COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel v. 24.4. 2011 Sportpionier auch für Führer und Vaterland? Der Historikerstreit um Carl Diem Autor: Günter Herkel Take 0 (0:30) Olympia-Fanfare, Hitler Ich verkünde die Spiele von Berlin zur Feier der XI. Olympiade neuer Zeitrechnung als eröffnet. Take 1 (0:22) Diem: Die Regierung Adolf Hitlers hat sich rückhaltlos für die Vorbereitung der Spiele eingesetzt und der Führer und Kanzler hat persönlich nicht nur die Schirmherrschaft übernommen, sondern auch durch seine Entscheidung über den Bau des Reichssportfeldes die Möglichkeit geschaffen, dass der äußere Rahmen der Olympischen Spiele so großartig und glanzvoll wird wie kaum zuvor. Autor: Carl Diem am Vorabend der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin, die er als Generalsekretär des Organisationskomitees maßgeblich vorbereitete. Bis heute sind in der Bundesrepublik Straßen, Turnhallen und Sportplätze nach ihm benannt. Begonnen hatte Diems Karriere im Kaiserreich; bis zu seinem Tod 1962 war er der einflussreichste Sportfunktionär Deutschlands. Viele Prädikate wurden ihm verliehen: Ahnherr der deutschen Sportwissenschaft, Mitbegründer der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Köln, Urheber des olympischen Fackellaufs der Neuzeit, Erfinder des Sportabzeichens - kurz, er galt bis in die Nachkriegszeit als Übervater des deutschen Sports. Doch das Denkmal hat Risse bekommen. Vor allem seine Rolle während der NS-Diktatur kompromittiert den 1962 gestorbenen Diem. Wolfgang Benz, emeritierter Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin: Take 2 (0:30) Benz: Carl Diem war (ein ganz wichtiger Sportfunktionär. Er war) immer regimenah, er hat immer in der Gesellschaft gesellschaftskonform agiert, in der er gelebt hat. Er hat damit auch die Geschäfte des Dritten Reiches mit betrieben und damit gefördert. Damit war er sicherlich kein fanatischer Nationalsozialist, aber doch ein Opportunist, der dem Regime mit zum Erfolg verhalf und da auch Nutznießer war. Das objektiv und gerecht zu bewerten, das ist Aufgabe der Historiker. Dazu ist es jetzt, glaube ich, auch Zeit. Autor: Das dachte sich wohl auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und brachte ein Forschungsprojekt zu "Leben und Werk Carl Diems" auf den Weg. An den Kosten beteiligten sich auch die Sporthochschule in Köln und die Krupp-Stiftung. Den Auftrag zur Erstellung der Diem-Biografie bekam der Oberhausener Historiker Frank Becker. Zur Seite gestellt wurde ihm ein siebenköpfiger wissenschaftlicher Beirat. Unter anderem wünschte sich der DOSB eine Empfehlung, wie denn künftig mit Namen und Werk des umstrittenen Sportwissen- schaftlers und -funktionärs umgegangen werden sollte. Die ersten drei Bände des umfangreichen Werks liegen seit einiger Zeit vor, der vierte und letzte soll im Sommer erscheinen. Über die gewünschte Empfehlung entbrannte zwischen Biograf und Beirat ein heftiger, auch öffentlich ausgetragener Streit. Frank Becker: Take 3 (0:12) Becker: Einerseits geht es darum, wer überhaupt die Empfehlung geben darf. Zu Beginn des Projekts ist vereinbart worden, dass ich das tue. Hinterher wurde es mir aus der Hand genommen und der Beirat hat diese Aufgabe übernommen. Autor: Beiratsmitglied Christiane Eisenberg, Historikerin und Direktorin des Großbritannien- Zentrums an der Berliner Humboldt-Uni, hält dagegen: Take 4 (0:13) Eisenberg: Der Vorwurf ist eigentlich, dass Becker zwei unterschiedliche Positionen vertritt: einmal als wissenschaftlicher Autor und einmal als Experte, der zu zeitgenössischen Fragen sich äußert. Der Punkt ist einfach, dass der Beirat die