COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. JUNGE DINGER Literaturfeature von Katharina Döbler im Deutschlandradio Kultur am 26.8.2008 Zitat1 Zitat2 Sprecherin Sprecher Zitat1: GEORGE ELIOT Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, die schöpferische Kraft eines Mannes zu besitzen und dennoch die Sklaverei erdulden zu müssen, ein Mädchen zu sein. Sprecher: Das schrieb George Eliot. George lebte von 1819 bis 1880 und war einer der wichtigsten Autoren im viktorianischen England. Er gab eine wichtige Zeitschrift heraus, spielte sehr gut Tennis und galt als skandalöse Person. Der Grund dafür war, dass er in Wirklichkeit gar nicht George Eliot hieß, sondern Mary Ann Evans. Mary Ann hatte es noch nötig, oder glaubte, es nötig zu haben, dass ihre Leser sie für einen Mann hielten. Mädchenhaftigkeit, das war für sie: Sklaverei. Sprecherin: Mädchenhaft. Das ist: Tugendhaft. Unschuldig. Launenhaft. Verführerisch. Naiv. Anmutig. Jungfräulich. Sprecher: Im Jahr 1883 erschien in Deutschland der paradigmatische Mädchen-Erziehungsroman, ein riesiger Verkaufserfolg für Jahrzehnte: "Der Trotzkopf" von Emmy von Rhoden. Sprecherin: Der Trotzkopf ist eine Halbwaise, unangepasste Tochter aus gutem Hause, die der geliebte Vater in aller Freiheit hat aufwachsen lassen. Nun schickt die Stiefmutter sie in ein Mädchenpensionat, wo sie den geschlechtsspezifischen Schliff bekommt. Zitat1: TROTZKOPF S.66 Ein Kind muss bitten können und ein Mädchen vor allem. (...)Lerne nachgeben, mein Kind, lerne vor allem dich beherrschen! Glaube mir, Trotz und Widerstand sind in einem Mädchenherzen böses Unkraut und überwuchern oft die besten, heiligsten Gefühle. Sprecher: Als das Mädchen die Lektionen der Unterwürfigkeit gelernt hat, darf es direkt nach der Schule einen angehenden Justizbeamten heiraten. Sprecherin: Den bekanntesten theoretischen Überbau zur Erziehung von Mädchen im besonderen und der Beschaffenheit des weiblichen Gehirns im allgemeinen lieferte ein Traktat, das genau zur Jahrhundertwende erschien. Zitat2: MOEBIUS S. 47 Das Mädchen ereifert sich für Dinge, die sie gar nichts angehen, interessiert sich (...) für alle möglichen Sachen, urteilt, streitet, kurz sie erscheint als geistvoll(...) Nun heiratet sie, und nach kurzer Zeit wird sie eine andere. Aus dem feurigen, oft glänzenden Mädchen wird sie eine schlichte, harmlose Frau. Sprecher: Die Schrift mit dem aussagekräftigen Titel: "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" verkaufte sich in den letzten Jahren des Kaiserreichs wie warme Semmeln. Verfasser war Dr. Paul Julius Möbius (1853 bis 1907), eine Koryphäe der Neurologie aus Leipzig, Vertrauter und geschätzter Kollege von Dr. Sigmund Freud. Zitat2: MOEBIUS Körperlich genommen ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib ein Mittelding zwischen Kind und Mann, und geistig ist sie es, wenigstens in vielen Hinsichten, auch. Sprecherin: Weiber sind nach Definition des Dr. Moebius Mitteldinger. Keine Erwachsenen, sondern eigentlich Mädchen. Dinger mit zu kleinen Gehirnen. Zitat1: TROTZKOPF S. 57 Liebes Papachen, Ich weiß nur, dass ich sehr dumm bin. Warum muss ich mich unnütz quälen? Sprecher: Am Ende des Ersten Weltkriegs wurden die alten Gesellschaften der Belle Epoque durcheinander geschüttelt und die sozialen Rollen gewaltig verändert. In England erschienen die Bücher von Virginia Woolf. MUSIK: Schlagermusik der 20er Sprecherin: Die Frauen trugen kürzere Röcke, Bubiköpfe, und keine Korsetts