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Musik 1 hoch Atmo Schritte auf Treppe, evt. klingeln (Archiv) Sprecherin 1 Im Herbst 1996 bringt eine Frau einen Koffer zum IMEC. Das Pariser Institut Mémoire de l?Édition Contémporaine ist das französische Archiv für Literatur des 20. Jahrhunderts. Die ältere Dame heißt Denise Epstein, und in dem Koffer befinden sich Briefe ihrer Mutter, der Schriftstellerin Irène Némirovsky, sowie ein Manuskript, das wenige Jahre später veröffentlicht und für großes Aufsehen sorgen wird. Sprecher 1, O-T, Corpet (Übersetzung) Es ist ein sehr schönes Manuskript mit einer winzigen Schrift, fast unleserlich, eine blaue Schrift auf einem gelblichen Papier; ja, es ist ein spektakuläres Manuskript. Sprecherin 1 Als Olivier Corpet, Direktor des französischen Literaturarchivs IMEC, das Romanmanuskript in den Händen hält, ahnt er, dass es etwas Besonderes ist. Sprecherin 1 Denise Epstein und ihre inzwischen verstorbene Schwester, die Verlegerin Elisabeth Gille, hielten das, was im Jahr 2004 als ?Suite Francaise? eine literarische Sensation werden sollte, über ein halbes Jahrhundert zurück. Denn das Manuskript war das letzte schriftliche Zeugnis ihrer viel zu früh gestorbenen Mutter, ihr Vermächtnis, das sie ihren Kindern 1942, kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz, hinterlassen hatte. Sprecherin 2, O-T Epstein (Übersetzung) Das Manuskript ließ ich lange in der Schublade. Aber eines Tages habe ich es dann doch herausgeholt und versucht, es zu lesen. Das war schwierig. Meine Mutter hatte die Seiten ja während des Krieges geschrieben, immer in der Sorge, dass ihr Tinte und Papier ausgehen könnten. Deshalb schrieb sie winzig klein. Ich musste eine Lupe kaufen, um es zu entziffern. Ja, manchmal war das sehr schmerzlich. Sprecherin 1 Die eng beschriebenen Seiten lassen vermuten, dass die 39jährige Irène Némirovsky ihr letztes Werk in großer Eile geschrieben hatte. Sie ahnte, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde und schrieb im Juli 1942: Sprecherin 3 (Zitat) ?Ich denke, es wird ein posthumes Werk werden.? Musik CD Bratsch, écoute ca chérie Track 15 Sprecherin 1 Irène Némirowsky wird 1903 in Kiew geboren und wächst in St. Petersburg auf. Die Familie verbringt die Ferien meist in Frankreich. Der Vater Leonid, ein vermögender Bankier, ist häufig auf Reisen. Die Mutter Anna beschäftigt sich mit ihrem Aussehen und ihren wechselnden Liebhabern. Für Irotschka, wie die Tochter genannt wird, haben die Eltern keine Zeit. Das heranwachsende Mädchen ist der Mutter zudem ein Dorn im Auge, eine Bedrohung, eine ständige Konfrontation mit dem eigenen Älterwerden, so Olivier Philipponnat, Verfasser einer Biographie über Irène Némirovsky. Sprecher 1, O-T Philipponat (Übersetzung) Die Mutter machte sich zehn bis fünfzehn Jahre jünger als sie tatsächlich war. Sie war eine sehr eitle Frau, und ich glaube, sie hat ihr ganzes Leben bedauert, dass sie eine Tochter bekommen hatte. Sie hatte nur ein Kind, eben Irène, und sie wollte niemals Großmutter werden, weil das Aufschluss über ihr Alter gegeben hätte. Als Irène dann zwei Töchter bekam, verhielt sie sich ihnen gegenüber wirklich grausam. Denise Epstein hat erzählt, dass sie nach dem Krieg mit ihrer Gouvernante zur Großmutter gingen und um eine Unterstützung baten. Aber sie hat sie einfach vor die Tür gesetzt und gesagt: Ich habe keine Enkel. Irène Némirovsky hat den Charakter ihrer Mutter immer wieder in ihrem Werk verarbeitet. Musik CD Harmonia Mundi, Schubert, Track 