COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 8.8.2012, 19.30 Uhr Beutelwolf und Riesenalk Brehms Gedächtnis der Naturgeschichte Von Konrad Lindner 01. O-Ton: Clara Stefen Ja, also 150 Jahre nach Brehms Tierleben sind sicherlich einige Arten ausgestorben. Das sicher bekannteste Beispiel, wovon wir hier auch ein Exemplar haben, ist der Beutelwolf aus Australien. 02. O-Ton: Martin Päckert - 06'20 Alfred Brehm war das Phänomen des Aussterbens sehr wohl bewusst gewesen. Er hat einen sehr ausführlichen Abschnitt über den Riesenalk zum Beispiel verfasst. Der zu Zeiten Brehms schon ausgestorben war. 01. Atmo: Ruf der Sumpfmeise / Ruf Weidenmeise SPR: Seit der Entstehung des Lebens starben durch klimatische und geologische Umwälzungen immer wieder Arten aus. Gleichzeitig entstanden immer wieder neue Arten. Die ersten Vögel entwickelten sich vor etwa 150 Millionen Jahren. Ihre Vorfahren, die Dinosaurier, starben aus. Auerochse und Riesenalk wurden vom Menschen ausgerottet. Seit dem Erscheinen von Alfred Brehms "Illustrirten Thierleben" sind inzwischen fast 200 Vogel- und Säugetierarten ausgestorben: Darunter der Beutelwolf in Australien und die Riesenpopulation der Wandertaube in Nordamerika. Es gibt Schätzungen, dass jeden Tag mindestens 100 Tier- und Pflanzenarten untergehen. Dr. Carsten Neßhöfer vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. 03. Carsten Neßhöfer Das Problem des Artensterbens hat sich massiv verschärft. Man muss auch daran denken: Artensterben hat verschiedene Dimensionen. Das Artensterben, was wir in der Öffentlichkeit vielfach wahrnehmen, ist das Aussterben einer Art. Ein bengalischer Tiger verschwindet oder ein Flussdelphin. Die letzte bekannte Art, die verschwunden ist, ist der Flussdelphin im Yangtse in China. Das verschwindet. Aber Artensterben hat eine völlig andere Dimension, wenn man an die Vielfalt innerhalb der Arten denkt, an die genetische Vielfalt. Wo es darum geht, dass Populationen verarmen, dass immer weniger einer Art haben. SPR: Die klassische Naturgeschichte im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss des Schweden Carl von Linné ging von einem räumlichen Nebeneinander der Arten aus. Mit dem "Eindringen der Zeit" änderte sich die Ordnung der Naturgeschichte gravierend. Es gab keine Erzählung von der Natur mehr, sondern eine Evolution der Natur. Das Brehmsche "Thierleben" stellte das zeitliche Nacheinander der Arten noch nicht dar, dennoch gab es Darwin wichtige Anregungen. Wahrscheinlich schon während seiner Jahre als Gymnasiallehrer für Geographie und Naturgeschichte in Leipzig oder spätestens bei der Niederschrift der zweiten Auflage des "Thierlebens" als Zoodirektor in Berlin machte sich Alfred Brehm eine Erkenntnis zu Eigen, die im begrifflichen Universum der Evolution eine zentrale Aussage bildete: Zitator: Nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl ist aber das Aussterben alter Formen aufs engste mit der Entstehung neuer, verbesserter verknüpft. SPR: Im Baum des Lebens würde es ohne das Artensterben keine Innovation und keine mannigfache Erneuerung der Arten geben. Brehm stellte in seinem "Thierleben" den "jetzt lebenden und bekannten Säugethierarten" ausdrücklich die bereits ausgestorbenen "vorweltlichen Säugethiere" entgegen. Zitator: Die Verbreitung der vorweltlichen Säuger war eine ganz andere, als die der jetzigen es ist; doch besaßen auch schon in der Urzeit gewisse Gegenden der Erde ihre eigenthümlichen Säugethiere. SPR: Werden die heute lebenden Organismen als Resultat der Evolution und als zeitlich endliche Arten begriffen, dann wird sofort klar, dass in dem gewaltigen Zeitraum der Erdgeschichte auch eine gewaltige Zahl an Tierarten hervor gebracht wurde, von denen die wenigsten heute