mehr. Sie wurden sichtbarer. Sprecher: Es gab viel mehr berufstätige Frauen, es gab Journalistinnen, emanzipatorische Frauenzeitungen, Dichterinnen und die berühmten Ausdruckstänzerinnen. Zitat2: MOEBIUS S. 99/100 Die ungewöhnlich begabten Mädchen werden geboren, wir mögen wollen oder nicht(...)Die weiblichen Talent-Träger sind Opfer (..) Dass die weiblichen Maler, Bildhauer, Gelehrten unersetzlich wären, wird kein Verständiger behaupten wollen. Bleibt also nur die Poesie. Jedoch, so anmutig viele Frauen-Bücher auch sind, etwas neues, unentbehrliches wird man bei ihnen vergebens suchen. Sprecherin: Durchaus neu, aber keineswegs anmutig, war der Ton, den junge Autorinnen anschlugen. Solche wie Imgard Keun. Ihr Roman "Das kunstseidene Mädchen" machte mit seinem Witz, seiner Respektlosigkeit und seinem mädchenhaften Charme Furore - aber auch Skandal. Zitat1: IRMGARD KEUN (kürzen) Jetzt sitze ich hier in einem Lokal und habe furchtbar viel Leberwurst gegessen, trotzdem jeder Bissen mir im Hals würgte, aber ist dann doch runtergegangen, und hoffentlich schadet es mir nicht auf die entsetzliche Aufregung. Denn ich bin aus meiner Stellung entlassen und zittre in den Gliedern. Und nach Hause gehen habe ich geradezu Angst, ich kenne meinen Vater als ausgesprochen unangenehmen Mensch ohne Humor, wenn er zu Hause ist. Man kennt das - dass Männer, die am Stammtisch und in der Wirtschaft italienische Sonne markieren und immer die Schnauze vorneweg und alles unterhalten - dass die zu Haus in der Familie so sauer sind, dass man sie am Morgen nach einer versoffenen Nacht nur ansehen braucht und spart einen Rollmops. Und alles kam so: ich hatte zu wenig Briefe geschrieben und musste auf einmal mit Dampf loslegen, um noch was fertig zu kriegen. Und guck schon gleich beim Reinbringen wie Marlene Dietrich so mit Klappaugen- Marke: husch ins Bett. Und geh zum Pickelgesicht ins Büro - alle sind fort - nur er und ich sind noch da. Und er sieht meine Briefe durch und macht Kommas mit Tinte - ich denke: was bleibt dir übrig! Und lehne mich aus Versehen leicht an ihn. Und malt immer mehr Kommas und streicht und verbessert, und will auf einmal bei einem Brief sagen: der muss noch einmal geschrieben werden. Aber bei "nochmal" gebe ich mit meinem Busen einen Druck gegen seine Schulter, und wie er aufguckt, zittre ich noch für alle Fälle wild mit den Nasenflügeln, weil ich doch fort wollte (...) und musste das Pickelgesicht darum ablenken und machte ein Nasenflügelbeben wie ein belgisches Riesenkaninchen beim Kohlfressen. Und will gerade sinnlich hauchen, dass ich müde bin und mein armer alter Vater mit Rheumatismus wartet, dass ich ihm "Das Glück auf der Schwelle" vorlese - will ich grad sagen, da passiert es, und ich merke zu spät, dass ich mit meinen Nasenflügeln zu weit gegangen bin. Sprecher: Irmgard Keun war die unverstellte Stimme der jungen Dinger: die intelligent waren, aber nicht gebildet, die etwas aus sich machen wollten, aber abhängig blieben von den Zuwendungen der Männer: Der Chefs, der Väter, der reichen Liebhaber, der Impresarios. Sprecherin: Zwei Jahre nach Erscheinen ihres Romans war die Zeit des Aufbruchs vorbei. Irmgard Keun ging ins Exil, wie so viele andere. MUSIK Lili Marleen?? Sprecherin: 1941 aber wuchs in der schwedischen Literatur ein Mädchen heran, das so über alle Maßen trotzig, laut, verfressen, unbescheiden, hässlich und vor allen Dingen kräftig war, dass es aller Mädchenhaftigkeit widersprach. Zitat ASTRID