COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Von Barbara Wahlster Shakespeare - unser Zeitgenosse? Zur Aktualität seiner dramatischen und poetischen Konzepte Naomi Alderman und Mark Ravenhill im Gespräch mit Barbara Wahlster Übersetzung 1. Frage MR/Sprecher Ja, ich denke, das gehört in unserem Alltag zu den interessanten Dingen bezüglich Shakespeare, dass wir tatsächlich ganz häufig Sachen sagen, die er erfunden hat, ohne dass uns überhaupt bewusst ist, dass er sie in die englische Sprache eingeführt hat. Wir benutzen das eher ganz automatisch. Es gibt eine schöne Geschichte über einen Touristen, der sich Hamlet angeschaut hat in der Royal Shakespeare Compagny und anschließend gesagt hat: Er habe da nichts anders gehört als eine riesige Aneinanderreihung von Klischees. So bekannt und vertraut klingt das für uns, dass man dann Shakespeare mit diesen angeblichen Klischees in Verbindung bringt. Es stimmt also schon: Das Englische ist völlig durchdrungen und infiziert von Shakespeare. NA / Sprecherin Eines liebe ich ganz besonders - und das wird so häufig gebraucht, dass niemand es mit Shakespeare verbindet: "Der Eingebung des Augenblicks folgend". Wir sagen das so häufig, dass es fast scheint, als würden wir den einzelnen Worten in dem Ausdruck gar keine Bedeutung mehr zumessen. Sagen einfach "The spear oft he moment - noch während wir etwas tun. Aber das Spezifische daran - dass man nämlich tatsächlich von Pferden spricht - davon, wie ein Sporn in die Seite des Pferdes geschlagen wird ... ist weggerückt. Und je länger man darüber nachdenkt, desto reicher scheint einem dann der Vergleich. Es gibt wirklich eine Fülle von solchen Zitaten in unserer Sprache und es wäre erhellend, das genauer zu untersuchen. Da haben wir Glück. Shakespeare hat ja offensichtlich doch eine Menge seiner Plots von anderen gestohlen - aus Chroniken und Legenden. Und es ist immer hübsch, wenn man einen Widerhall von Shakespeare im eigenen Werk entdeckt und einen Weg findet, wie man leise etwas anspielt - das ist wie eine Gabe der Sprache, die uns das ermöglicht. Etwas zu finden, das an etwas erinnert. 2. Frage NA/Sprecherin: Ich bin mir nicht sicher, ob mir das so ergangen ist. Auch wenn ich heute noch als junge Schriftstellerin gelte, so bin ich doch nicht mehr weit von den 50 entfernt und schreibe auch schon seit einer Weile. Ich bin in einer ziemlich fundamentalistischen jüdischen Familie aufgewachsen, wo es dazu gehört hat, große Teile der Bibel auf Hebräisch auswendig zu lernen. Im Vergleich dazu, das Leben an auswendig gelernten antiken Texten auszurichten, ist Shakespeare und sein Umfeld weitaus interessanter. Sowohl Shakespeare als auch die Bibel stecken voller Widersprüche, aber bei Shakespeare gehört es dazu - das ist nun mal Kunst. In der Bibel ist es ziemlich knifflig. MR / Sprecher Für mich gab es da eine Zeit, wo es mir schwerfiel auf Englisch zu schreiben, Theaterstücke auf Englisch zu schreiben. Sie sagten eben, Shakespeare habe alles thematisiert, alle menschlichen Erfahrungen, Konfliktfelder beschrieben. Ich würde das doch in Frage stellen. Auch wenn er tatsächlich vieles abgedeckt hat. Mich hat das eine Weile abgeschreckt und ich habe mir die Frage gestellt, warum ich überhaupt ein Stück auf Englisch schreiben sollte, wenn dieser Typ doch angeblich schon alles gesagt hat, was es zu sagen gibt. Und dann kommt man darauf, dass es eben durchaus Gebiete und Gedanken und Verknüpfungen gibt, die bei Shakespeare nicht vorkommen. Dass es also ein Stück gibt, das ich schreiben muß, das von mir geschrieben werden muß. Weil da eine Leerstelle existiert, die nach einem Stück verlangt. Und so habe ich dann das Stück geschrieben. Aber ja, davor war ich ausgebremst. NA / Sprecherin Das trifft vielleicht sogar auf jeden Schriftsteller zu. Man kommt doch häufig an einen Punkt, wo man glaubt, nicht mehr schreiben zu können, wegen eines bestimmten Schriftstellers. Für viele männliche Kollegen meiner Generation ist es Philipp Roth. Nach dem Motto, Philipp Roth hat das schon beschrieben, warum sollte ich das auch noch machen? Ich habe es da einfach - ich kann sagen, Philipp Roth, gut und schön, aber seine Frauenfiguren berühren mich überhaupt nicht. Und da habe ich dann durchaus etwas Neues zu sagen. Das ist schon ziemlich interessant: als brauchte man ein Idol, um dieses Idol dann vom Sockel zu stoßen. 