noch bekannt sind. Bei diesen Überlegungen stimmten Darwin und Brehm ebenso überein, wie in der Überzeugung, dass Menschen und Menschenaffen von gemeinsamen, aber ausgestorbenen Vorfahren abstammen. In der zweiten Auflage des "Thierlebens" verteidigte Brehm den englischen Biologen und dessen Buch über "Die Abstammung des Menschen" nachdrücklich. Zitator: "Eine unmittelbare Abstammung hat weder Darwin noch einer seiner Anhänger oder Vorgänger behauptet." SPR: Die biologische Vielfalt der Gegenwart ist aus Organismenwelten hervor gegangen, die längst ausgestorben sind. Ferner sticht bei genauerem Hinsehen ins Auge: Darwin wie Brehm unterschieden das natürliche Artensterben und die Ausrottung von Arten "durch gewaltsame Eingriffe des Menschen". Dr. Dietrich von Knorre, ehemaliger Kustos des Phyletischen Museums der Universität Jena: 04. O-Ton: Dietrich von Knorre So wie die Geburt und der Tod zusammen gehören, ist das Artensterben in der Erdgeschichte ein ganz normaler Vorgang. Das Problem, das wir heute haben, ist lediglich eine Potenzierung durch die Tätigkeit des Menschen. Der Mensch zerstört Lebensräume von Tieren und Pflanzen und damit beseitigt er Lebensräume, in denen bestimmte und vor allen Dingen streng angepasste Arten leben. Für die zuerst. Und die sterben aus, weshalb das höchste Artensterben, was wir gegenwärtig beobachten, auf Inseln ist. In den Tropen ist. Die Beseitigung der tropischen Wälder. SPR: Indem Brehm zumindest ein Bewusstsein für das Artensterben in großen Zeitspannen entwickelte, verwandelte sich seine räumliche Bestandsaufnahme zur biologischen Vielfalt der Erde in eine Dokumentation zur Geschichte der Natur. Dabei verzichtet er aber darauf, die stammesgeschichtliche Aufeinanderfolge der Arten im Detail zu rekonstruieren. Trotzdem trug "Brehm's Thierleben" sogar zu einer Popularisierung der darwinistischen Ideen bei. Die permanente Vermenschlichung des Tieres, die einerseits die Lektüre so unterhaltsam macht, zeigt auf den zweiten Blick auch die enge Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier. ZITATOR Man braucht nur das Affengesicht zu studieren, um zu wissen, wes' Geistes Kind man vor sich hat. Wir wollen jedoch auch gegen die Affen gerecht sein und dürfen deshalb wirklich gute Seiten derselben nicht vergessen. Über ihre geistigen Eigenschaften in Einem abzuurteilen, ist nicht gerade leicht, weil die ganze Sippschaft zu viele sich widersprechende Eigentümlichkeiten zeigt. Man muß freilich anerkennen, daß die Affen boshaft, listig, tückisch, zornig oder wütend, rachsüchtig, sinnlich in jeder Hinsicht, zänkisch, herrsch- und raufsüchtig, reizbar und grämlich, kurz leidenschaftlich sind, darf aber auch ihre Klugheit und Munterkeit, die Sanftheit und Milde, die Freundlichkeit und Zutraulichkeit gegen den Menschen, ihre Unterhaltungsgaben, ihre erheiternde Ernsthaftigkeit, ihre Geselligkeit, ihren Mut und ihr Einstehen für das Wohl der Gesamtheit, ihr kräftiges Verteidigen der Gesellschaft, welcher sie angehören, selbst gegen die ihnen überlegenen Feinde, und ihre oft sehr unschuldige Lust an Spielereien und Neckereien nicht vergessen. Der Affe ist in seiner sinnlichen Liebe ein Scheusal; er kann aber in seiner sittlichen Liebe manchem Menschen ein Vorbild sein! Regie Akzent SPR: Durch seine Fülle an Informationen auch über ausgestorbene Arten zeugt "Brehm's Thierleben" nicht von der Unveränderlichkeit der Natur, sondern wird ein Archiv ihrer Zeitlichkeit. Ähnlich verhielt es sich im 19. Jahrhundert mit den Sammlungen und Naturkundemuseen. Die Sammlungen aus der Epoche vor Darwin reduzieren sich längst nicht nur auf "ein zeitloses Rechteck", wie Michel Foucault in seinem Buch über "Die Ordnung der Dinge" behauptet. Durch sein Aussterben ist beispielsweise der Riesenalk auch ein Dokument für die zeitliche Entwicklung der Arten. 