LINDGREN Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt und wohnte ganz allein da. Sie hatte keine Mutter und keinen Vater und eigentlich war das sehr schön. Sprecherin: Es war nur ein Kinderbuch. Sprecher: Aber die Literaturgeschichte verdankt Astrid Lindgren die erste fiktive Darstellung vollständiger weiblicher Autonomie. Sprecherin: Pippi hat Geld, Kraft und Selbstwertgefühl. Zitat1: ASTRID LINDGREN "Damit ist es jetzt vorbei", sagte der feine Herr. "Ich will keine Kinder in meinem Garten herumlaufen haben. Kinder sind das Schlimmste, was es für mich gibt." "Finde ich auch", sagte Pippi und machte eine Pause im Hüpfen. Alle Kinder sollte man erschießen. (...) Aber das geht nicht. Denn dann würden keine netten kleinen Onkels nachwachsen. Und auf die kann man nicht verzichten." Der feine Herr sah auf Pippis rotes Haar und beschloss, sich ein bisschen darüber lustig zu machen. (..) "Ich glaube wahrhaftig, du bist das hässlichste Balg, das ich je gesehen habe." "Ach", sagte Pippi, "ich finde, du bist auch gerade nicht so bildschön, dass man vor Entzücken hochspringt, wenn man dich sieht." Sprecher: Die Situation eskaliert langsam, bis der beleidigte Mann den Kindern mit Gewaltanwendung droht. Zitat1: ASTRID LINDGREN FORTS. Man hörte einen Plumps, als Pippi vom Baum herunter sprang. Mit einem Satz war sie bei dem feinen Herrn. "Oh nein", sagte sie. "Eh wir mit der Prügelei anfangen, ist es besser, wenn ich dich erstmal vornehme." Und das tat sie. Sie fasste den feinen Herrn um seine dicke Taille und warf ihn ein paar Mal in die Luft. Dann trug sie ihn auf ausgestreckten Armen hinaus zu seinem Auto und schmiss ihn auf den Rücksitz. (...) Der feine Herr kroch mit viel Mühe nah vorn zum Steuer und raste mit höchster Geschwindigkeit davon. Sprecher: Pippi Langstrumpf war eine konsequent durchgespielte Umkehrung der Verhältnisse: das junge Ding, das Mädchen, das nicht ernst genommene Wesen, nimmt sich seinerseits die Freiheit, Väter, Polizisten, Übeltäter und Erziehungsberechtigte einfach nicht ernst zu nehmen. Deshalb wurde dieses Kind zur Ikone und Identifikationsfigur für Kinder in der mittlerweile von inzwischen schon vierten Generation. Sprecherin: Kaum jemand bemerkte, wie subversiv diese Botschaft von einem Mädchen war, dass das Patriarchat wie nebenbei in die Luft werfen konnte. Sprecher: Aber das war eine Botschaft aus der Welt der Bücher. In der realen Welt herrschte Krieg. Sprecherin: Trotz Naziideologie und Mutterkreuz: Die Männer waren überall auf der Welt zu Millionen an der Front, und zuhause blieben die Weiber und hielten Produktion, Infrastruktur und das Überleben der kriegsbeteiligten Völker in Gang. Sprecher: Mitten in diesem Krieg entstand ein weiteres Buch, das in ähnlicher Radikalität wie Pippi Langstrumpf mit den traditionellen Konzepten der weiblichen Unreife aufräumte. Mrs. Copperfield, Heldin des Romans "Zwei sehr ernsthafte Damen" von der jungen, bis dahin unbekannten Jane Bowles, aus New York, schockte 1943 das Publikum. Die Heldin redet, wie sie denkt und tritt mit einer Hure als Lebensgefährtin auf. Sprecherin: Mrs. Bowles, gehbehindert, lesbisch und äußerst lebensfroh, hatte sich die Inspiration zu diesem Roman auf ihrer eigenen Hochzeitsreise mit dem später berühmten Autor Paul Bowles geholt. Zitat1 JANE BOWLES Ohne eine Antwort abzuwarten, rief sie den Kellner und bestellte zwei doppelte Whisky. (...)"Sie ist eine junge Spanierin aus Panama und das wunderbarste Geschöpf auf Erden. Wir tun keinen Schritt ohne einander.