8 Sprecherin 1 In ihrer Erzählung ?Der Ball? schildert Irène Némirovsky die Rache einer ungeliebten Vierzehnjährigen an ihren gefühlskalten Eltern. Dank eines Börsengewinns plötzlich zu Geld gekommen, möchten diese für die feine Gesellschaft von Paris einen Ball geben. Antoinette, die Tochter, ist begeistert. Aber die Mutter verbietet ihr die Teilnahme. Die Halbwüchsige ist ihr im Weg. Das Mädchen ist außer sich und lenkt, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Geschicke in eine dramatische Richtung. Ihre Mutter ist verzweifelt. Musik CD Harmonia Mundi, Schubert, Track 8, kurz hoch Sprecherin 3 (Zitat) ?Sie sah das Gesicht ihrer Mutter, auf dem die Schminke unter den Tränen verlief, ein zerknittertes, verzerrtes, gerötetes Gesicht, kindlich, und komisch? rührend. Aber Antoinette war nicht gerührt, sie empfand nichts als eine Art Verachtung, eine herablassende Gleichgültigkeit. Eines Tages würde sie zu einem Mann sagen: ?Oh, ich war ein schreckliches kleines Mädchen, wissen Sie? Stellen Sie sich vor, einmal habe ich ?.? Plötzlich fühlte sie den ganzen Reichtum ihrer Zukunft, ihrer unverbrauchten jugendlichen Kraft?.? (Übersetzung: Claudia Kalscheuer) Sprecherin 1 Schildert Irène Némirovsky den Mutter -Tochter Konflikt in ?Der Ball? aus der Perspektive der heranwachsenden Tochter, so versetzt sie sich in dem Roman ?Jesabel? in die Figur der Mutter. Gladys Eysenach, eine kultivierte vermögende ältere Dame, ist angeklagt, einen jungen Mann ermordet zu haben. Ihren Liebhaber? In einer langen Rückblende erzählt die Autorin, wie es zu diesem Mord kommen konnte. Die Protagonistin weigert sich, ihren Alterungsprozess anzunehmen. Ihr gefährlichster Feind ist die Jugend der anderen. Sprecherin 3 (Zitat) ?Sie musste schön sein, und um fünf Uhr morgens sah man zwischen frischen schönen Mädchen weder die unter der Schminke erscheinenden Falten noch diese Totenmaske, wie die geschminkten alten Frauen sie haben. Sich keinen einzigen Augenblick der Entspannung oder Ermattung gönnen. Sich niemals als Schwächere bekennen. Tanzen, trinken, weitertanzen. Einen Körper und Beine, die sechzig Jahre alt sind, dazu zwingen, weder Krankheit noch Müdigkeit zu kennen. Einen nackten, glatten, ockerfarbenen, gepuderten, seidigen Rücken gerade halten, obwohl jeder seiner Muskeln schmerzte wie eine Wunde. Nicht frösteln in der eisigen Zugluft, die zwischen der Tür und dem offenen Fenster herrschte.? (Übersetzung: Eva Moldenhauer) Musik Les Atrides, Track 2 Sprecherin 1 Ihr Leben sei wie ein Roman, hat Irène Némirovsky einmal gesagt. Vieles, worüber sie schreibt, hat sie - literarisch verdichtet - in ihrem direkten Umfeld selbst erlebt oder beobachtet. Dennoch darf man ihre Romane und Erzählungen nicht biographisch lesen. Sie speisen sich zwar aus ihrer Lebensgeschichte, gehen aber, wie jede gute Literatur, weit darüber hinaus. Die Autorin arbeitet mit Leitmotiven, die sich durch ihr ganzes Werk ziehen: der Mutter-Tochter Konflikt, das Judentum oder das Exil. Das Exil hat sie selbst kennengelernt: 1917, in den Wirren der russischen Revolution, flieht die Familie Némirovsky von St. Petersburg nach Paris. Der Vater rettet einen Teil seines Vermögens, und die Némirovskys führen bald ein privilegiertes Leben in der französischen Hauptstadt. Tanzmusik CD Josephine Baker, Track 4 Anfang instrumental bis 0.40 Oder Charles Trenet, CD 3 Track 1 Anfang instrumental bis 0.40 oder Track 21 mit Gesang oder andere Musik! Sprecherin 1 Paris, Paris! Irène, die schon von Kindheit an französisch spricht, liebt diese Stadt. Sie genießt ihre Jugend, führt in den zwanziger Jahren ein sorgenfreies Leben, lacht gern und viel, trinkt, raucht, tanzt, feiert die Nächte durch. 