3. Frage MR / Sprecher Na ja, es gibt da schon einen geheimnisvollen Faktor: das Genie. Einen Faktor, den wir nicht erklären, nicht auflösen können. Er schrieb allerdings auch in einer sehr spezifischen historischen Situation, als der Katholizismus, das gesamte Glaubenssystem, das er strukturiert hat, hinweggefegt wurde durch eine neue protestantische Energie. Er hat die Geburt des Kapitalismus hautnah erlebt. Das heißt die gesamten ökonomischen und sozialen Strukturen haben sich in Luft aufgelöst. In England wurde die Welt gewissermaßen neu erfunden. Der Beginn des Empire stand bevor, als das Land Anspruch auf die ganze Welt angemeldet hat. Und gleichzeitig ist die Sprache explodiert. Noch gab es keine Wörterbücher, keine festgelegte Orthographie, keine festgelegten Wortbedeutungen. Also neben dem Geheimnis des Genies gab es eben auch den Geist einer plötzlich aufreißenden Zeit. Mit einem Mal war das Potential gegeben, über all die unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen zu schreiben, die bis dahin keinen Ausdruck, keinen Platz fanden in dem geordneten, feudalen, katholischen System. NA / Sprecherin Dieses Land ging durch extreme traumatische Zeiten mit unzähligen Massakern, Menschen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sie gingen durch eine schreckliche Phase voller Chaos und Durcheinander; noch dazu das psychologische Trauma des Bruchs mit dem Katholizismus. Es gibt da den entscheidenden Unterschied, ob man über traumatische Erfahrungen im eigenen Leben schreibt oder über ein Land, eine Gesellschaft, eine Gruppe. Da entsteht eine gewisse Art von Offenheit. Die Stellung, die er in der Welt hatte, erlaubte es Shakespeare, nach beiden Seiten Kontakt zu haben - zu denen Oben und zu denen Unten. Obwohl wir uns gerne als durchlässige Gesellschaft betrachten, bin ich mir nicht so sicher, ob es für mich jemals im Rahmen des Möglichen stehen würde, mit einem Herzog befreundet zu sein. Shakespeares Zeit und seine eigene Situation haben ihm ganz ohne Zweifel Zugang zu einer Menge Rohmaterial verschafft. Ich bin auch überzeugt davon, dass bestimmte Menschen aus Erfahrung, die man selbst auch gemacht hat, Dinge schaffen können, derentwegen man sie ganz einfach als überlegen oder als genial akzeptieren muß. Auch wenn es einem mißfällt. MR / Sprecher Mir scheint auch wichtig, dass er damals in keiner Weise ängstlich war. Wobei ängstlich ein Wort von mir ist, als könnte ich entscheiden, wie er fühlte. Was ich sagen will: Autorschaft war nicht so festgeschrieben. Von vielen seiner Stücke, zumindest seiner frühen, wusste niemand, wer sie überhaupt geschrieben hat. Es war nicht nötig, dass die Stücke erschienen mit seinem Namen auf dem Umschlag. Für mich ist die Frage nach dem grundsätzliche Status der Autorschaft weitaus wichtiger als die Frage, ob er nun tatsächlich ein bestimmtes Stück geschrieben hat oder nicht. Entscheidend ist: William Shakespeare schrieb die Stücke nicht als W.S. - in Großbuchstaben. Das ist doch befreiend! Wir müssen immer mit dem eigenen Ich, der eigenen Meinung, der eigenen Stimme herhalten, wenn wir eine kollektive Situation für eine Gruppe von Schauspielern und für das Publikum herstellen wollen. Dabei geht es doch nicht darum das eigene Selbst, als Person, als Autor in den Mittelpunkt zu stellen - gewissermaßen als diese eine patriarchale Stimme. Er hatte die Freiheit, eine Vielfalt von Stimmen zu entwickeln. NA / Sprecherin Häufig passiert es ja auch hinterher, wenn man Shakespeare gesehen hat und plötzlich überrascht ist: oh - und du willst mehr über den Autor erfahren. Wir wissen ja erstaunlich wenig, denn von ihm gibt es keine