(...) Ich kann ohne sie nicht leben. Nicht einen Augenblick. Ich würde völlig vor die Hunde gehen." - "Das sind sie doch schon. Oder täusche ich mich da gewaltig?" - "Nur allzu wahr", sagte Mrs. Copperfield und ließ die Faust auf den Tisch fallen. Sie sah ganz erbärmlich aus. "Ich bin vor die Hunde gegangen - und das ist etwas, das ich mir seit Jahren gewünscht habe. Ich weiß, meine Schuld könnte nicht größer sein, aber ich habe mein Glück und das verteidige ich wie eine Wölfin, und Autorität habe ich jetzt und etwa mehr Kühnheit; Eigenschaften, die ich, wie Sie sich erinnern werden, vorher nie besessen habe." Mrs. Copperfield wurde allmählich betrunken und ihr Anblick zunehmend unangenehmer. Sprecher: Es ist gewiss kein Zufall, dass diese Bücher in Ländern erschienen, die vom Krieg verschont geblieben waren und in denen sich die Aufbruchsstimmung der zwanziger Jahre zumindest ein wenig hatte halten können. Sprecherin: Astrid Lindgren schrieb Mädchenbücher. Jane Bowles schrieb Bücher in einem mädchenhaften Gestus, der in seiner Leichtigkeit und seinem Witz gekonntes Understatement ist. Man könnte beinahe von Tarnung sprechen. Dahinter verbarg sich selbstbestimmte gleichgeschlechtliche Sexualität - und jede Menge Aggressivität. Zitat1: JANE BOWLES Forts. "Ich erinnere mich, sagte Miss Goering, "dass Sie etwas scheu waren, allerdings auch ungemein mutig, glaube ich. Denn es verlangt ziemlich viel Mut, um mit einem Mann wie Mr. Copperfield zusammenzuleben, von dem Sie sich, wie ich vermute, getrennt haben. Ich habe Sie wirklich sehr bewundert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das jetzt auch noch tue." Das ist mir gleich", sagte Mrs. Copperfield, "Aber das Schönste ist, dass ich ständig am Rande der Verzweiflung bin, und dabei eine der wenigen mir bekannten Personen, die mit der allergrößten Ungeniertheit eine Gewalttat ausführen könnten." Sie fuchtelte mit der Hand über dem Kopf. "Gewalttaten werden im allgemeinen ungeniert ausgeführt", sagte Miss Goering. Sprecher: Schreibende Frauen wussten damals sehr genau, dass sie nicht aggressiv wirken durften, nicht unweiblich, nicht unpassend. Die sicherste Option war allemal, auf Jugend und Naivität zu setzen. Sprecherin: Kindfrau. Sexy, ohne es zu wissen. Eine, die nur spielen will. So eine wie Francoise Sagan. Sprecher: Der Krieg war vorbei. In Frankreich hatten die Frauen gerade das Wahlrecht bekommen, in Montparnasse hingen schwarzgekleidete Rollkragenträger nächtelang in den Spelunken, hörten Jazz, lasen Sartre und Camus. MUSIK: Bebop Sprecherin: Und einige von ihnen lasen auch Simone de Beauvoir: "Le deuxieme Sexe", das andere Geschlecht, erschien 1949 und bewegte die intellektuelle Welt. Ein bisschen. Sprecher: Beauvoirs Analyse war scharfsinnig, und kaum jemand hätte in Zweifel gezogen, dass sie zutreffend war. Sprecherin: Doch die Beauvoir selbst galt als seither altjüngferliche Spaßbremse. Hinter der Anerkennung als Intellektuelle lauerte die Ablehnung als Frau. Sprecher: Fünf Jahre nach Erscheinen des Buches, das die Fibel des Feminismus genannt wurde, erschien ein kleiner Roman, geschrieben von einer 17jährigen über eine 17jährige: "Bonjour Tristesse" von Francoise Sagan, die sofort ein Medienstar wurde. Sprecherin: Cécile, eine Halbwaise, liebt ihren Vater sehr, der ihre alle Freiheit lässt - wie einst der kleine Trotzkopf. Sie ist rebellisch, undiszipliniert, haltlos - aber glücklich, mit kleinen Flirts und