1925 lernt sie Michel Epstein kennen und schreibt an eine Freundin: Sprecherin 3 (Zitat) ?Vielleicht erinnern Sie sich an Michel Epstein, einen kleinen, dunkelhaarigen Mann mit gebräuntem Teint. Er macht mir den Hof ? und er gefällt mir.? Sprecherin 1 Der 28jährige stammt ebenfalls aus einer jüdisch-russischen Familie und aus großbürgerlichen Verhältnissen. Das passt. Die beiden heiraten ein Jahr später. Michel arbeitet in einer Bank, Irène verfolgt ihr Literaturstudium an der Sorbonne weiter. Evt. Musik CD Les Atrides Track 12 Sprecherin 1 Schon als Jugendliche hatte sie Gedichte und Erzählungen geschrieben. Seit 1926 arbeitet sie an einem Roman: ?David Golder?. Der gleichnamige Protagonist ist ein Mann der jüdischen Finanzwelt. Die Macht des Geldes bedeutet ihm alles. Aber während eines Ferienaufenthaltes an der Cote d'Azur erlebt er, wie sein Vermögen und sein Einfluss schwinden. Es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise. David Golder ist zwar ein skrupelloser Geschäftmann - ein beliebter Topos in der französischen Literatur der 1920er Jahre, - aber auch ein bemitleidenswerter Mensch, einsam, wie fast alle Figuren in Irène Némirovskys Werk. Frau und Tochter sehen in ihm lediglich eine ?Maschine zum Geldmachen? und nützen ihn schamlos aus. Gestalten ohne Moral, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Mit schonungsloser Genauigkeit hat Irène Némirovsky den Prozess einer gewaltigen Desillusionierung beschrieben. Sie demaskiert, so Olivier Philipponnat, eine Welt, die ihr vertraut ist. Sprecher 1, O-T, Philipponat (Übersetzung) Es kommt sehr selten vor, dass ihre Romanfiguren fiktional sind. Meistens stammen sie aus ihrem Umfeld. Die Figur des David Golder beispielsweise trägt Züge ihres Vaters Leonid Némirovsky. Die Vorarbeiten zu ihren Romanen sind faszinierend und bei einigen sogar zehnmal so umfangreich, wie das Werk hinterher selbst. Manchmal sind sie sogar spannender. Zum Beispiel, wenn sie Biographien von Emigranten notiert, die über die Krim, Griechenland oder Konstantinopel, über New York bis Paris kommen. Im Roman bleibt davon dann nicht mehr viel übrig. Sprecherin 1 1929 hat sie ?David Golder? abgeschlossen und schickt das Manuskript an den Verleger Bernard Grasset ? postlagernd und ohne Absender! Kurz darauf bringt sie ihre Tochter Denise zur Welt. Als Bernard Grasset das Manuskript liest, ist er davon überzeugt: Nur ein Mann kann diese brutale Geschichte aus der jüdischen Geschäftswelt geschrieben haben. Vor allem die genauen Kenntnisse der Börsenvorgänge lassen ihn zu diesem Schluss kommen. Aber wer hat ihm den Roman geschickt? Er gibt eine Zeitungsannonce auf und bittet den Verfasser, sich zu melden. Als dann eine junge, etwas schüchterne Frau bei ihm auftaucht, ist er überrascht. Aber Bernard Grasset beherrscht wie kein zweiter die Mechanismen des Verlagsgeschäfts und ist ein Meister der Vermarktung. Er schlägt der 26jährigen Irène Némirovsky vor, sich als noch jünger auszugeben. Das sei äußerst publikumswirksam, versichert er. Quasi über Nacht wird die junge Frau zu einem Star der Pariser Literaturszene. Die Kritik feiert ?David Golder? als Meisterwerk und vergleicht die Autorin mit Balzac. Evt. Musik CD Blüthner, Meisterpianisten Glinka Track 12, oder Rachmaninow, Track 6 Sprecherin 1 Irène Némirovskys Werk bezieht seine