öffentlichen Stellungnahmen Beckers und seine sehr viel differenziertere Darstellung in dem Buch nicht miteinander in Einklang sieht. Take 5 (0:16) Becker Ich sehe Diem kritisch und meine eben auch, dass die Diem-Straßen umbenannt werden sollen, wenn ich es geschichtspolitisch beurteilen soll. Der Beirat sieht Diem in jeder Hinsicht unschuldig, als unschuldig an und möchte eben auch, dass die Diem-Straßen erhalten bleiben in Deutschland. Take 6 (0:18) Eisenberg: Der Band zur Weimarer Republik, in die Diems Hauptschaffenszeit fiel, der liegt noch gar nicht vor. Und deshalb findet der Beirat es etwas problematisch, dass Herr Becker mit Handlungsempfehlungen an die Öffentlichkeit tritt auf der Basis eines unfertigen Buches. Autor: Ein wenig überzeugender Einwand, denn auch der Beirat gibt eine Empfehlung. Und zwar eine Empfehlung auf der Basis des III. Bandes der Biografie, die sich auf das Wirken Diems in der NS-Zeit bezieht. "Der Beirat", heißt es in dem Dokument, "kommt zu folgendem Urteil": Zitator 1 War Diem Nationalsozialist, Rassist, Antisemit? Antwort: Nein. Es gibt keine Belege für diese Behauptungen. Diem war nicht Mitglied der NSDAP. Er äußerte sich im Gegenteil immer wieder kritisch über den Nationalsozialismus und die NS-Sportführung sowie gegenüber Rassismus und Antisemitismus. Autor: Frank Becker protestiert: Take 7 (0:30) Becker: Das ist eine sehr einseitige und auch teilweise falsche Stellungnahme. Es ist tatsächlich so, dass Diem sich zwar in Tagebüchern, in Tagebucheinträgen während der NS-Zeit auch mal kritisch über das Dritte Reich geäußert hat, aber gleichzeitig er auch viele Aspekte lobt. Er feiert die außenpolitischen "Erfolge" der Nazis ab ´33, die Revisionspolitik in Bezug auf den Versailler Vertrag, das ist alles nach seinem Herzen, da ist er begeistert, er feiert die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland. Das muss man auch sehen. (...) Die Beiratsempfehlung ist nicht angemessen. Sie zeigt ein falsches Bild. Autor: Das findet auch der Berliner Historiker Ralf Schäfer. Im vergangenen Jahr schlug sein Eintrag über Diem im "Handbuch des Antisemitismus" hohe Wellen. Bereits im Kaiserreich habe der hochdekorierte Sportfunktionär in seiner privaten Korrespondenz eine grundlegend antisemitische Einstellung preisgegeben. Kostprobe aus einem Brief Diems aus dem Jahr 1913: Zitator 2 Die Judenpresse mit ihrem zersetzenden Gesäusel, wenns und abers, mit ihrer liberalen Wabbligkeit, mit ihrem öden Spott über Regierung und Heer ist eine Schande für unser Volk. Sie hat alle Macht in den Händen und das schlimmste, der Inhalt der Frankfurter Zeitung und des Berliner Tageblattes gilt der ganzen Welt als der Ausdruck der deutschen Volksmeinung. Autor: Beiratsmitglied Christiane Eisenberg versucht zu relativieren. Hier habe es sich um den damals üblichen Redaktionsjargon gehandelt. Take 8 (0:40) Eisenberg: Was der Herr Schäfer nicht tut, ist diese möglicherweise durchaus in den Jugendjahren vorhandene judenfeindliche Haltung in ihrer Gesamtentwicklung zu sehen. Und er hätte berücksichtigen sollen, dass es einen Unterschied macht, ob man judenfeindliche Äußerungen zum Beispiel im "Kampfbund für deutsche Kultur" tut oder ob man sich auf ein Gebiet begibt wie den Sport, wo jedenfalls im Alltag, in der Alltagspraxis (...) in der Regel nicht gefragt wird: Bist du Jude, bist du Katholik, bist du Protestant, bist du sonstwas? Autor: Ralf Schäfer - er promovierte bei Wolfgang Benz zum Thema "Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich" - hält diesen Entlastungsversuch für symptomatisch. Take 9 (0:18) Schäfer: Es gibt eine Tradition der