Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 29. Juli 2017, 11.05 - 12.00 Uhr KW 30 Sattel-Fest: Vom Radfahren in den Niederlanden Eine Sendung von Kerstin Schweighöfer Redaktion und Regie: Marcus Heumann Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Designelement GSE/ GSE-Stimmcollage/ Musik: Kladderadatsch Track 6 darüber: Eröffnungscollage: Sprecher: - eine holländische Großmutter über 85 Jahre mit dem Rad - die Rotterdamer Polizei auf Fahrraddieb-Jagd - und ein fanatischer Rad-Amateur in Gewissensnöten Sattelfest - Vom Radfahren in den Niederlanden. Eine Sendung von Kerstin Schweighöfer REPORTAGE 1 Seit 85 Jahren ziemlich gute Freunde - Nel und ihre fietsen Noch zwei Wochen, dann feiert sie ihren 90. Geburtstag. Doch das hält Nel Hamberg nicht davon ab, sich nach wie vor auf ihr Rad zu setzen. Auch an diesem Vormittag: Sie kommt gerade vom Einkaufen zurück, mit prall gefüllten Satteltaschen rechts und links. Den Sattel selbst hat sich die alte Dame von einem ihrer Schwiegersöhne etwas tiefer stellen lassen. Damit ihre Füße sofort Halt finden, wenn sie überraschend bremsen muss. "In meinem Alter geht man auf Nummer sicher", erzählt sie. Und deshalb stellt sie ihr Rad auch sofort in der kleinen Scheune ab, neben ihrer Wohnung im Haager Vorort Voorschoten. Nur einmal in ihrem langen Leben ist ihr ein Rad geklaut worden, aber daran sei sie selbst schuld gewesen, erzählt die groß gewachsene Niederländerin mit den silbergrauen Locken - eine gepflegte sportliche Erscheinung, immer gut gelaunt, immer ein Lachen auf den Lippen. "Oma" wird sie von allen genannt. Nicht nur von ihren acht Enkelkindern, auch von den sechs Urenkeln und den drei Kindern. "Ich hatte mein Rad vor der Tür abgestellt, aber vergessen es abzuschließen, da muss man sich nicht wundern. Jetzt stelle ich es immer sofort in die Scheune. Und auch da schließe ich es noch ab." Schließlich hat sie vor zwei Jahren, zu ihrem 88. Geburtstag, von ihren Kindern ein elektrisches Rad bekommen, das teuerste fiets ihres Lebens. Auf einem e-bike tut sie sich mit ihren zwei Kunsthüften doch leichter. Gestürzt ist sie mit dem Rad noch nie, in all den Jahren nicht. "Es ist einfach herrlich! Mit dem e-bike brauche ich ja nicht mehr so fest in die Pedale zu treten, und Gegenwind macht mir auch nicht mehr so viel aus." Vor zwei Jahren noch ist sie regelmäßig ins 13 Kilometer entfernte Zoetermeer geradelt, um ihre Schwester zu besuchen. Oder nach Wassenaar, gut sieben Kilometer weiter weg. Um dort das Haus und den Garten ihrer jüngsten Tochter zu versorgen, wenn die im Urlaub war. Alle drei Tage. Ohne e-bike, wohlgemerkt, das hatte sie damals noch nicht. Kein Wunder, findet Nel, dass die Niederländer zu den schlanksten Bürgern Europas zählen: Der Anteil adipöser Erwachsener liegt bei nur 13,3 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 16,9 Prozent. "Egal, ob Winter oder Sommer, bei uns wird geradelt. Immer. Radeln macht stark! Alles ist in Bewegung, und man sieht so viel. Ich kenne kaum jemanden, der nicht radelt." Doch lange Strecken mit dem Rad traut sie sich inzwischen nicht mehr zu. Die Radwege sind ihr zu voll geworden. Und es gibt dort zu viele bakfietsen: Wannenräder, mit denen viele junge Mütter heutzutage ihre Kinder samt Einkäufen transportieren. Da passe ja selbst noch der Weihnachtsbaum