Spannung auch aus den Gegensätzen zwischen Frankreich und Russland. Ein wiederkehrender Typus sind Ostjuden, die im Westen zu Wohlstand gekommen sind, wie ?David Golder?. Überhaupt ist das Geld ein beherrschendes Motiv in ihrem Werk. Eine ihrer Erzählungen beginnt gar mit dem Ausruf: ?Ich brauche Geld?. Sympathisch sind diese nervösen und unruhigen Charaktere mit knochigen Fingern, gekrümmten Nasen, stechendem Blick und gelblicher Haut keineswegs. Irène Némirovsky spart nicht mit stereotypen Attributen. Kein Wunder, dass ihr vorgeworfen wurde, ihre Romane seien antisemitisch, und sie eine jüdische Selbsthasserin. Ob sie sich dessen bewusst war? In den dreißiger Jahren erklärte sie: Hätte sie den Aufstieg Hitlers vorausgesehen, hätte sie in ?David Golder? die jüdischen Figuren nicht so drastisch beschrieben. Sie schildere vor allem ihr Umfeld, und das sei nun einmal die jüdische Geschäftswelt. Ihre Kritik richtet sich gegen eine Großbourgeoisie, die sich von humanistischem Denken und von gesellschaftlicher Verantwortung verabschiedet hat. Aber die antisemitischen Vorwürfe haben sich bis heute hartnäckig gehalten. Zu Unrecht, findet der Pariser Verleger Olivier Rubinstein. Sprecher 1, O-T Rubinstein (Übersetzung) Man muss sich klarmachen, dass man Irène Némirovsky heute, über sechzig Jahre nach der Shoa, anders liest. Ihre Texte sind vor der Shoa entstanden, das darf man nicht vergessen. Man darf sie auf keinen Fall als antisemitische Autorin bezeichnen. Denn alles in ihrer privaten Korrespondenz wie auch Aussagen von anderen zeigen, dass sie nie ihr Judentum abgelehnt hat, auch wenn sie es nicht praktiziert hat. Außerdem wurde sie, eben weil sie Jüdin war, verhaftet und deportiert. Sprecherin 1 Das Schreiben wird zu Irène Némirovskys Lebensinhalt. Von den literarischen Strömungen der Moderne wie dem Surrealismus bleibt sie allerdings weitgehend unbeeinflusst. Hingegen interessiert sie sich zunehmend für den Film und schreibt auch Drehbücher. Ihre späteren Romane sind von einer ?filmischen Schreibweise? geprägt: schneller Rhythmus, harte Schnitte, Rückblenden, Montagetechnik. Im September 1932 stirbt ihr Vater Leonid Némirovsky. Da er kein Testament hinterlässt, erbt seine Frau Anna das Vermögen. Die Tochter geht leer aus. Der Verdienst ihres Mannes reicht nicht aus, und Irène muss fortan zum Lebensunterhalt beitragen ? durch ihr Schreiben. Sprecher 1, OT Philipponat (Übersetzung) Sie musste sehr, sehr viel arbeiten und publizierte ständig in Zeitschriften, um den Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Sie war sehr stolz, Schriftstellerin zu sein, wichtig für die französische Literatur. Natürlich war sie Russin, und viele ihrer Themen sind russisch, aber sie verstand sich als Französin. Wenn man sie danach fragte, sagte sie: Ich habe immer französisch gesprochen, ich wurde von einer französischen Gouvernante erzogen, ich kam als Kind regelmäßig nach Frankreich, ich träume auf französisch, ich bin eine französische Schriftstellerin. Sprecherin 1 Sechzehn Romane hat Irène Némirovksy in den Jahren zwischen 1929 und 1942 geschrieben, zahlreiche Erzählungen und Aufsätze sowie eine Biographie über Tschechow. Sie wurde ein Star der französischen Literaturszene (und gab zahlreiche Interviews, darunter 1930 auch dieses im französischen Rundfunk. Darin spricht sie über ein Paar aus einem ihrer Romane. OT 10 - Irène Némirovsky, auf Französisch stehenlassen) Musik CD Maurice Ravel, Orchesterwerke, Track 5 Sprecherin 1 Das Exil ? das ist bei Irène Némirovsky