Radio-Interviews. Niemand hat sich damals hingesetzt und gedacht, er müsse dringend etwas über Shakespeare und beispielsweise Hamlet schreiben. Das ist doch interessant, dass es all das nicht gibt. Und ich frage mich, wie weit wir heute nicht störend eingreifen, wenn wir Schriftsteller permanent nach ihrem Leben befragen und ihren Ideen, ihrem Verhältnis zum Schreiben. Vielleicht hätten Einblicke in Shakespeares Liebesleben Erklärungen geliefert. Wären aber unter Umständen dem in die Quere gekommen, was ihm ermöglicht hat zu schreiben. MR / Sprecher Er schrieb genau zu Beginn einer Entwicklung, die wir heute als die hin zum bürgerlichen Individualsimus beschreiben. Und er war in der Lage, diese Individuen zu sehen, sie zu erschaffen - und die Art, wie er sie in seinem Werk präsentiert, hat nichts mit Self-Marketing als bürgerliches Individuum zu tun. In gewisser Weise war er sein Werk - und nicht sein eigener Verkäufer. 4. Frage MR / Sprecher Es war ja, denke ich, genau der Moment, wo Handel, bzw Geschäfte und Schulden möglich wurden. Das war neu, dass man die Möglichkeit hatte, Geld zu leihen und dafür Zinsen zu zahlen. Dieser Wandel war grundlegend für den Kapitalismus. Und das war die Realität in Shakespeares Zeit. Ich glaube Brecht sagte, dass wir es schwer ertragen, wenn in Theaterstücken Geld ins Spiel kommt, wenn wir sehen, dass es um Geldprobleme geht. Er hat das wahrscheinlich in den 1920er - 30er Jahren beobachtet. Und ich glaube, dass das bis heute stimmt. Brecht hat das Theater vielleicht gar nicht so sehr verändert, wie er das gerne getan hätte. Wir haben doch immer noch die Tendenz vermeiden zu wollen, dass Charaktere auf der Bühne über Geld sprechen. Wohingegen wir im alltäglichen Leben permanent darüber sprechen. Wir gehen bis heute ins Theater, um große Leidenschaften zu sehen. Aber wenn man sich Shakespeares Stücke mal genauer anschaut, ja, dann geht es in der Tat sehr oft um Geschäfte, um Geld, um Profit und Zins - ums Kaufen und Verkaufen. Einige Stücke fangen diesen Moment der Geburt des Kapitalismus sehr genau ein. Doch bis heute, finde ich, hören wir da nicht genau hin. Weil wir denken, dass das keine Dichtung sei. NA / Sprecherin () Mich erinnert das daran, dass wir uns vorstellen, Schriftsteller, Künstler sollten doch lieber nicht an Geld denken, wenn sie etwas schaffen, weil das dem künstlerischen Prozeß zuwiderlaufe. Gleichzeitig wissen wir, dass Shakespeares Stücke interessieren mussten. Wenn das Publikum wegblieb, hatte ein Stück seine Berechtigung verloren. Es war sinnlos, so etwas zu schreiben. Kann ich das Publikum begeistern, kann ich dieses Stück ein paar Wochen lang aufführen, wird es genügend einbringen, dass meine Kosten und die Löhne für meine Schauspieler gedeckt sind? Wenn man sich gar nicht um sein Publikum schert, dann hat das doch etwas Genusssüchtiges fast - und das gibt es bei Shakespeare nicht. (Lachen von beiden) 5. Frage NA / Sprecherin () Mich erinnert das an eine nicht so weit zurückliegende blödsinnige Aktion eines Schriftstellers, der Jane Austins Manuskripte abgeschrieben und sie verschiedenen Verlagen als eigene Arbeiten angeboten hat. Dann hielt er die Absagen hoch und regte sich darüber auf. Der Punkt ist aber doch: Diese Romane waren bereits geschrieben worden. Würden Shakespeare oder Jane Austin heute leben, dann griffen sie doch auf alles bereits angehäufte Wissen zurück und würden einen neuen Aspekt herausfiltern, etwas, woran noch niemand gedacht hat. Das ist die Rolle von Schriftstellern. Ob Shakespeare heute "The Wire" schreiben würde, ist nicht entscheidend. Vielleicht ja. Vielleicht würde er fürs Kino schreiben oder Videospiele entwickeln. Vielleicht würde er Theaterstücke schreiben, weil da noch einiges Interessantes zu tun ist. Mit so einer Frage versuchen wir wahrscheinlich die Vergangenheit dazu zu benutzen, uns selbst zu rechtfertigen? ... Ich glaube, wir machen tolle Sachen, großartige Kunst in allen möglichen Sparten. Auch heute entstehen Dinge, die überleben, die die Zeit überdauern werden und darum hätte Shakespeares Kreativität in unserer Zeit eine ganze Menge Möglichkeiten. Auch heute gibt es ungeheuer talentierte Menschen, deren Arbeiten gleichermaßen begeistern. Da müssen wir uns nicht hinter der Vergangenheit verstecken. 