rein. Nein, diese Geschosse sind ihr viel zu groß und zu gefährlich, denen will sie nicht in die Quere kommen. Aber zu ihrer ältesten Tochter Ina, die zwei Kilometer entfernt wohnt, radelt sie immer noch. Und zum Einkaufen in den nächsten Supermarkt, das sind nur eineinhalb Kilometer. "Die Niederlande sind einfach ein ideales fietsland. Das Rad ist für uns DAS Transportmittel! Bei uns wachsen die Kinder auf dem Sattel auf! Vor der Einschulung muss man radeln können. Auch ich wurde von meinem Vater mit fünf aufs Rad gesetzt, er lief neben mir her und ließ los, ohne dass ich es merkte - und schon konnte ich es!" 1932 war das, in Middelburg in der Provinz Zeeland. Und eigentlich wäre die kleine Nel damals am liebsten jeden Tag zur Schule geradelt. Doch sie musste die drei Kilometer laufen. Mit dem Rad anzurücken, das wurde nur Kindern erlaubt, die weiter weg wohnten: "Es gab nicht genug Platz, die Räder vor der Schule abzustellen, deshalb!". Denn große fietsenstallingen gab es damals noch nicht. Also Radparkanlagen oder gar Parkhäuser wie in Utrecht, wo vor dem Bahnhof gerade die größte Rad-Tiefgarage der Welt gebaut wird, dreistöckig, mit Platz für 12.500 Räder. "Es hat sich im Laufe meines Lebens so viel geändert, das ist unbeschreiblich!" Fietsers hatten damals auch noch nicht ihre eigenen Ampeln und keinen eigenen Kreisverkehr. Dafür aber seien die Straßen sicherer gewesen. Weil es noch nicht so viele Autos gab. Die konnte man zählen. Radwege brauchte es deshalb nicht so viele, und sie waren viel schmaler. Nel erinnert sich noch genau, wie sie im Sommer zwischen meterhohen weißblühenden Kuh-Petersilie-Blumen mit ihren Freundinnen zum Strand radelte. "Westkapelle... Domburg.... Vrouwenpolder..." Dann brach der Zweite Weltkrieg aus; im Mai 1940 wurden die Niederlande, die auf ihre Neutralität vertraut hatten, von Nazi-Deutschland besetzt. Und die Besatzer beschlagnahmten sämtliche Transportmittel, auch die Räder. Viele Niederländer, auch Nel, trauten sich deshalb nicht mehr zu radeln und versteckten ihre fietsen. Fußballfans werden sich an die EM in Deutschland 1988 erinnern, als die niederländische Elf im Halbfinale im Hamburger Volksparkstadion die Deutschen ausschaltete. Worauf übermütige Oranjefans auf den Tribünen Spruchbänder schwenkten: "Oma, ik breng je je fiets terug", stand darauf. " Oma, ich bring' dir dein Rad zurück." Der Sieg über die Deutschen als Revanche für die Konfiszierung des niederländischen Nationalheiligtums Fahrrad im Zweiten Weltkrieg. Auch Nel Hamberg kennt diese geflügelten Worte. Die Befreiung erlebte die alte Dame als Backfisch. 17 war sie, als kanadische, englische und amerikanische Truppen Middelburg zurückeroberten. Radgefahren wurde zu diesem Zeitpunkt kaum noch. Es gab kein Gummi mehr und damit keine Reifen. "Meinem Vater ist es damals gelungen, Holzreifen zu entwickeln, damit konnte er ganz schön viel Geld verdienen, denn auf diesen Holzreifen radelten kurz darauf viele Menschen herum. Aber mir war das viel zu holprig und unbequem, ich wartete, bis es wieder Gummireifen gab." Nach dem Krieg brachen auch für die fietsers neue Zeiten an: Nel bekam ihr drittes Rad - und wusste nicht, wie ihr geschah: Es hatte Rücktritt- und Trommelbremsen und darüber hinaus Gangschaltung! Ein Geschenk ihres Mannes, den sie 1947 geheiratet hatte