Verharmlosung des Antisemitismus in der deutschen Sportführung schon bereits vor dem Ersten Weltkrieg, und die setzt sich in der wissenschaftlichen Tradition über das Carl-Diem-Archiv bis zur Stellungnahme Ommo Grupes und Michael Krügers gegen die Arbeit Beckers fort. Autor: Der emeritierte Sportwissenschaftler Ommo Grupe, und Michael Krüger, Professor für Sportpädagogik und Sportgeschichte an der Uni Münster, sind Leiter des Forschungsprojekts. Der erste war Schüler Diems, der zweite wiederum ist Schüler Grupes. Eine klassische Fehlbesetzung, finden kritische Kollegen. Beide gelten als Gralshüter des Diemschen Andenkens. Eine kritische Distanz zum Forschungsgegenstand sei von ihnen eher nicht zu erwarten. Diesen Eindruck bestätigte ein verbaler Schlagabtausch, den Krüger und Schäfer sich im Dezember vergangenen Jahres in der Sendung "Sportgespräch" im Deutschlandfunk lieferten. Take 10 (1:54) Krüger: Wie erklären Sie sich denn, Herr Schäfer, dass Diem ja nachweislich viele jüdische Freunde hatte, mit einer Frau verheiratet war, Liselott Bail, die nach der Diktion der Nationalsozialisten als "jüdisch versippt" galt, dass Theodor Lewald, sein verehrter Freund war, mit dem er jahrelang intensiv zusammengearbeitet hat, und es gibt ja eine Quelle, die Sie bestimmt auch kennen, des NS-Lehrerbundes, in der es heißt von einer Stellungnahme der Gauleitung der NSDP im Jahre 1939, dass bekannt sei, so heißt es da, ich hab die Quelle hier vor mir liegen, dass Dr. Diem in der damaligen Zeit auch im Privatleben, so hieß es, Verkehr mit Juden pflegte, also man wollte ihn innerhalb der NSDAP und der Partei diffamieren, dass er judenfreundlich sei und dass auch bekannt sei, dass er an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in der Weimarer Zeit viele Juden beschäftigt gewesen wären unter Diem. Dr. Diem hat nicht erkennen lassen, dass er sich in seiner politischen Haltung wesentlich geändert hat. Das ist sozusagen die andere Seite. Niemand leugnet antijüdische Äußerungen in der Privatkorrespondenz. Schäfer: Diese Quelle, die ihnen hier vorliegt - ich weiß gar nicht, ob sie den letzten Satz dieser Quelle kennen, denn in den Informationsmaterialien, die seit 1996 kursieren, fehlt immer der letzte Satz. Der letzte Satz ist nämlich eine Empfehlung für Diem: "Dennoch steht einer weiteren Verwendung Diems nichts im Wege." Die letzte Seite wird nicht kopiert, wenn Sie auf diese Kopie gucken, die trägt keine Unterschrift, das ist einfach nicht vollständig. Dann ist ja - 1939 - Diem hat noch NS-Funktionen übernommen und hat die Denunziation nach Paris 1940 geschickt - also (kann man jetzt) von Distanz zum Regime ist da eigentlich gar keine Rede. Autor: Die Entlastungsargumente der Diem-Verteidiger erinnern ein wenig an Einträge in Entnazifizierungsanträgen. Zwar räumt auch der Potsdamer Historiker Joachim Teichler, ebenfalls Mitglied im Projektbeirat, ein, bei Diem lasse sich "der diskrete Antisemitismus der wilhelminischen Oberschicht" feststellen. Ansonsten wird argumentiert: Diem sei nie in der NSDAP gewesen, habe eine Ehe mit einer Vierteljüdin geführt, genieße hohes Ansehen gerade auch in Israel. Biograf Becker: Take 11(0:30) Becker: Die Freundschaften zu Juden - das ist auch so eine Sache. Ich glaube, man kennt sich da auch teilweise nicht gut genug in der Antisemitismusforschung aus. Diejenigen Antisemiten, die eher den wilhelminischen, den traditionellen Antisemitismus vertreten haben wie Diem, hatten nichts gegen Juden, die getauft waren zum Beispiel. Oder auch gegen Vierteljuden, die ja assimilierbar waren, in der nächsten, übernächsten Generation würde ja fast nichts mehr