05. O-Ton: Iris Heynen 1.9. Das ist ein Riesenalk. Da muss man zu sagen: Der Riesenalk ist ein Verwandter der Tordalke, Trottellummen und solcher Seevögel, der bei uns schon seit den 1840er Jahren ausgestorben ist. Der wurde auch regelrecht ausgerottet. Das war ein großer flugunfähiger Meeresvogel, der auch viel gejagt wurde und die Eier haben damals die Leute wahrscheinlich auch gesammelt. Den gibt es nicht mehr. Und das ist der Wappenvogel des Museums, weil das ein so seltenes Präparat ist. Da gibt es weltweit nicht viele noch erhaltene Vögel von. SPR: Der Ornithologe Johann Friedrich Naumann brachte in Köthen 1821 seine private Vogelsammlung in das "Herzogliche naturhistorische Kabinett" ein. Naumann ruhte nicht eher, bis er für das Kabinett auch das Präparat eines Riesenalks erworben hatte. Er war mit Christian Ludwig Brehm, dem Vater des Tier- und Reiseschriftstellers, befreundet. Regie Akzent SPR: Der Vater war für Alfred Brehm Vorbild und Mentor zugleich. Auch noch während der Arbeit am "Thierleben". Alfred ging anfänglich zum Studium der Architektur nach Dresden. Brach dieses Studium aber 1847 im Alter von 18 Jahren von einem Tag zum andern ab. Ein Ornithologe aus dem Süddeutschen - Baron Dr. John von Müller - suchte für eine Afrikareise einen Vogelfänger und Präparator. Da war der Sohn des berühmten Ornithologen Brehm in Renthendorf genau der Richtige. Der erste und eigentliche akademische Unterricht war die Ausbildung durch den Vater im Thüringer Wald. Der Vogelpastor Brehm gehörte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den führenden Ornithologen in Deutschland. Er baute nicht nur eine große Vogelsammlung auf, sondern führte in der Vogelkunde auch den Begriff der "Subspezies", der Unterarten, ein. Seine Fixierung auf die Spezifikation neuer Arten war nicht unumstritten. Dr. Martin Päckert vom Museum für Tierkunde der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden steht vor dem geöffneten Stahlschrank mit Präparaten von Christian Ludwig Brehm. 06. O-Ton: Martin Päckert Nein, Brehm hat einiges durchaus wirklich Interessantes erkannt in der Natur. Er war zum Beispiel der Erste, der wirklich in der Lage war, Sumpfmeise und Weidenmeise artlich voneinander zu unterscheiden. Die sehen wirklich komplett gleich aus, wenn Sie die in der Hand haben, diese zwei Vögel, aber Brehm hat das damals unter anderem am Gesang erkannt, dass das zwei unterschiedliche Arten sind. 01. Atmo: Ruf der Sumpfmeise / Ruf Weidenmeise Zitator: Noch im Anfange unseres Jahrhunderts lebte im Eismeere ein wunderbarer Vogel; gegenwärtig ist er wahrscheinlich bereits gänzlich ausgerottet und zwar infolge von Nachstellungen, welche er von Seiten des Menschen erleiden musste. SPR: Um für das neuzeitliche Artensterben zu sensibilisieren, erhielt der Riesenalk in Brehms Tierenzyklopädie nicht nur einen Text, sondern auch eine eindrucksvolle Zeichnung des Leipziger Tiermalers Robert Kretschmer. Brehm schilderte ausführlich die Nachstellungen durch den Menschen und machte durch Berichte von Augenzeugen zugleich darauf aufmerksam, dass der Rückgang des Bestandes beim Riesenalk erst im 18. Jahrhundert einsetzte. Zitator: Durch zahlreiche Mittheilungen älterer Seefahrer und neuerliche Untersuchungen konnte festgestellt werden, daß der Riesenalk auf Neufundland und einigen benachbarten Schären ebenfalls häufig gewesen ist." SPR: Der Bestandsrückgang war aus heutiger Sicht nicht allein durch die Einwirkung des Menschen verursacht, sondern durch ein Wechselspiel von Naturkatastrophen und Ausrottung. Im Museum für Tierkunde der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden betreut Martin Päckert die Vogelsammlung, zu der auch das wertvolle Präparat eines Riesenalks gehört. Der Ornithologe beschreibt das Aussterben des Riesenalks als ein komplexes Geschehen. 