und mit dem sie bis zu dessen Tod 1997, fast 50 Jahre lang, zusammen war. Mit diesem Rad wurden auch die Kinder transportiert. Zum Strand. Oder zum Einkaufen. Wie so viele niederländische Mütter war Nel auf dem Sattel eine Gleichgewichtskünstlerin: "Ina, meine Älteste, radelte auf dem Kinderrad neben mir, ihre Schwester setzte ich hinten auf den Kindersitz, Toni, der Jüngste, landete vorne. Und rechts und links hingen die Einkaufstaschen." Kurz darauf bekam sie einen Brommer, ein Mofa. Aber für Mofas wurde eine Helmpflicht eingeführt - und das kam und kommt für Nel so wie für viele Niederländer nicht in Frage: Der Wind muss frei durchs Haar wehen. Und so stieg sie wieder um aufs fiets, erzählt sie lachend und wirft einen Blick auf die Uhr. Heute Nachmittag will sie noch nach Wassenaar, um Max zu bewundern, ihren sechsten und jüngsten Urenkel, der gerade geboren wurde. Ihre Tochter wird sie gleich abholen. Mit dem Auto. Die alte Dame sagt es mit leichtem Bedauern. Das Radfahren mag ihr in Fleisch und Blut übergegangen sein. Aber auch im Paradies der fietsers gilt: Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man kürzer treten muss. LITERATUR: Fahrradfahren stand für mich immer in einem gefühlten Zusammenhang mit Revolution. Im Rückblick könnte ich es so erklären: Revolutionen sind Umstürze - und war es nicht diese Erfahrung des Umsturzes, der wir uns aussetzten, als wir lernten, Fahrrad zu fahren? Wir eierten los, stürzten um, es schmerzte, aber das schreckte uns nicht ab, wir schwangen uns zurück auf den Sattel und rollen seither fröhlich und gesund durchs Leben (...) In einem Essay für den Sammelband "Die Philosophie des Radfahrens" definiert der Hamburger Autor Maximilian Probst, Jahrgang 1977 und selbst begeisterter Radfahrer, das Fahrrad als letzte humane, weil für den Menschen wortwörtlich "erfahrbare" technische Innovation": Vom Stand der Technik aus gesehen erscheint das Fahrrad als der Gipfel der Versöhnung von Mensch und Natur. Das Fahrrad als Versprechen einer humanen Moderne, einer humanen Technik, die sich symbiotisch zur Natur verhält. Das Fahrrad reißt den Menschen nicht aus der Natur heraus. Das Fahrrad ist dem Menschen zu Diensten, ohne dass er über ihm thront. Der strampelnde Mensch auf dem Rad taugte nie als Sinnbild von Hybris. Das Fahrrad ist das letzte Versprechen einer Technik ohne Dialektik, ohne Umschlag in die Katastrophe. REPORTAGE 2: Aller Anfang ist schwer: Wie fietsdocent Frans Immigrantenfrauen das Radeln beibringt "Look ahead! Hups!" Au weia, das wäre beinahe schiefgelaufen. Senna konnte sich gerade noch fangen und das Gleichgewicht wiederfinden. Um ein Haar wäre die junge Palästinenserin gegen die Scheune geknallt, an der sie gerade vorbeigeradelt ist. "Gut gemacht!" ruft ihr Frans Lueb zu, "Immer Abstand halten! Nie zu weit rechts am Rand fahren!" Erleichtert sieht er der jungen Frau nach, wie sie etwas wacklig weiterradelt, dann wendet er sich Jimmy zu, einer 32 Jahre alten Kenianerin. Ihre Vorderbremse funktioniert nicht. Frans kann das Problem nicht lösen. Aber zum Glück hat Jimmy noch eine Rücktrittbremse, und die funktioniert tadellos. Das reicht. Das Bremsen muss die Afrikanerin ohnehin noch lernen. Dann konzentriert sie sich dieses Mal halt ganz auf die Rücktrittbremse. Senna und Jimmy sind zehn Minuten zu früh zum