übrig sein sozusagen von dem jüdischen Element, wie man dann sagt. Also das waren dann Einstellungen, gerade gegenüber den getauften Juden, die sich durchaus mit einem grundlegenden Antisemitismus verbinden konnten. Autor: Für Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung steht außer Zweifel: Take 12 (0:17) Benz: Der Antisemit ist nicht zwangsläufig der Judenmörder und der fanatische SS-Mann, sondern das ist ein Mensch, der Ressentiments gegen die Juden als Juden hat und diese artikuliert. Das hat Carl Diem nachweislich getan. Autor: Gleiches gilt für Diems rassistische Einstellungen. Nach Schäfers Forschungen hob Diem bereits ab 1906 "positive Rasseeigenschaften nordischer beziehungsweise arischer Völker" gegen überüber den slawischen und mediterranen Völkern hervor. Becker pflichtet ihm bei: Take 13 (0:20) Becker: Ja, da ist mir auch unbegreiflich, wie der Beirat hier einfach pauschal verkünden konnte, Diem habe mit Rassismus nichts zu tun gehabt. Er hat sich immer wieder in Rassebegriffen geäußert, hat immer wieder rassekundliche Überlegungen angestellt, das durchzieht sein ganzes Leben. Take 14 (0:15) Olympia-Fanfare Take 15 (0:20) Hitler: Ich verkünde die Spiele von Berlin zur Feier der XI. Olympiade neuer Zeitrechnung als eröffnet. Autor: Mit den Spielen von 1936 erfüllte sich ein Lebenstraum von Carl Diem. Take 16 (0:34) Diem: Wenn aber das geistige und künstlerische Leben zur Zeit und am Ort der Spiele ebenso stark pulst wie das sportliche, wenn sich die nur sportliche Veranstaltung ausweitet zu einem feierlichen und freudigen, international geselligen Ereignis, zu einem Fest, in dem all die schönen Kräfte menschlicher Gesittung zum Ausdruck kommen, so geziemt es sich, derer zu gedenken, die uns das Vorbild eines solchen heiteren und edlen Festes gegeben haben: die alten Griechen. Autor: Feierliches und freudiges Ereignis? All die schönen Kräfte menschlicher Gesittung? Tatsächlich boten die Spiele 1936 dem Nazi-Regime eine willkommene Plattform zur propagandistischen Selbstinszenierung. Dabei lief hinter den Kulissen - drei Jahre vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges - bereits die Rüstungsproduktion auf Hochtouren, waren die Nürnberger Gesetze längst beschlossen und die ersten Vernichtungslager schon in Planung. Dessen ungeachtet kommt Christiane Eisenberg zu folgendem Resümee: Take 17 (0:18) Eisenberg: Ich würde (...)nicht sagen, dass sie Spiele für das Dritte Reich gemacht haben. Sie haben Olympische Spiele so durchgezogen, so organisiert, wie es in den 30er Jahren Standard war. Und sie haben nach bestem Wissen und Gewissen durchaus versucht, die Nazis an den Rand zu drängen. Musik: Zarah Leander (s.u.) 15 Sekunden Take 18 (0:15) Appel: Er hat zu uns gesprochen, es war ja eine Feierstunde. Und das Ganze endete in einem flammenden Appell an uns für Führer, Volk und Vaterland zu sterben, gerade in der Situation, wo Berlin bedroht sei. Autor: Reinhard Appel, der ehemalige ZDF-Chefredakteur. Er gehörte in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs zu Hitlers letztem Aufgebot, dem HJ-Volkssturm. Am 18. März 1945 stand er im Kuppelsaal auf dem Reichssportfeld und lauschte den Durchhalteparolen Carl Diems. Dieser hatte sich noch im Alter von 62 Jahren Ende 1944 freiwillig zum Volkssturm gemeldet, obwohl eine Dienstpflicht nur bis zum 60. Lebensjahr bestand. Take 19 (0:28) Appel: Er berief sich immer wieder auf das tapfere Volk von Sparta und forderte uns auf, wie dieses Volk den Opfertod nicht zu scheuen und wie Helden zu sterben, denn es ist schön, für das Vaterland zu sterben. Obwohl er ja wissen musste, als 62jähriger