immer nur ein einziger Ort: Paris. Die französische Hauptstadt als Trost für den Verlust der Heimat ? so hatte sie es anfangs selbst erlebt. Das gilt auch für den vermögenden Harry und seine arme Cousine Ada, Protagonisten des 1940 verfassten Romans ?Die Hunde und die Wölfe?. Die russische Revolution und der erste Weltkrieg haben die beiden unabhängig voneinander in die französische Hauptstadt gespült. Mühsam sucht jeder dort seinen Platz. Ada, inzwischen mit ihrem Vetter Ben verheiratet, verdient als Malerin notdürftig ihren Lebensunterhalt. Harry ist es zwar gelungen, in die französische Bourgeoisie einzuheiraten, doch sein Schwiegervater bleibt misstrauisch. Sprecherin 3 (Zitat) ?Eine solche Heirat war nicht wünschenswert? In seiner Familie heiratete, akzeptierte man keine Fremden. Nein, das war vermutlich ein zu hoffärtig. In Wahrheit traf er in Gedanken eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Fremden, Ein Angelsachse, ein Südländer mochte ja noch angehen...Er war nicht fremdenfeindlich, nein, aber ? alles, was aus dem Osten kam, flößte ihm unüberwindliches Misstrauen ein. Slawe, Levantiner, Jude ? er wusste nicht, welches dieser Wörter ihn mehr abstieß. Nichts war hier klar, nichts sicher.? (Übersetzung: Eva Moldenhauer) Sprecherin 1 In Paris begegnen sich Ada und Harry wieder. Ada ahnt, dass er nicht glücklich ist. Als Harry in einer Buchhandlung zwei Gemälde von Ada entdeckt, ist er davon tief berührt. Erinnerungen an das Leben in Russland werden wach. Er sucht Ada auf, und beide spüren, dass sie füreinander bestimmt sind. Harry will sich von seiner Frau trennen. Aber ihre Liebe hat keine Chance, und Ada muss eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Musik CD Le dernier Caravanserail Track 7 Sprecherin 1 Ein neuer Krieg braut sich über Europa zusammen. Iréne Némirovsky und Michel Epstein sind als Emigranten ohne französischen Pass bald Repressalien ausgesetzt. Die französische Staatsangehörigkeit wird ihnen verwehrt. Als sich die antisemitische Stimmung verschärft, konvertiert die Familie 1939 zum Katholizismus ? eine reine Schutzmaßnahme, die aber nicht ausreicht. Über zwanzig Jahre nach ihrer Flucht aus Russland muss Irène Némirovsky mit ihrer Familie schließlich das geliebte Paris verlassen. Die Deutschen besetzen im Juni 1940 die französische Hauptstadt. Als die Demarkationslinie gezogen wird, lässt sich die Familie sich in Issy l?Évêque nieder, einem kleinen Ort im Burgund. Sprecherin 2, O-T, Epstein (Übersetzung) Auch in Issy-l?Eveque schrieb sie sehr viel. Sie ging morgens früh los, ließ sich irgendwo in der Landschaft nieder und schrieb. Ich habe sogar Briefe von Leuten aus der Gegend, die sich daran erinnern, wie meine Mutter vorbeigekommen ist, immer mit ihrem großen Heft unterm Arm. Sie schrieb in einem kleinen Wäldchen, das ich später wieder aufgesucht habe. Sprecherin 1 erinnert sich Denise Epstein in einem Interview im französischen Radio France Culture. In den 1 1/2 Jahren des Exils schreibt Irène Némirovsky den Roman ?Feuer im Herbst? und arbeitet vor allem an ihrem groß angelegten Werk: ?Suite Francaise?. Die Autorin bezeichnete diesen Roman als ihr wichtigstes Werk. Fünf Teile hatte sie geplant, aber nur zwei hat sie schreiben können. Sprecher 1, O-T 12 Wort, Oliv. Suite 1.13 Seit sie aus Russland gekommen war, hat sie ihrem Tagebuch immer wieder anvertraut, dass sie eines Tages einen großen Roman über das Exil und die russische Revolution schreiben würde. Aber sie hatte nicht genug Erinnerungen daran. 