Radkurs erschienen. Noch haben sie das Übungsgelände ganz für sich allein - ein leerer Parkplatz in einem Außenviertel von Nieuwegein, einer mittelgroßen Stadt südlich von Utrecht. Gleich werden die anderen Kursteilnehmerinnen erscheinen. Insgesamt gut ein Dutzend und alles Frauen, erzählt Frans und steuert auf eine Garage zu, um die restlichen Übungsräder, die sich dort befinden, herauszuholen: "Hier stehen auch ein paar pedallose Modelle, für blutige Anfänger. Die lernen erstmal ohne Pedale, das Gleichgewicht zu halten. In der Hauptsache üben wir mit Klapprädern. Weil die so schön niedrig sind. Das ist für Anfänger einfach ideal. Die wollen möglichst tief und nah am Boden sitzen." Frans - groß, sportlich, mit Sonnenbrille und Poloshirt - ist seit sieben Jahren für den fietsersbond, den niederländischen Radfahrerbund, als fietsdocent im Einsatz - als Radlehrer. Der 60Jährige Niederländer gibt Kurse für Kinder, für Senioren - und, so wie an diesem Samstagnachmittag - für Immigrantenfrauen. "Das Rad verschafft ihnen Freiheit", betont er: "Vor allem den Damen mit Kopftuch! Die sind ans Haus gebunden und haben wenig Bewegungsfreiheit. Sie sind aufs Auto angewiesen und damit auf ihre Männer. Oder auf öffentliche Verkehrsmittel. Oft sind sie die einzigen in der Familie, die nicht Rad fahren können. Sie brauchen mit dem Bus eine Dreiviertelstunde zum Einkaufszentrum, während die Nachbarin, die sich auf den Sattel schwingt, in 15 Minuten da ist. Diese Immigrantenfrauen fahren ihren Kindern mit dem Bus hinterher, um sie zur Schule zu bringen - obwohl die Kinder, wenn sie eintreffen, längst da sind, weil sie zur Schule geradelt sind." Davon kann auch Tanis ein Lied singen, eine 36 Jahre alte Türkin. Sie lebt seit gut sechs Jahren in den Niederlanden und ist in einem schwarzen Jilbab zur Radstunde erschienen, einem langen wehenden Gewand, das auch ihren Kopf bedeckt. "Ich will das Radfahren lernen, in den Niederlanden muss man das. Erst dann gehört man richtig dazu. Alle hier können radeln! Auch meine beiden Kinder. Denen ist das ganz leicht gefallen. Als Erwachsene tut man sich viel schwerer. Gleich beim ersten Mal bin ich gefallen, auf das Knie. Daraufhin hatte ich ein bisschen Angst. Aber die hat sich zum Glück wieder gelegt!" Fiestdocent Frans mustert kritisch den Jilbab von Tanis. Hatte sie nicht versprochen, beim nächsten Mal ohne zu erscheinen? Das sei ja nicht nur unpraktisch sondern auch gefährlich. Und könnte die Ursache für ihren Sturz gewesen sein. Doch die junge Frau lächelt nur verlegen und sucht sich eines der Klappräder aus. Das werde schon gut gehen, sie will den Stoff raffen und beim Radeln nach oben ziehen. Neben den restlichen Kursteilnehmerinnen sind auch zwei ehrenamtliche Helfer erschienen. Sie stellen auf dem Parkplatz rote Plastikkegel auf. So entsteht ein Parcours mit einer zweispurigen Fahrbahn in O-Form. Frans klatscht in die Hände. Es kann losgehen: "Ihr seht hier zwei Fahrspuren, die einen radeln innen, die anderen außen. Und denkt dran, in den Niederlanden wird immer rechts gefahren! Haltet Abstand! Und niemals rechts überholen. Ihr werdet auch selbst immer links überholt!" Kichernd und plaudernd steigen die Teilnehmerinnen auf den Sattel. Tanis mit gerafftem Gewand, das kurz darauf vom Wind aufgebläht wird. Kerzengerade sitzt sie auf dem