Mann, der in der Welt herumgekommen war, wie es um Deutschland in der Zeit bestellt war. Und obwohl er sicher tieferen Einblick über die Hitlersche Politik hatte als wir jungen Menschen. Ich bin hier mit 17 Jahren gewesen. Zitator 3: Schön ist der Tod Wenn der edle Krieger für das Vaterland ficht, für das Vaterland fällt Autor: So steht es auf einem lange auf mysteriöse Weise verschollenen, erst 1994 veröffentlichten handschriftlich von Diem verfassten Stichwortzettel. Für die Diem-Kritiker ein Beleg dafür, dass der Autor dieser Zeilen dem NS-Regime bis zum Ende die Treue hielt. Der Wissenschaftliche Beirat des Forschungsprojekts ist anderer Auffassung. Zitator 4: Hinsichtlich der Rede Diems vom 18. März 1945 auf dem Reichssportfeld war es Dr. Becker trotz akribischer Rekonstruktion der Ereignisse nicht möglich, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Weder Inhalt noch Umstände und Wirkung der Ansprache konnten zweifelsfrei geklärt werden. Autor: Für Beiratsmitglied Eisenberg ist vor allem der Augenzeugenbericht Appels wertlos. Der Journalist, so ihr Einwand, habe sich erst in den neunziger Jahren an wortwörtliche Zitate der Diem-Rede erinnert, nachdem ihm vorher von Sporthistorikern das Stichwortmanuskript zugänglich gemacht worden sei. Dann schwächt sie ab. Take 20 (0:18) Eisenberg: Ich will (...) gar nicht in Abrede stellen, dass der Herr Appel sich aus ehrenwerten Motiven erinnert hat. Der Punkt ist: Als Historiker kann man eine solche Quelle eigentlich nicht verwenden, weil sie der Quellenkritik, die man üben muss, nicht standhält. Autor: Diem-Biograf-Becker kontert: Take 21 (0:27) Becker: Wenn man beide Quellen im Zusammenhang sieht - es gibt ja eben zwei Quellen: die eine ist die Aussage von Appel, der dabei gewesen ist und die andere Quelle ist ein Stichwortmanuskript, das ja auch eine Menge aussagt. Wenn man beides zusammen sieht, ist nach den üblichen Kriterien der Geschichtswissenschaft hier ein Sachverhalt belegt. Autor: Noch einmal Reinhard Appel im Originalton: Take 22 (0:16) Appel: Damals haben wir uns durch diesen Idealismus, den er predigte, anstecken lassen. Und insofern ist er, meine ich, mitschuldig, dass sinnlos hier Menschenleben, junge Menschen geopfert wurden, in einer Situation, die ja bereits ausweglos war. Autor: Opfertod für Reich und Führer: Zweitausend Tote und Verwundete soll es allein beim aussichtslosen Kampf um das Olympiagelände gegeben haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Diems weiterer Karriere dennoch nichts im Wege. Da er nie NSDAP-Mitglied gewesen war, galt er formal als unbelastet. Schon im Frühjahr 1947 nahm er die Arbeit als erster Rektor der von ihm selbst gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln auf. Der für Entnazifizierungsfragen zuständige britische Kontrolloffizier John Dixon stellte Diem einen Persilschein aus. Take 23 (0:26) Dixon: Wir mussten voran gehen und Dr. Diems Kritiker sollten sein ganzes Leben und Schaffen ansehen und bewerten, anstatt ihn aufgrund von zwei oder drei inbrünstigen Aufsätzen zu beurteilen, die er aus seinen feurigen Gefühlen als Patriot und alter Soldat geschrieben hatte. Autor: So denkt auch heute noch ein einflussreicher Teil der Sportwissenschaft. Kein Wunder, dass der Beirat des Forschungsprojekts zu dem erstaunlichen Urteil kommt, Beckers Darstellung über NS-Zeit enthalte Zitator 5: ...keine Hinweise auf moralisch verwerfliche Entscheidungen oder Handlungen Carl Diems im Dritten Reich. Die Darstellung unterstützt vielmehr insgesamt das in der neueren Forschung mehrfach geäußerte Urteil, dass Diem den ihm zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum durchaus genutzt hat, um unabhängig von den nationalsozialistischen Machthabern zu agieren. Allerdings verhielt er sich in manchen Situationen opportunistisch. Autor: Eine kühne Verkehrung der Schlussfolgerungen seiner Arbeit, findet Becker. Take 25 (0:24) Becker: Man möchte ein bestimmtes Diem-Bild aufrecht erhalten, um auch ein bestimmtes Bild des deutschen Sports während der NS-Zeit aufrecht erhalten zu können. Hier ist Geschichtspolitik im schlechten Sinne im Spiel, die also versucht, Dinge hinzubiegen, damit man nicht von lieb gewordenen Sichtweisen abrücken muss. Autor: Wer Diems Verhältnis zum NS-Regime angemessen würdigen will, kommt an einer Episode aus dem Jahr 1940 nicht vorbei. Den Überfall auf Frankreich hatte derSportfunktionär bereits hymnisch im "Reichssportblatt" gefeiert: Zitator 6: ...wie haben wir mit atemloser Spannung und steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, diesen Siegeslauf verfolgt! Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettstreit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinausgestiegen. In Ehrfurcht und mit einem inneren Herzbeben...stehen wir staunend vor den Taten des Heeres. Autor: Solche schwülstig-militaristischen Texte hatte der britische Kontrolloffizier Dixon wohl gemeint, als er nach dem Krieg um Nachsicht für den "Patrioten und alten Soldaten" Diem warb. Und noch heute meint Beiratsvorsitzender Krüger, Diem habe hier die "Leistung der sportgestählten Soldaten, nicht die NS-Politik" gerühmt. Aber Diem beließ es nicht bei feurigen Gefühlen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war er zum Führer des Gaues Ausland des NS-Reichsbunds für Leibesübungen ernannt worden und somit eine Art Außenminister des Regimes in Sportfragen. In dieser Eigenschaft erkundigte er sich brieflich beim deutschen Botschafter in Paris, ob zwei französische Sportfunktionäre Juden seien. Diem sei also bereit gewesen, zugunsten einer Gleichschaltung der internationalen Sportverbände den NS-Verfolgungsapparat zu mobilisieren, konstatiert Ralf Schäfer. Take 26 (0:30) Schäfer: Jemanden durch den NS-Sicherheitsapparat überprüfen zu lassen, ob er Jude ist, im Jahr 1940, mit dem Wissen, in der eigenen Familie, dass das durchaus problematische Folgen zeitigen kann, das finde ich, ist doch eine Tatsache, die kann doch gar nicht übergangen werden, wenn man Carl Diems Verhältnis zum Nationalsozialismus reflektiert. Autor: Diem, dies belegen seine Tagebuchaufzeichnungen, war spätestens seit Sommer 1943 über den Holocaust informiert. Dennoch bedauerte er noch Ende 1943, nach dem Tod des Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten nicht dessen Nachfolger geworden zu sein. Biograf Frank Becker: Take 27 (0:25) Becker: Es ist ja keine formelle Bewerbung, aber es ist ein Tagebucheintrag, der zeigt, dass Diem bereit gewesen wäre, dieses Amt zu übernehmen und dass er enttäuscht war, es nicht zu bekommen. Und da würde ich sagen: Wenn jemand vom Holocaust Kenntnis hat, dann müsste er doch so reagieren, auch in seinen privaten Aufzeichnungen, dass er sagt: Gut, dass mir das niemand angeboten hat, sonst hätte ich das hinterher noch machen müssen und wäre auch immer mehr verstrickt worden, auch politisch in dieses System, das einen Massenmord durchführt. Autor: Vor diesem Hintergrund leuchtet Beckers Feststellung, Diem sei in der NS-Zeit "in Schuldzusammenhänge verstrickt" gewesen, unmittelbar ein. Dem Beirat ist sie allerdings nicht aussagekräftig genug. Christiane Eisenberg. Take 28 (0:20) Eisenberg: Abgesehen davon, dass die Quellenlage schwierig ist, die Formulierung der "Verstrickung in