6. Frage MR / Sprecher Nun ja, jeder steckt in einem bestimmten historischen Moment. Wenn Shakespeare heute in Stratford upon Avon geboren würde, wäre da unten an der Strasse ein Theater, das Royal Shakespeare Theatre, wo er sich Stücke anschauen würde, von jemandem namens Shakespeare. Dann würde er bestimmt denken: Diese Stücke brauche ich nicht zu schreiben - die gibt es ja bereits. Wahrscheinlich wäre er irgendein kleiner Beamter in einer lokalen Verwaltung, vielleicht mit Computer - in einer ziemlich langweiligen Ehe. () Er wäre befreit von der Notwendigkeit Kunst zu machen und würde sein Leben als kleiner Bürokrat verbringen, denke ich. NA Sprecherin Seine Schwester hätte mehr daraus gemacht. Die Virginia Wolf erfunden hat. MR / Sprecher Ja, Judith Shakespeare hätte mehr Erfolg. NA / Sprecherin Sie hätte sich die Stücke angeschaut und die Frauenfiguren schlecht gefunden und dann beschlossen, dass es da mehr dazu zu sagen gibt. MR / Sprecher Sie würde am anderen Ende der Strasse das Judith Shakespeare Theatre aufziehen und brillante Stücke für unsere Zeit schreiben. NA / Sprecherin Und William wäre entzückt: wie toll Judith, ich weiß gar nicht, wie du das machst. 7. Frage MR / Sprecher Momentan kann man die Sonette ja hier um die Ecke gesungen hören. Rufus Wrainwright in der Robert Wilson Inszenierung; ein wunderbares Stück. Aber ich weiß, was Sie meinen: Man sollte sie lesen. NA / Sprecherin Mir geht das gegen den Strich, in der Kunst irgendwelche Vorschriften zu machen. Es gibt nicht die eine Art, Erfahrungen zu machen. Unglaublich gute Aufführungen stehen neben wundervollen Filmen, die BBC hat eine herausragende Sache gemacht: "Shakespeare unlocked". Das ist immer noch online und ich kann das nur empfehlen: Schauspieler gehen immer wieder durch eine bestimmte Szene aus dem "Sommernachtstraum" und sprechen sie mit unterschiedlichen Betonungen und Absichten. () Und wenn man gerne liest, dann soll man eben lesen. () Dann hat man Zeit, sich jeden Satz genau anzuschauen. In einer Aufführung kriegt man die Frische eines Schauspielers. Jeder nach seinem Geschmack, würde ich sagen. (Lachen) 8. Frage MR / Sprecher Es hat vielleicht mit der Zeit zu tun, als Deutschland Shakespeare entdeckt hat, also die Zeit der Romantik und des Sturm und Drang. Offensichtlich gab es da bestimmte Affinitäten zu den Geschichtsstücken und den Tragödien. Das scheint mir wesentlich. Die Engländer würde vielleicht sagen, dass die Deutschen keinen Sinn für Humor haben und dass sie deswegen die Komödien nicht mögen. Ich bin da nicht einverstanden, weil ich finde, dass die Deutschen einen phantastischen Sinn für Humor haben. Es hat wohl mehr zu tun mit der Zeit, als die Deutschen entschieden haben, wer ihr Shakespeare sein sollte. Den Romantikern sagten die Komödien weniger. 9. Frage MR / Sprecher Wenn da rein gar nichts Zeitgenössisches in Shakespeares Stücken steckte, würden wir nichts für uns finden, das Buch zurück ins Regal stellen und als historisch abtun. Es muß also doch einiges drinstecken, was wir nützlich und relevant finden, was uns anspricht. Gleichzeitig muß ich sagen, dass ich es nicht hilfreich finde, wenn wir alle historischen Gräben zuschütten. Ich glaube, wir sollten diese Stücke lesen und aufführen, so wie Brecht das vorgeschlagen hat. Dass wir sie lesen und genau achtgeben auf die Momente, wo wir eine unmittelbare Verbindung spüren und ebenso sorgfältig registrieren und nicht unterschlagen, wo das eben nicht der Fall ist; wo wir überrascht oder schockiert sind und die Distanz wahrnehmen. (Aber wer tut das schon?) Angesichts der komplexen Beziehungen zum Text und der Suche nach einer angemessenen Umsetzung der Stücke, finde ich Brecht ganz einfach sehr einleuchtend und präzise. Mir scheint das die beste Art, diese Stücke zu inszenieren. 