dem amoralischen Leben im Luxus. Sprecher: Und sie formuliert auf schlichte, mädchenhafte Weise, was die schwarzgekleideten Libertins in den Cafés diskutierten. Zitat1: FRANCOISE SAGAN Bonjour Tristesse "Sie hat also dieses Kind aufgezogen. Die Aufregungen und Qualen eines Ehebruchs hat sie sich wahrscheinlich erspart. Sie hat ein Leben gelebt wie tausend andere Frauen, und darauf ist sie stolz, versteht ihr, sie ist stolz darauf! Ihre Rolle war die einer gutbürgerlichen Frau und Mutter, und sie hat nichts getan, ihr zu entrinnen. Sie rühmt sich, dies und das unterlassen zu haben, statt auf etwas Vollbrachtes stolz zu sein." "Du redest ziemlichen Unsinn", sagte mein Vater. "Es ist frommer Selbstbetrug", rief ich. "Nachher sagt man sich: Ich habe meine Pflicht getan, weil man gar nichts getan hat. Wenn sie es in dem Milieu, in dem sie geboren isst, zu einem Straßenmädchen gebracht hätte - das wäre eine Leistung gewesen." "Deine Ansichten sind modern, aber ohne Wert", sagte Anne. Vielleicht war es wahr. Ich dachte nicht anders als ich redete (...)Dennoch war mein Leben und das meines Vaters auf dieser Theorie aufgebaut, und es verletzte mich, dass Anne sie verachtete. Man kann an wertlosen Dingen ebenso hängen wie an anderen. Aber Anne betrachtete mich nicht als denkendes Wesen. Sprecherin: Anne ist Céciles künftige Stiefmutter, die ihr Manieren und bürgerlichen Ehrgeiz beibringen will. Es ist tatsächlich dieselbe Konstellation wie im "Trotzkopf" - sogar die Namen der Stiefmütter sind dieselben. Aber was für eine Unterschied! Specher: Die französische Mädchen-Revolte zwei Weltkriege später ist so grausam wie erfolgreich: die Stiefmutter wird in den Tod getrieben. Aber man tut am Ende so, als sei es ein Unfall gewesen. Sprecherin: Es ist eine Befreiung mit Kollateralschaden, kein Tyrannenmord. Das wäre für einen Mädchenroman zu drastisch gewesen. Im übrigen verlobt sich Cecile nicht mit ein künftigen Juristen. Sie verliert ihre Jungfräulichkeit an ihn - und verlässt ihn am Ende. MUSIK (Beatles?) Sprecher: In den folgenden Jahren schwand die Notwendigkeit, das Aufbegehren gegen die Verhältnisse mädchenhaft zu tarnen. Oder vor den Zumutungen der Weiberrolle zur Mädchenhaftigkeit Zuflucht zu nehmen. Sprecherin: Alles war Aufbruch, alles schien Befreiung, in den sechziger Jahren. Äußerlich wurden die Röcke kurz wie nie. Und mit der Pille veränderte sich die Bedeutung von Sex. Sprecher: 1968. Das magische Jahr. Linke Politaktivistinnen gründeten überall ihre eigenen Gremien. In Westdeutschland hieß es: der Weiberrat. Das alte Wort mit dem despektierlichen Beigeschmack wurde zum Kampfbegriff. Es gibt keine Mädchenbücher aus dieser Zeit. Das war auch nicht nötig. Es gab Frauenbücher, und zwar ungeheuer viele. Sprecherin: Die Mädchenhaftigkeit schwand für eine Weile aus der Literatur. Aber nicht aus dem Leben. MUSIK: Nina Hagen Sprecher: Es kam der Punk und es kamen die Riot Girls, zahllose halberwachsene Pippi Langstrumpfs in zerrissenen Strumpfhosen. Zahllose Trotzköpfe mit grauenvollen Frisuren bevölkerten Fußgängerzonen und Diskos. Die mädchenhafte Rebellion war Pop, war Allgemeingut. Sprecherin: Goldene Zeiten waren das trotzdem nicht. Die Jahre des Aufbegehrens kosteten auch einiges. Und wie immer dauerte es eine Weile, bis das Nachdenken darüber in die Bücher fand. Sprecher: Einer der ehrlichsten Bücher über Mädchenhaftigkeit in Deutschland nach 68 stammt von Karen Duve, Jahrgang 1961, und heißt programmatisch: "Das