einen Schuldzusammenhang - finde ich eine absolute Nullaussage. Im Grunde ist jeder, der im Dritten Reich nicht aktiver Widerstandskämpfer gewesen ist, in einen Schuldzu- sammenhang verstrickt. Autor: Becker kontert: Take 29 (0:36) Becker: Es fällt schon auf, dass die Position, die der Beirat vertritt, nicht weit entfernt ist von den Positionen, die Diem selbst vertreten hat. Diem selbst hat das beschönigende Bild in die Welt gesetzt, nach 1945, der deutsche Sport habe mit den Nazis nicht viel zu tun gehabt. Man habe eine NS-Führung oktroyiert, aber unter dieser Führung, mit der man auch gar nicht so viel zu tun haben wollte und haben musste, sei alles im Grunde so weiter gelaufen wie zuvor. Und man habe dann im Grunde kontinuierlich nach 1945 weiter machen können und sich an die Sportkultur des Westens, wie man's eigentlich immer wollte, an England, die USA usw. anlehnen können. Und damit sei der Sport eben auch ein wichtiger Beitrag gewesen zur Verwestlichung, zur Westernisierung Deutschlands. Autor: Der Auftraggeber des Forschungsprojekts, der Deutsche Olympische Sportbund, steckt jetzt in einem Dilemma. Er wollte eine Handlungsempfehlung - statt dessen muss er sich nun gleich mit zwei diametral entgegengesetzten Vorschlägen auseinandersetzen: Während Becker im Lichte seiner Erkenntnisse für eine Umbenennung von Carl-Diem-Straßen und - Plätzen plädiert, sieht der Beirat dazu weiterhin keine Veranlassung. Wie würde sich der DOSB positionieren? Take 30 (0:25) Schäfer: Der Deutsche Olympische Sportbund verhält sich - nicht. Und das ist ganz erstaunlich. (...) Hier geht es um ein fundamentales geschichtspolitisches Problem. Hier wird von Seiten der Diemologen wider die Quellenlage ein positives Diem-Bild konstruiert. Das dient der historischen Entlastung des deutschen Sportes, und der Deutsche Olympische Sportbund schweigt dazu. Damit wird er meines Erachtens nach seiner politischen Verantwortung nicht gerecht. Autor: Meint Ralf Schäfer. Auch Christiane Eisenberg zeigt sich unzufrieden mit dem DOSB. Take 31 (0:11) Eisenberg: Ich finde das sehr enttäuschend. Dieser DOSB hat den Beirat installiert, und er hat das Biografieprojekt in Auftrag gegeben, und er möchte jetzt nichts davon wissen. Autor: Frank Becker nimmt die Sache mit Ironie. Take 32 (0:11) Becker: Er scheint jetzt abwarten zu wollen nach meinen Informationen, wie der wissenschaftliche Streit ausgeht. Ich weiß nicht, wie man das einfach feststellen kann, wie ein Streit ausgeht. Es ist ja nicht wie beim Boxen, dass einer hinterher auf den Brettern liegt und k.o. ist. Autor: Wie geht es weiter? Für den Berliner Ralf Schäfer ist es an der Zeit, die seiner Auffassung nach verhängnisvolle personelle Kontinuität in der deutschen Sportwissenschaft- und Geschichtsschreibung zu durchbrechen. Take 33 (0:35) Schäfer: Carl Diem ist eine jener Gestalten in der Geschichte des deutschen Sports, die die Kontinuität verkörpern. Dann hat Carl Diem vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ganz vehement die Traditionsbildung des deutschen Sports beeinflusst, indem er die Leitüberlieferung geschaffen hat, die dem offiziellen Traditionsverständnis des deutschen Sports, so wie es Herr Krüger auch bis jetzt vertreten hat, eben repräsentiert. Und die ist mit schweren Problemen behaftet, da sie im Wesentlichen die Apologie der Tätergeneration überführt in wissenschaftliche Erkenntnis. Autor: Das beginne mit der Tätergeneration, also dem früheren Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sportbundes Guido von Mengden und Carl Diem, gehe weiter mit der Nachlassverwaltergeneration um Liselott Diem und Ommo Grupe und