07. O-Ton: Martin Päckert 8'51 Der war ja auch nicht gerade ein seltener Brutvogel im Nordatlantik gewesen, sondern er hat aber in den frühen 19-hunderter Jahren auf einer einzigen Felseninsel gebrütet im Süden von Island. Und diese Felseninsel ist 1830 durch einen Vulkanausbruch wirklich komplett versunken. Das heißt, da ist die größte Brutpopulation des Riesenalks einfach mal so erloschen. Die, die übrig geblieben sind, sind auf einen benachbarten Felsen ausgewandert. Der war aber viel kleiner. Das heißt die übrig gebliebene Kolonie war viel, viel kleiner und dementsprechend auch viel, viel anfälliger gegen Bejagung durch den Menschen zum Beispiel. SPR: Darwin schrieb in seinem Buch "Über die Entstehung der Arten" einen ganzen Abschnitt "Über das Aussterben". Ausgehend von paläontologischen Befunden erkannte Darwin, dass das Kommen und Gehen biologischer Arten statistisch gesehen wie eine Gauß'sche Glockenkurve verläuft. Zitator: "In vielen Fällen erkennen wir aus den Tertiärschichten, dass Seltenwerden dem Aussterben vorangeht, und wir wissen ferner, dass dies auch bei jenen Tieren der Fall war, die durch gewaltsame Eingriffe des Menschen örtlich oder gänzlich erloschen sind." SPR: Vor dem Aussterben einer Art sinkt bekanntermaßen die Anzahl der einzelnen Tiere. Die Zoologin Dr. Clara Stefen von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden beschäftigt sich intensiv mit dem Artensterben: Sowohl in der Gegenwart als auch in der Erdgeschichte. 08. O-Ton: Clara Stefen Ich meine: Das Bekannteste sind wohl die Dinosaurier in ihrer Formenfülle. Dann gibt es auch eine ganze Reihe Säugetiere, wenn man jetzt an die jüngere Vergangenheit denkt, die nicht mehr existieren. Gerade sehr große Huftiere oder so in Nordamerika, die dann so groß waren wie das Megaterium - das Riesenfaultier oder so - und ganz andere Gruppe, zum Beispiel Korallen, die früher auch die Meere aufgebaut haben, sind ganz andere als heute. Oder was man auch von ganz früheren Zeiten noch kennt: Die Trilobiten noch. Das sind sehr bekannte Organismen dafür. SPR: In der Säugetiersammlung, die Clara Stefen betreut, befindet sich der Beutelwolf, der von Alfred Brehm noch beschrieben wurde. Die Zoologin ist mit der Anatomie, dem Verhalten und mit der Lebensgeschichte des Beutelwolfs vertraut. Ein präpariertes Exemplar gehört zu den Raritäten im Museum für Tierkunde der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden. 09. O-Ton: Clara Stefen Hier nähern wir uns dem guten Stück. Und hier in dem Schrank ist das Exemplar. Also zumindest hier ist das richtig ausgestopfte Tier. Wir haben noch einen Schädel, der separat dann ist. Das ist schon ein ganz stattliches Exemplar. Also es gibt durchaus welche, die kleiner sind. Und es ist auch von der Präparation aus sehr schön und hat zum Glück wenig im Licht gestanden, so dass also die Färbung sehr intensiv mit braun und diese dunkelbraunen Streifen, die man hier im hinteren Bereich dann hier sieht, der dann im Englischen 'Tasmanischer Tiger' heißt, wegen der Streifung. SPR: Im zweiten Säugetierband von "Brehm's Thierleben" wurde der Beutelwolf 1880 in Wort und Bild vorgestellt. Das Tier weckt Assoziationen an einen Hund mit kurzem und samtigem Fell. Er hat eine lange Schnauze und einen sehr langen Schwanz. Zu Brehms Lebzeiten war der Beutelwolf zwar noch häufiger verbreitet, aber schon damals war er massiv vom Menschen bedroht. 