10. Frage NA / Sprecherin Für mich ist Shakespeare unglaublich gut in allen Fragen der Machtbeziehungen: ihre Strukturen, ihr Einfluß auf Menschen, wie Mächtige sich gegenüber weniger Mächtigen verhalten. Das sind Dinge, die bis heute bestehen in den menschlichen Beziehungen. (Es gibt immer Mächtigere und weniger Mächtige.) Daraus ziehe ich sehr viele Anregungen. Zur Zeit arbeite ich an einem Buch über organisiertes Verbrechen. Da tauchen solche Shakespeare-Themen durchaus auf. Andererseits finde ich es absolut in Ordnung, nicht aus allen seinen Frauenfiguren moderne, aufgeklärte, emanzipierte Frauen zu machen. Ich weiß, dass wir "Der Widerspenstigen Zähmung" gerne so lesen wollen, dass wir ausrufen können: Was für eine großartige feministische Geschichte! Aber es ist keine großartige feministische Geschichte! () Wir brauchen doch Shakespeare nicht anzupassen an alle Generationen. Es reicht doch zu sagen, dass er ein Mann seiner Zeit mit den Vorurteilen seiner Zeit war. Und seine Größe besteht darin, dass er Charaktere erschaffen hat, die bei anderen viel stereotyper ausgefallen wären und bei ihm sind sie vollständige menschliche Figuren. Das ist wunderbar. Unsere moralische Zustimmung zu allem, was sich bei Shakespeare findet, ist da gar nicht gefragt. Offensichtlich ruft das bei mir eine Leidenschaft hervor, von der ich gar nicht wusste, als ich anfing zu sprechen. 11. Frage MR / Sprecher Wahrscheinlich würde ich in 6 Monaten etwas anderes antworten als noch vor 6 Monaten. Im Moment ist entscheidend, dass ganz gleich wie groß die Stücke sind: Er versucht alles in ihnen unterzubringen. Wenn er eine bestimmte Welt zeigt, dann versucht er so viel wie irgend möglich von dieser Welt aufzuzeigen. Es gibt Stücke ohne jegliche Angst vor Form und Struktur - in gewisser Weise ist da alles hineingestopft: alle Widersprüche, alle Verdrehtheiten und Verwicklungen, einzelne Worte widersprechen sich selbst, Charaktere, Situationen widersprechen sich. Es ist der Versuch, eine Welt auf die Bühne zu bringen, das ist schier unmöglich, aber ich liebe die Sorglosigkeit dieses Versuchs. 12. Frage MR / Sprecher Ich habe eben schon gesagt, dass ich glaube, das war eher der Welt damals geschuldet und der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der sie sich plötzlich erweitert hat. Selbst Strukturen, die noch in Shakespeares Kindheit existiert haben, waren mit einem Mal verschwunden. Und dann war alles möglich: anything was possible. Ja, das war es wohl. Und hinzu kam ein Publikum, dem es völlig gleichgültig war, um welches Genre es sich da handelte, das sich an überhaupt keinen Schauspiel- Regeln festhielt. Die Regeln waren ja noch nicht kodifiziert - also war es offen und tat nichts anderes, als sich dieser Sache, diesem ganzen widersprüchlichen Geschäft hinzugeben. 13. Frage MR / Sprecher Ob er es wollte, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall aber ermöglichte er den Ausdruck neuer Gedanken, neuer Gefühle und auch neuer Gedanken, die niemand zuvor artikuliert hatte. Er hat den Menschen fast so etwas wie neue Denkmuster angeboten, neue neurologische Möglichkeiten, könnte man sogar sagen. Und das macht nicht nur andere Gedanken, sondern auch andere Handlungen möglich. Wir haben keinerlei Beweise dafür, ob er das nun bewusst getan hat oder nicht; aber wie jeder große Schriftsteller, öffnete er dem Denken neue mögliche Wege. NA / Sprecherin Jemand sagte, er habe 2000 Wörter beigesteuert zur Englischen Sprache. Für jeden, der Sprache ernst nimmt, ist das eine großartige Erweiterung der Denk- und Diskussionsmöglichkeiten. Wir müssen doch keinen Aktivisten aus ihm machen. Vielleicht war er das genaue Gegenteil. Ob er die Stücke geschrieben hat oder jemand anderes - für mich ist das total uninteressant. Von wem das Werk auch stammen mag - es nimmt das menschliche Herz ernst, den menschlichen Intellekt und wenn man an die Kraft der Literatur glaubt, dann ist das allein schon weltbewegend. 1