Rad, wie ein großer schwarzer Vogel, der gleich abhebt. Auch Jimmy, die zierliche kleine Kenianerin, macht ihre Sache gut. Sie tut sich etwas leichter, denn sie trägt Jeans, dazu eine weiße Baumwollbluse und eine freche Schirmmütze. Mit hochkonzentriertem Gesicht tritt sie in die Pedale. Ist es schwer? "Jimmy: Yes! "- Fietsdocent: "Not really!" Aber sie ist festentschlossen, ihr Bestes zu geben: "It's not easy. But I am trying... Fietsdocent Frans spart nicht mit Lob: "Heel goed!" (Applaus) "Ich bin konstant am loben, das ist wichtig, selbst dann noch, wenn sie fallen. 'Gut gefallen', sage ich dann. Radfahren lernen ist für Erwachsene ganz schön schwer. Für mich sind diese Frauen alle Heldinnen!" Denn irgendwann sagen sie alle: "Schau her, ich kann's!" Das ist auch für Frans immer der allerschönste Moment: "Ik kan fietsen! Zufrieden schaut er zu, wie Jimmy versucht, den rechten Arm auszustrecken. Auch das muss sie lernen, zum Abbiegen. Noch wichtiger, aber auch schwerer sei das Über-die-linke-Schulter-Gucken. Das könnten bislang nur die wenigsten, sagt Frans. Sein Blick wird besorgt: Jimmy fährt einen der roten Plastikkegel um, bleibt aber zum Glück im Sattel. "You hit it" Nach einer halben Stunde dürfen die Fortgeschrittenen unter den Kursteilnehmern sich unter Begleitung der ehrenamtlichen Helfer in den Verkehr wagen. Aber nur in die stillen Seitenstraßen hier im Außenbezirk. Im Stadtzentrum sei es noch viel zu gefährlich, erklärt Frans, während er gelbe Schutzwesten austeilt und die Gruppe zum Ausgang des Parkplatzes dirigiert: "Okay dames, we gaan hier naar rechts! Komt u maar..." Tanis, die junge Türkin im schwarzen Jibab, gehört nicht zu den Auserwählten. Sie mache es sich mit ihrem langen Gewand viel zu schwer. Auch Jimmy ist auf dem inzwischen leeren Parkplatz zurückgeblieben. Noch durfte sie nicht mit auf die Straße. Aber das sei alles nur eine Frage der Zeit. Und der Geduld. "But I am getting there! I am happy with the progress." "Ich schaffe das", ruft sie uns zu beim Vorbeiradeln zu. Daran zweifelt keiner. Viel Glück! REPORTAGE 3: Schlechtes Wetter gibt es nicht! Auf dem Liegerad zu Arbeit Fünf fietsen machen sich in der Garage von Familie Poels breit: eins für den Sohn und eins für die Tochter, denn die fahren jeden Tag mit dem Rad zur Schule, acht Kilometer hin, acht Kilometer zurück. Eins für Ehefrau Ingrid, die damit gleich zum Einkaufen radeln will, schwere Flaschen problemlos in den Satteltaschen verstauen kann und für den Fall, dass es wirklich mal ganz viel wird, einfach den praktischen kleinen Anhänger dranhängt, der ganz hinten in der Garage steht. Und gleich zwei Räder für den Herrn des Hauses Gerard Poels: 54 Jahre alt, jovial, klein, lässig mit fröhlichen Sommersprossen auf der Nase. So wie seine Kinder zur Schule radelt er jeden Tag zur Arbeit. Nach Nimwegen - 18 Kilometer hin, 18 Kilometer zurück. Und das macht er am liebsten mit seinem Liege-Rad. Aber weil es auch hier im Süden der Niederlande ein paar Tage im Jahr frieren und glatt sein kann, hat er auch noch ein normales Rad. Darauf sitze man bei Glatteis stabiler. Doch das komme zum Glück nur ein, zwei Mal im Jahr vor. Ja, er weiß: Ahnungslose wenden sich beim Anblick eines Liegerads mit Grausen ab. Wie kann man denn im Liegen radeln? Wie behält man da denn den Überblick? Kann man