1938 bedauerte sie in der französischen Zeitung ?Le Figaro?, dass sie dazu nur wenig aus eigenem Erleben sagen konnte. Sie war damals erst 14 Jahre alt. 1940, unter der Besatzung, hat sie den Eindruck, erneut vor einem historischen Moment zu stehen. Diesmal erlebt sie ihn bewusst mit und schreibt sofort darüber. In ihrem Tagebuch vermerkt sie: ?Ich schreibe auf glühender Lava. Tolstoi schrieb fünfzig Jahre später. Ich aber schreibe jetzt. Ich weiß nicht, ob ich überleben werde, deshalb muss ich den Roman jetzt schreiben?. Das erklärt das unterschiedliche Vorgehen. Denn die Romane, die sie bis dahin geschrieben hatte, sind eine Art Familiensaga, die ?Suite Francaise? aber ist brandheiße Aktualität. Musik CD Zeitloser Genuß, Bach, Track 4 Cellosuite geht evt. über in Sirene (Archiv) Sprecherin 3 (Zitat) ?Warm, dachten die Pariser. Frühlingsluft. Es war Nacht im Krieg, Alarm. Aber die Nacht vergeht, der Krieg ist weit. Alle, die nicht schliefen, die Kranken in ihrem Bett, die Mütter, deren Söhne an der Front waren, die liebenden Frauen mit ihren tränenwelken Augen hörten den ersten Atemzug der Sirene.? (Übersetzung: Eva Moldenhauer) Musik CD Zeitloser Genuß, Bach, Track 4 Cellosuite hoch Sprecherin 1 Sommer 1940 ? die Deutschen stehen vor Paris. Panikartig verlassen die Bewohner die Stadt: überfüllte Bahnhöfe, verstopfte Straßen, Chaos. ?Sturm im Juni? heißt der erste Teil des großartigen Romans ?Suite Francaise?. In ?Dolce?, dem zweiten Teil, schildert die Autorin ein französisches Dorf unter deutscher Besatzung: fliehende Soldaten, Verwundete, soziale Spannungen ? nach und nach nimmt der Feind ein gelähmtes Land in Besitz. Die Überschriften der geplanten anderen Teile erfährt man aus Irène Némirovskys Tagebuch: ?Gefangenschaft?, ?Schlachten? und ?Frieden?. Die Themen und authentischen Vorbilder für die Figuren in ?Suite Francaise? hat Iréne Némirovsky in Issy l?Éveque gefunden. All die Kriegsgewinnler, bigotten Großbürger, Künstler, Bauern, Flittchen oder eifersüchtigen Ehemänner, all die Péricands, Michauds oder Cortes sind der unmittelbaren Wirklichkeit nachempfunden. Ein Land in Auflösung: Da verpackt ein gewisser Monsieur Langlet in Paris besorgt seine kostbaren Nanking-Tässchen, Sévres Vasen und Wedgewood Tafelaufsätze im Auto. Auf der Flucht geht ihm das Benzin aus, und so stiehlt der feine Herr einem jungen Paar sämtliche Kanister, um seinen Wagen wieder zum Laufen zu bringen. Oder die bürgerliche Madame Péricand. Sie vergisst im Durcheinander einer Explosion ihren im Rollstuhl sitzenden Schwiegervater einfach im Gasthof. Der alte Patriarch beschließt seine Tage im örtlichen Krankenhaus, wo er sein Testament macht und dabei den ersten und den zweiten Weltkrieg verwechselt. Evt. Musik CD Beethoven, Diabelli Variation, Track 1 Sprecherin Bis auf wenige Ausnahmen schildert die Autorin die Franzosen als schwache, geradezu niederträchtige Charaktere. Ist es ihre Rache an einem Land, durch das sie sich verraten fühlt? Die deutschen Besatzer hingegen verhalten sich überwiegend höflich und diszipliniert. Zum Beispiel Bruno von Falk, einquartiert im Haus der Witwe Angellier. Deren Schwiegertochter Lucile verliebt sich in den musischen Offizier. Argwöhnisch beobachtet ihre Schwiegermutter die Entwicklung. Auch hier wiederholt sich eines der Themen von Irène Némirovsky: eine ältere Frau neidet einer jüngeren die Liebe. Sprecherin 3 (Zitat) ?Sie waren allein ? glaubten sich allein ? in dem großen schlafenden Haus. Kein Geständnis, kein Kuß, Stille... Dann