ist kein Liebeslied". Zitat1: KAREN DUVE Ich gehörte zu jenen 70 oder 80 Prozent aller jugendlichen Ausreißer, die bereits innerhalb der ersten drei Wochen freiwillig nach Hause zurückkehren. Meine Eltern umarmten mich, Das war nicht unangenehm, weil mein Vater in seinem ganzen Leben noch nie auf die Idee gekommen war, mich zu umarmen - jedenfalls nicht sei ich älter als fünf war - und meine Mutter sich das schon seit Jahren nicht mehr traute. Aber in dem Moment konnte ich es ihr ja wohl schlecht verbieten. Mein grünes Lieblingskleid war gestohlen worden und eine Wrangler-Jeans. Meinen Reisepass hatten Terroristen geklaut, die jetzt unter meinem Namen unschuldige Familienväter umlegten. Wie erwartet, hatte sich die Bravo-Behauptung, die Entjungferung hätte großen Einfluss auf das Leben jeden Mädchens, als romantisches Hirngespinst erwiesen. Ich machte sofort auf die alte Tour weiter. Sprecher: Im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts war die Frauenbewegung ein Stück Vergangenheit, ihre großen Bücher Lehrstoff an der Uni, Allgemeingut, dass kaum etwas bedeutete. Sprecherin: Das fast schon ein bisschen peinlich war. Es hatte die nächste große Umwälzung gegeben, 1989, die das Ende aller Weltanschauungen zu bedeuten schien. Jede und jeder konnte und musste jetzt für sich allein weitermachen. Sprecher: Dieweil erschienen überall auf der Welt sehr private Bücher von Frauen über Kindheit, Karriere und Sexualität. Alles sehr offen und erwachsen. Ohne große Theorien und Rebellionen. Junge Frauen schreiben artige Erzählungen, beliebte Romane, machen große literarische Karrieren. Sprecherin: Wie George Eliot das gefreut hätte. Wie schnell der Trotzkopf seinen Strickstrumpf hingeschmissen hätte. MUSIK Sprecherin: Aber jetzt, plötzlich nach all den Jahren, sind die Mädchenbücher wieder da. Sprecher: Einer der Bestseller im Jahres 2008 war das kleine Büchlein "Feuchtgebiete" von der durchaus erwachsenen Fernsehmoderatorin Charlotte Roche. Ihre 18jährige Heldin, Scheidungswaise, liebt - wie einst der Trotzkopf und die französische Cecile - ihren Papa sehr, und um ihn zurück zu bekommen, geht sie an die Grenzen des Ekels und darüber hinaus. Sprecherin: Niemand versucht mehr, sie zu zähmen, diese Zeiten sind vorbei. Sprecher: Und doch ist auch dies ein Buch der Revolte: gegen ein als körperfeindlich und künstlich empfundenes Konzept von Mädchenhaftigkeit. Charlotte Roche verbreitet sich ausführlich über Körperflüssigkeiten, Gerüche und alles, was unsere Kultur als ekelhaft definiert. Sprecherin: Damit knüpft sie äußerst geschickt an die alte Tradition der rebellischen Naivität an. Sprecher: Flankiert wurde das Buch von Sachbüchern, die viel eher vergessen sein werden, dafür aber im Titel das alte Muster führen. "Neue deutsche Mädchen" und "Wir Alphamädchen" und heißen sie. Die Autorinnen sind um die dreißig. Zitat: ALPHAMÄDCHEN Wir wollen wieder Feministinnen sein. Wir müssen. Es ist uns ein Bedürfnis, eine Herzensangelegenheit. Und wir sind sicher, dass Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende da draußen sind, die jetzt mit uns gemeinsam die Dinge in Angriff nehmen, die so brutal nerven in ihrer Rückständigkeit und Ungerechtigkeit. Das Tolle: Unsere Generation kann den Feminismus neu erfinden. Wir müssen uns von niemanden vor den Karren spannen lassen, auch nicht von der alten Frauenbewegung. Die größte Angst ist es ja offenbar, mit einem Klischee in Verbindung gebracht zu werden, das dem Selbstbild