reiche mit dem Grupe-Schüler Michael Krüger bis in die Gegenwart. Ein solches Loyalitätsgeflecht könne keine Basis sein für eine distanzierte wissenschaftliche Aufarbeitung der historischen Ereignisse vor ´45 und der wissenschaftlichen Ergebnisse nach `45. Zudem plädiert Schäfer für mehr Gewaltenteilung. Krüger sei nicht nur Leiter des Diem-Projekts, sondern zugleich Herausgeber der mit dem DOSB kooperierenden Zeitschrift "Sportwissenschaft". Überdies agiere er als Sprecher der sportgeschichtlichen Sektion der Deutschen Vereinigung der Sportwissenschaftler. Auch Diem-Biograf Becker sieht diese Ämterfülle als problematisch an. Take 34 (0:30) Becker: Es wäre in der Tat wünschenswert, wenn hier mehr Pluralismus einziehen würde. Es kann nicht sein, dass so viele Projekte, Ämter und Funktionen bei bestimmten Leuten konzentriert sind, deren Auffassungen man kennt, die apologetisch sind. Es ist zum Beispiel ja auch so gewesen, dass in den Beirat meines Diem-Projekts kein einziger Vertreter der so genannten kritischen Sportwissenschaft eingeladen worden ist. Autor: Beiratsmitglied Christiane Eisenberg weist den Vorwurf der Einseitigkeit zurück. Take 35 (0:20) Eisenberg: Der Beirat hat doch keine Aktien in Herrn Diem. Der Beirat ist doch ein Beirat von Wissenschaftlern, die natürlich selber schon über Diem gearbeitet hatten und die genau wissen, was der Herr Becker Neues gebracht hat und was er nicht Neues gebracht hat. Das sind ja nicht irgendwie Leute, die Herrn Becker zensieren wollen. Autor: Während die Historiker noch über die Rolle Carl Diems streiten, werden im bundesdeutschen Alltag längst Fakten geschaffen. Bereits 2004 wurde in Diems Geburtsstadt Würzburg eine auf ihn getaufte Halle umbenannt. Die am früheren Carl-Diem- Weg gelegene Deutsche Sporthochschule in Köln liegt seit 2008 "Am Sportpark Müngersdorf". Und selbst im Zentrum der akademischen Diem-Bewunderer, im westfälischen Münster, an dessen Universität das biografische Forschungsprojekt zu Diem durchgeführt wurde, befasste sich unlängst eine Kommission mit dem dortigen Carl-Diem- Weg. Am 4. November 2010 beschloss der Stadtrat mit den Stimmen aller demokratischen Parteien, dass es in Münster künftig keinen Carl-Diem-Weg geben soll. Christiane Eisenberg bedauert die Entscheidung vieler Kommunen, das Andenken Diems zu tilgen. Sie zählt seine vielen sportpolitischen Verdienste auf: den Sportstättenbau, die tägliche Turnstunde, das Gemeinnützigkeitsprinzip für Sportvereine, die Etablierung Olympischer Spiele als Teil der auswärtigen Kulturpolitik, die Verbindung von Sport und Gesundheitspolitik, das Sportabzeichen undundund. Take 36 (0:25) Eisenberg: Das Problem ist: Wenn man heute Carl Diem von den Straßenschildern löscht (...) und wenn man die Turnhallennamen tilgt und dergleichen, dann tilgt man auch die Erinnerung an diese Leistungen, die heute alle noch sehr gern in Anspruch nehmen. Und dann wird diese ganze Diem-Diskussion doch einigermaßen verlogen. Autor: Diem-Biograf Frank Becker hält dagegen. Man habe Straßen nach Diem benannt, als man seine Verdienste um den Sport im Blick hatte, ohne seine Rolle im Nationalsozialismus zu kennen. Inzwischen wisse man jedoch um diese Verstrickung. Take 37 (0:12) Becker: Es gibt keine überzeugenden Argumente mehr dafür, die Diem-Straßen beizubehalten. Diem kann heute kein Vorbild mehr sein, und man sollte auch in anderen Städten konsequent sein, so wie Münster konsequent gewesen ist und die Diem-Straßen umbenennen. Musik: Zarah Leander, Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen (15 Sekunden) M: Michael Jary T: Bruno Balz LC 00193 Nr. 23 Archiv: 93-56949 2