10. O-Ton: Clara Stefen Also er ist in Australien vor allem von Schafzüchtern und assoziierten Leuten gejagt worden. Die Regierung hat sogar Prämien für die Jagd ausgesetzt. Das ging bis 1909 ungefähr, dass wirklich die Prämien ausgezahlt wurden. Dann ist es wirklich schlagartig zum Abfall von der Population gekommen und 1930 wurde der letzte geschossen. SPR: Clara Stefen macht beim Rundgang durch die Sammlungsräume auch bei dem Präparat eines Säugetieres halt, das heute vom Aussterben bedroht ist. Brehm verfasste in der zweiten Auflage des "Thierlebens" sechs lange Seiten über das Tier. Entgegen der liebevollen Zeichnung schrieb der Tiervater stellenweise aber gar nicht väterlich, sondern abfällig und subjektiv. ZITATOR Eines Mitgliedes der Familie der Nagetiere müssen wir vor allen andern gedenken, des Hamsters nämlich, dieses sprichwörtlich gewordenen, habsüchtigen Geschöpfes, welches sich auf Kosten des Menschen zu ernähren und diesen ganz gehörig zu brandschatzen weiss. Der Hamster trägt Wintervorräte ein, wie so viele andere seiner Familie, aber er ist dabei unbescheidener, als alle übrigen Winterschläfer; denn ein einziger dieser unverschämten Gesellen schleppt, wenn er kann, bis zu einem Zentner an Körnern in seinen Bau. Dieses leiblich recht hübsche, geistig aber umso hässlichere, boshafte und bissige Geschöpf erreicht eine Gesamtlänge von ungefähr einem Fuss, wovon auf den Schwanz kaum zwei Zoll kommen. Fruchtbare Getreidefelder vom Rhein bis an den Ob in Sibirien sind der Aufenthalt unseres Hamsters. Gebirge meidet er. In Deutschland fehlt er in den südlich und westlich gelegenen Ländern, sowie in Ost- und Westpreußen; dagegen ist er häufig in Thüringen und Sachsen. 11. O-Ton: Clara Stefen Ja, das ist ein Feldhamster. Der früher in Mitteldeutschland sehr häufig war. Er wurde ja auch gejagt und erschlagen des Fells wegen, die genutzt wurden und so zu Hunderten überfahren. Aber der Rückgang wird schon in den 60iger und Ende 70iger Jahren angefangen haben und heute sind in Deutschland nur noch kleine Restpopulationen davon übrig. In Osteuropa ist er generell noch ein bisschen häufiger. Aber auch da ist ein Rückgang der Populationen zu verzeichnen. Zitator: Auf der zwölftausend Acker umfassenden Stadtflur von Gotha wurden in zwölf Jahren über eine Viertelmillion Hamster erbeutet und an die Stadtbehörde zur Einlösung abgeliefert. SPR: Berichtete Brehm schon 1880 über die Anfänge der Ausrottung des Hamsters. Der Zoologe kümmerte sich bei seinen Recherchen für das "Thierleben" sehr um die ausgestorbenen Säugetiere der Neuzeit. So auch um die "Stellersche Seekuh". Brehm wusste noch nicht, dass diese Seetiere gemeinsame Vorfahren mit den Elefanten besitzen. Das Museum für Tierkunde in Dresden ist einer der wenigen Orte in der Welt, an dem ein fast vollständiges Skelett präsentiert wird. Die Kustodin der Säugetiersammlung Clara Stefen: 12. O-Ton: Clara Stefen 3.12 Das ist jetzt das Skelett von der Stellerschen Seekuh, die ausgestorbene Riesensehkuh von den Beringinseln. Montiert auf ein Stahlgerüst, so dass sie quasi in der richtigen Größe auch zu sehen ist. Man nimmt an, dass sie ungefähr bis zu sieben Metern werden konnten. Unsere ist nicht ganz so lang. Bisschen was von den Schwanzwirbeln fehlt. Wird etwa zwei Meter hoch. Das ist schon eine Besonderheit, dass man das auch halt konserviert und aufhebt auch für später, dass sich andere Leute das auch noch angucken können. SPR: Brehm nutzte die Chance der Tierenzyklopädie, um sowohl über die Artenvielfalt als auch über das Artensterben zu informieren. Auch bei seiner Lektüre der alten Autoren fahndete Brehm gezielt nach ausgestorbenen Tieren. Der Pfarrer, Ornithologe und Brehmforscher Hans-Dietrich Haemmerlein aus Thiemendorf in Sachsen. 