so gar nicht entspricht. Doch dem Feminismus geht es um ein gleichberechtigtes Leben von Männern und Frauen. Und genau das wollen Frauen auch. Also sind wir Feministinnen. Alle. Sprecherin: Das klingt, als seien die Verfasserinnen in ihrer Lektüre nicht sehr weit über Zeitschriften wie Bravo und Amica hinaus gekommen. Sprecher: Der Titel, der pseudoflotte Tonfall und der bemüht unintellektuelle Habitus sind deutliche Hinweise auf die Wiederkehr des mädchenhaften Understatements, dieser probaten Waffe im Geschlechterkampf. So als gelte es heute noch die Worte des alten Doktor Moebius zu befolgen. Zitat2: MOEBIUS Auch kann das mannähnliche Weib den Mann viel weniger verlocken als das natürliche. Ich breche daher ab und wiederhole nur: Schützt das Weib vor dem Intellektualismus. Musik Sprecher: Heutzutage ist eben Sexyness das, was früher die Tugendhaftigkeit war: Die unverzichtbare Eigenschaft einer Frau. Sprecherin: Aufgabe einer heutigen Revolte im Mädchenkleid müsste sein, aufzubegehren gegen die grässliche Zumutung an alle Frauen, pausenlos sexuell, finanziell und sozial erfolgreich sein zu müssen. Sprecher: Und es gibt bereits ein Buch, das in diese Richtung erste Hoffnungen weckt. Zitat1: MIRADA JULY Ich sah den Jungen an; er sah mich an, als seien wir uns bereits einig geworden. Bloß indem ich eine Minute zu lange neben ihm gestanden hatte, hatte ich ihm schon irgendwie einen unsittlichen Antrag gemacht. Ohne irgendwelche Verhandlungen konnte ich ihn nicht entlassen. - Du könntest mein Auto waschen. - Für wie viel? - Zehn Dollar? - Für zehn Dollar mach ich gar nichts. - Okay. Ich öffnete mein Portemonnaie und gab ihm zehn Dollar, und er ging die Effie Street hinunter dem sicheren Tod entgegen, und ich ging nach Hause. In dem Traum, den ich immer wieder habe, ist bereits alles eingestürzt und ich bin verschüttet. Sprecher: Die Multi-Media-Künstlerin Miranda July, Jahrgang 1974, pflegt sich in Mädchenkleidern zu präsentieren und betreibt Lebenshilfe-Performances im Internet. Ihr Erzählband "Zehn Wahrheiten" erschien voriges Jahr und er betreibt Seite für Seite die Feier der Schüchternheit, des weiblichen Individualismus und des genussvollen Versagens. Einer der Höhepunkte darin ist eine Parodie auf das, was Romane mit Happy End ihrem Lesepublikum vorzumachen pflegen: Sprecherin: Das es ein Ereignis im Leben gäbe, mit dem alles anders wird und alles besser. Früher war das: die Verlobung. Sprecher: So ist nach vielen Jahren die Mädchenhaftigkeit wieder da: als Parodie. Zitat MIRANDA JULY Eine lange lachende weitschweifige Nachricht auf dem Anrufbeantworter, bei der alle Personen, die diese Person je gekannt hat, über die Freisprecheinrichtung durcheinanderquasseln, und sie alle sagen: Du hast den Test bestanden, ist alles nur ein Test gewesen, wir haben nur Spaß gemacht, das wahre Leben ist viel schöner. Die Person lacht laut heraus und spult die Nachricht zurück, um die Adresse zu notieren, an der alle Personen, die diese Person je gekannt hat, warten, um sie zu umarmen und in die Gemeinschaft der Lebenden aufzunehmen. Es ist so aufregend, und es ist nicht Traum, es ist Wirklichkeit. Astrid Lindgren, Pippi in Taka-Tuka-Land, aus dem Schwedischen von Cäcilie Heinig Jane Bowles, Zwei sehr ernsthafte Damen, aus dem Englischen von Adelheid Dormagen Francoise Sagan, Bonjour Tristesse, aus dem Französischen von Helga Treichl Miranda July, Zehn Wahrheiten, aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann 0