fieberhafte, leidenschaftliche Gespräche, in denen sie über ihr jeweiliges Land sprachen, über ihre Familien, über Musik, Bücher... Das seltsame Glück, das sie empfanden... diese Hast, einander ihr Herz zu öffnen...die Hast eines Liebenden, die bereits ein Geschenk ist, das erste Geschenk der Seele vor dem des Körpers. ... ?Deutsche, Deutsche.... Ein Franzose hätte mich nicht so gehen lassen, mir zum Abschied nicht nur die Hände und das Kleid geküsst,? dachte Lucile.? (Übersetzung: Eva Moldenhauer) Evt. Musik CD Beethoven, Diabelli Variation, Track 1, hoch Sprecherin 1 Im besetzen Frankreich nehmen die antisemitischen Repressalien zu. Schon längst sind die jüdischen Konten eingefroren und die ersten Konvois nach Auschwitz geschickt worden. Michel Epstein hat seine Arbeit verloren, seine Frau darf nicht mehr publizieren. Die Familie lebt von den finanziellen Zuwendungen des Verlegers Albin Michel. Sie kann Issy l?Éveque nicht mehr verlassen. Sprecherin 3 (Zitat) ?Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Bluts und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert.? (Übersetzung: Eva Moldenhauer) Sprecherin 1 schreibt Irène Némirovsky. Am 13. Juli 1942 klopfen zwei französische Gendarmen an ihre Tür. Sie verhaften die Schriftstellerin. Kurz darauf wird sie im französischen Konzentrationslager Pithiviers interniert. In seiner Verzweiflung schreibt Michel Epstein an Otto Abetz, den deutschen Botschafter in Paris. Sprecher 1 (Zitat) ?... Meine Frau ist eine hochangesehene Romanschriftstellerin geworden. In keinem ihrer Bücher (die im Übrigen von den Besatzungsbehörden nicht verboten wurden,) werden Sie ein Wort gegen Deutschland finden, und obwohl meine Frau jüdischer Rasse ist, spricht sie darin von den Juden ohne jede Zärtlichkeit.? Sprecherin Aus heutiger Sicht wirkt dieses Schreiben fast beklemmend. Aber, so Olivier Philipponnat, man muss diesen Brief in seinem zeitlichen Zusammenhang sehen. Sprecher 1, O-T Philipponat (Übersetzung) Er schreibt diesen Brief aus tiefster Verzweiflung heraus, denn die drei Monate, die Michel Epstein noch zu leben hatte ? von Juli bis Oktober 1942 ? das war unvorstellbar. Er war verzweifelt bis zum Wahnsinn. Dieser Brief an Otto Abetz ? es ist nicht mal sicher, ob er dem deutschen Botschafter überhaupt übermittelt wurde. Aber es ist ein Brief, den die Verzweiflung diktiert hat. Sprecherin 1 Irène Némirovsky wird nach Auschwitz deportiert und stirbt dort vollkommen entkräftet am 17. August 1942. Wenige Monate später muss auch ihr Mann die Fahrt nach Auschwitz antreten und kommt nicht mehr zurück. Denise Epstein, damals dreizehn Jahre alt, und ihre fünfjährige Schwester Elisabeth können mit Hilfe ihres Kindermädchens in die freie, anfangs noch nicht von den Deutschen besetzte Zone fliehen. Unter den wenigen Habseligkeiten der Mädchen befindet sich auch ein Koffer mit Familienphotos - und dem Manuskript der ?Suite Francaise?. Über ein halbes Jahrhundert hat Denise Epstein es nicht angerührt. Zu schmerzlich war die Erinnerung an die Mutter. Sprecherin 2, O-T Epstein (Übersetzung) Meine Mutter musste uns als erste verlassen. Das Manuskript blieb im Haus zurück, mein Vater hätte es nicht ausgehalten, wenn wir es auch nur angerührt hätten. Es war mit sehr viel Schmerz verbunden. Ich musste überleben, und das geht nicht, wenn man nicht manches ?in Schubladen verstaut?. Ich hatte Kinder, und sie hatten ein Recht darauf, glücklich aufzuwachsen, nicht in einer bleiernen Atmosphäre. Das war ich ihnen schuldig. 17