13. O-Ton: Hans-Dietrich Haemmerlein Ein Beispiel könnte der berühmte Auerochse Bos primigenius sein, der zum Beispiel auch in der Bibel vorkommt. Mit seiner Leidenschaft für alte Berichterstatter versammelt Brehm in seinem 'Thierleben' Zeugen, die dieses Tier Auerochse nicht wie manche mit dem Wisent Bison bonasus verwechselt, sondern bewusst verglichen haben. Das konnte Alfred Brehm selber nicht mehr machen, weil es zu seiner Zeit die Auerochsen schon nicht mehr gab. Aber seine Literaturschau beginnt mit Cäsar, das ist das erste vorchristliche Jahrhundert. Cäsar hat die Auerochsen in seinen Menageriezügen gehabt und auch in seinen Werken beschrieben. Diese Rundschau durch die Literatur Alfred Brehms geht dann weiter, bis zum Mittelalter, bis zu Gessner und dann hören allmählich die Zeugen auf, im 17. Jahrhundert, die den Auerochsen noch lebend beschreiben konnten." SPR: Zu den Naturforschern, die bereits vor Darwin und Brehm ein reges Interesse für ausgestorbene Säugetiere entwickelten, gehörte Johann Wolfgang von Goethe. Bei einem Rundgang durch das Phyletische Museum in Jena berichtet der Direktor Martin Fischer von der Faszination des Dichters für ein besonderes Skelett: 14. O-Ton: Martin S. Fischer 22 Als Goethe erfuhr, dass es gefunden wurde, hat er es sich sofort reservieren lassen. Die Post ging innerhalb eines Tages dreimal hin und her von Weimar nach Jena. Und er hat ein spezifisches Interesse gehabt. Das ist jetzt wieder charakteristisch für Goethe. Ihn interessiert nicht unbedingt nur die Anatomie, sondern das Gehirn dieses fossilen Stiers hat ja eine wunderbare Kurve, eine ganz elegante Kurve und diese elegante Kurve, die ist für Goethe Ausdruck eines der Natur innewohnenden Schönheitsbedürfnisses. Eine hochinteressante Fragestellung, die aber ganz anders ist als heute die wissenschaftliche Fragestellung. SPR: Es handelt sich bei dem Skelett um einen fossilen Auerochsen, dessen Alter inzwischen auf etwa 9.000 Jahre bestimmt wurde. 15. O-Ton: Martin S. Fischer 23 Mit diesem fossilen Stier hier, da haben wir es auch wieder mit einem besonderen Exemplar zu tun: Er ist deutlich größer als die heutigen Rinder, was Goethe auch sieht und Goethe stellt in den Schriften "Fossiler Stier I" und "Fossiler Stier II" dann die Überlegung an, ob es in gewisser Weise zu einer Veränderung von Arten gekommen ist. Das hat natürlich noch lange nichts mit Darwin zu tun. Aber er reflektiert zum ersten Mal, ob Arten statische Einheiten sind oder ob nicht doch eine Entwicklung in den Arten möglich ist, insofern ein wichtiges, ein Schlüsselstück der Evolution. SPR: Zu Beginn eines zweiseitigen Porträts schrieb Brehm im "Thierleben", nachdem er den Wisent abgehandelt hatte, zum Thema "Auerochs". Zitator: "Mit letzterem Namen bezeichneten unsere Vorfahren ein von jenem durchaus verschiedenes, längst ausgestorbenes Rind. Regie: Akzent SPR: Brehms "Thierleben" wird nicht mehr als eine bloße Zusammenstellung von Organismen der Erde gesehen, sondern entwickelte sich zu einem kritischen Gedächtnis der Naturgeschichte. Trotz der räumlich konzipierten Anordnung der Tierbände Brehms beginnend mit den Menschen, den Menschenaffen und den Säugetieren bis hinunter zu den Fischen, Insekten und Niederen Tieren war die Enzyklopädie aus dem Bibliographischen Institut von Herrmann Julius Meyer gleichzeitig ein Werk des Übergangs von Linné zu Darwin. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten. Leipzig. S. 307. Brehms Thierleben. Erster Band. Leipzig 1876. S. 27. Ebenda, S. 41. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten. Leipzig. S. 309. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 1974. S. 172. Brehms Thierleben. Sechster Band. Leipzig 1879. S. 632. Ebenda, S. 635. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten. Leipzig. S. 309. Ebenda, S. 375. Brehms Thierleben. Dritter Band. Leipzig 1880. S. 386. 12