesellschaft zu sein. Moral ist nicht billig zu haben. Moral meint das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft zu denken, zu formen. Moral meint, sich einzumischen, einzusetzen, angreifbar zu machen. Moral heißt sich erinnern, das Theater als Gedächtnis zu begreifen für das Verlorene und das Wiederzufindende. Sprecherin: Zwei Jahrhunderte zuvor schrieb Friedrich Schiller über die ?Schaubühne als moralische Anstalt?? Er: Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze. Musik: Niels Wilhelm Gade: Echoes of Ossian O-Ton 45: Ulrich Khuon: Wenn es eine moralische Anstalt nicht im Sinne des Moralisierens, sondern des Anstößegebens, über Moral nachzudenken oder über Werte nachzudenken oder auch nachzudenken, von welcher Moral wir reden und welche wir praktizieren oder ob wir es schon aufgegeben haben, über Moral zu reden, oder welche Menschen über Moral reden und dann das Gegenteil tun? Also dieses ganze komplizierte und verlogene Feld zwischen Denken, Reden und Handeln mal zu durchpflügen? Dann würde mir der Begriff moralische Anstalt schon sehr zusagen. Musik: Primal Scream: Slip Inside This House Verwendete fremde O-Töne: 1?06 aus: Gerhard Bienert, Schauspieler, aus: Archiv-Nr. 27985 ? Erstsendung: 19.12.1988/DFF: Verzeiht, dass ich ein Mensch bin ? Dokumentarfilm von Lew Hohmann über Friedrich Wolf. 1?11 aus: ?Cyankali?, Schauspiel von Friedrich Wolf, Szenen aus: ID-Nr. 12047 ? Erstsendung: 15.11.77/DDR1: Cyankali ? Schauspiel von Friedrich Wolf Verwendete Zitate: Seite 304, 28 Zeilen / Seite 457, 12 Zeilen / Seite 462, 5 Zeilen - aus dem Roman: ?The Cocka Hola Company? von Matias Faldbakken; übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel; Heyne Verlag, München 2005. 1?30 aus dem Theaterstück ?alter ford escort dunkelblau? von Dirk Laucke; Kiepenheuer Bühnenvertrieb, Berlin. Verwendete Musik: ?Friedhofsmauer?; aus: ?Einheit/Stein?; Komponist & Interpret: FM Einheit / Stein; Rough Trade, LC-Nr. 5661 ?Analyse?; aus: The Eraser; Komponist & Interpret: Thom Yorke; XL Recordings, LC-Nr. keine, Ind.-Nr. XLCD200 ?Videotape?; aus: In Rainbows; Komponist & Interpret: Radiohead; XL Recordings, LC-Nr. keine, Ind.-Nr. XLCD200 ?Indoktrination?; aus: Commissioned Music, Komponist & Interpret: Blixa Bargeld; Potomak Records, LC-Nr. 07149 ?Girl Anachronism?; aus: The Dresden Dolls; Komponist & Interpret: The Dresden Dolls; 8ft Records, LC-Nr. 09231 ?Lange Szene?; aus: Commissioned Music, Komponist & Interpret: Blixa Bargeld; Potomak Records, LC-Nr. 07149 ?Black Swan?; aus: The Eraser; Komponist & Interpret: Thom Yorke; XL Recordings, LC-Nr. keine, Ind.-Nr. XLCD200 ?Fratres?; aus: Tabula Rasa; Komponist: Arvo Pärt; Interpret: The 12 Cellists of the Berlin Philharmonic Orchestra; ECM Records, LC-Nr. 2516 ?Gravity?; aus: The Dresden Dolls; Komponist & Interpret: The Dresden Dolls; 8ft Records, LC-Nr. 09231 ?Big Calm?; aus: Hamlet ? Soundtrack; Rykodisc, LC-Nr. keine, Ind.-Nr. RCD 10496 ?Nintendoo?; aus: ?Königzucker?; Komponist & Interpret: FM Einheit / Stein; Rough Trade, LC-Nr. 5661 ?Cordes à vide?; aus: Ligeti: Works for Piano; Komponist: György Ligeti, Interpret: Pierre-Laurent Aimard; Sony, SK-62308, ohne LC-Nr. ?Echoes of Ossian?; aus: Hamlet ? Soundtrack; Komponist: Niels Wilhelm Gade; Rykodisc, LC-Nr. keine, Ind.-Nr. RCD 10496 ?Slip Inside This House?; aus: Hamlet ? Soundtrack; Rykodisc, LC-Nr. keine, Ind.-Nr. RCD 10496 Pressetext: Mummenschanz & Klassenkampf Spielt Theater noch eine Rolle? Mit seinem Agitationsstück ?Cyankali" sorgte Friedrich Wolf 1929 im Berliner Lessing-Theater für einen Skandalerfolg. Als Familientragödie à la Schillers ?Kabale und Liebe" thematisierte Wolf, selbst hauptberuflich Arzt, die Problematik um den § 218. Die Aufführung führte zu seiner Verhaftung, und Erich Kästner schrieb in der Neuen Leipziger Zeitung: ?Das Theater vermag es also, die Gesetzgebung und die innere Politik zu beeinflussen." Friedrich Schiller propagierte das Theater als ?moralische Anstalt". Bert Brecht errichtete mit seinen Stücken eine Denkwerkstatt für den Klassenkampf. Theater hat noch nie unter Ausschluss der Zeit stattgefunden, in der es aufgeführt wird. Kann die Bühnenkunst heute noch Schlagzeilen machen, die Gemüter erhitzen und Diskussionen anzetteln? Ulrich Khuon, Intendant des Hamburger Thalia Theaters will mit seinen Inszenierungen das Publikum verstören, ihm neue Sichtweisen eröffnen. Hasko Weber gab hierfür jüngst im Schauspiel Stuttgart ein Beispiel mit ?Endstation Stammheim", einer Annäherung an den Mythos RAF. Der Regisseur Luk Perceval hingegen meint, das Theater werde hierzulande immer noch viel zu sehr als didaktisches Instrument gesehen. Der 25jährige Dirk Laucke, gefeierter Nachwuchs-Dramatiker des Jahres, sucht deshalb nach neuen Wegen: wieder näher am Menschen, näher an der Welt. Wolf Eismann ? Mummenschanz & Klassenkampf - Seite 1