überhaupt schnell und adäquat reagieren? Aber Gerard winkt nur ab: "Beim Liegerad muss man sich mit angezogener Bremse in den Sitz legen, das ist der einzige Unterschied. Ansonsten habe ich alles genauso unter Kontrolle wie auf einem normalen Rad. Gut, man braucht einen Rückspiegel, weil man schlechter über die Schulter gucken kann. Manche legen Wert auf eine Nackenstütze, aber ich brauche die nicht. Dafür hab ich eine extra große Klingel. Die überhört keiner so schnell!" In den Niederlanden sind die fietsers zwar mit einem speziellen Gesetz extra geschützt - bei Unfällen mit Radlern ist immer automatisch der Autofahrer schuld. Aber das helfe dem Radler ja wenig. Er bleibe der Schwächere und ziehe immer den Kürzeren: "Vorausschauend fahren, darauf kommt es an", betont Gerard, als er durch den Garten zum Wohnhaus läuft. Das Liegerad bleibt abfahrbereit vor der Garage stehen. Gleich muss er sich umziehen und zur Arbeit, aber für eine schnelle Tasse Kaffee ist noch Zeit. Der aufgeweckte Niederländer arbeitet als Aktivitätenbegleiter bei einer Organisation für psychisch Behinderte. "Als wir vor elf Jahren hier einzogen, habe ich beschlossen, die 18 Kilometer zur Arbeit zu radeln. Damit schlage ich so viele Fliegen mit einer Klappe: Ich habe jeden Tag meine Portion Sport und muss mich dazu abends nicht mehr aufraffen. Ich rieche und spüre die Natur. Abends beim Heimradeln kann ich meinen Kopf freimachen. Und gut für die Umwelt ist es auch noch." 40 Minuten braucht er für die 18 Kilometer. Und radelt dabei fröhlich an so manchem Stau vorbei. Mit dem Auto bräuchte er mindestens genauso lange, wenn nicht länger - auch wenn er verschwitzt ankommt und sich erst waschen und umziehen muss. Aber dafür spart er sich die Parkplatzsuche. "Ich ziehe immer meine Klick-Rennradschuhe an und Sportkleidung, eine Kappe gegen die Sonne und eine Brille gegen die Fliegen." Und was ist mit den praktischen Regenanzügen, in denen sich die Niederländer bei schlechtem Wetter aufs Rad setzen? Hat er selbst auch so ein Exemplar? "Einen Regenanzug besitze ich nicht, jedenfalls keine Regenhose. Eine Jacke schon, aber die habe ich eigentlich nicht nötig, denn es regnet fast nie." Wie bitte? In dieser Region Europas? Nicht umsonst bezeichnen die Niederländer ihr Land selbst liebevoll als "kikkerlandje"- als Froschland. Eben weil es so kühl und regnerisch und obendrein so windig ist. Ein hartnäckiges und weitverbreitetes Vorurteil, findet Gerard Poels - und kann inzwischen das Gegenteil beweisen: Seit gut neun Jahren führt er ein Online-Rad-Regentagebuch, notiert jeden Tag, wie er zur Arbeit und zurück gekommen ist - trocken oder nass. "hetregentbijnanooit.nl", "Es regnet beinahe nie.nl" heißt seine Website: Die Idee ist ihm eines Abends gekommen, als er von der Arbeit nach Hause radelte. Da kämen ihm sowieso immer die besten Ideen. "Ein Kollege war an diesem Morgen schimpfend wie ein Rohrspatz zur Arbeit erschienen, weil er auf dem Rad klatschnass geworden war. Er klagte über das schlechte Wetter in den Niederlanden. Und dass es dauernd regnen würde. 'Das stimmt doch gar nicht', konterte ich, aber keiner wollte mir glauben, ich wurde nur ausgelacht. 'Wartet nur ab!' dachte ich mir." Das erstaunliches Ergebnis seiner Regenlangzeitstudie: das Risiko, beim Radeln zur Arbeit und zurück nass zu werden, liegt - zumindest im Umkreis von Nimwegen - bei weniger als zehn Prozent. Eine Zahl, die der königlich niederländische Wetterdienst KNMI nur bestätigen kann, dort kommt man sogar auf nur sieben bis acht Prozent. Anders ausgedrückt: Auf den rund 2.900 Fahrten, die Gerard Poels in den letzten neun Jahren mit dem Rad unternommen hat, ist er nur 280 Mal nass geworden. Macht durchschnittlich 31 Mal pro Jahr. Und 2,5 Mal pro Monat. Das Wetter sei also kein Grund, das Rad stehen zu lassen. Mit dieser faulen Ausrede könne niemand länger durchkommen: "Die Menschen haben so viele Ausreden, um nicht aufs Rad umzusteigen: die einen haben keine Zeit, die anderen klagen über zerzauste Haare. Dann müssen sie halt früher aufstehen und einen Kamm mitnehmen oder die Frisur wechseln. Die Ausrede, dass es zu viel regnet jedenfalls, die stimmt nicht." Sämtliche Stauprobleme wären schlagartig gelöst, wenn sich zehn Prozent aller Niederländer, die sich morgens bisher hinters Steuer setzen, stattdessen auf den Sattel schwingen würden. Derzeit liegt die Zahl der Bürger, die zur Arbeit radeln, zwischen 40 und 45 %. Mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen versuchen Staat und Kommunen, sie zu erhöhen: In den Innenstädten steigt die Zahl der Radzonen, in denen der Autofahrer nur Gast ist. Im ganzen Land werden Radschnellwege angelegt. Zum Beispiel der neue, rund 15 Kilometer lange Rijn-Waal-Pad zwischen Arnheim und Nimwegen. Schnurgerade und fast ohne Zwischenstopps führt er zum Ziel, über Brücken und durch Tunnel, schwärmt Gerard, bevor er kurz nach oben verschwindet, um sich umzuziehen. Die Arbeit ruft. "Dat is fantastisch!" Ganz zu schweigen von fiskalen Anreizen: Viele Unternehmen bezuschussen ihre Arbeitnehmer, wenn die sich für den Weg zur Arbeit ein fiets anschaffen. "Das ist alles gut geregelt!" findet Gerard, als er in Sportkleidung wieder im Erdgeschoss erscheint. Aber das alles reiche halt nicht. Und deshalb will er weiterhin Überzeugungsarbeit leisten und sein Online-Regentagebuch weiterführen. Aber jetzt muss er los. Schnell die Rennradschuhe anziehen, Brille auf die Nase, Kappe auf den Kopf - und schon geht's raus. Gekonnt legt er sich in sein Liegerad - und ab geht die Post. LITERATUR: Schauen wir einmal ganz genau hin, was beim Fahrradfahren passiert und was im Vergleich dazu beim Auto. Fangen wir mit einer alten denunziatorischen Beschreibung des Fahrradfahrers an: Der Radler buckelt nach oben und tritt nach unten. Höchst unschön, wenn wir diese Haltung innerhalb von gesellschaftlichen Hierarchien einnehmen. Wir können in der Haltung des Radlers aber auch die Haltung des Menschen gegenüber der Welt sehen, dann sieht das schon viel schöner aus. Der gekrümmte Rücken: eine Abkehr vom Himmel und allen Himmelsstürmereien. Hier ist unser Platz, nicht anderswo. Richten wir ihn uns so ein, dass er erträglich wird. Und das Strampeln: (...) Wir rackern uns ab, aber hinterlassen keine Spuren! All die heiklen ideologischen Boden-Metaphern, Scholle, Acker, Wurzeln: Das Fahrrad lässt sie souverän hinter sich und unter sich. Die Haltung des Fahrradfahrers: Sie besagt, dass wir die Erde im Blick haben, nur sie, aber ihr nicht mehr verwurzelt sind, dass wir uns bewegen, uns aber nie erheben, nicht über die Strecke, nicht über den Körper. Ohne Wurzeln, aber auf dem Boden der Tatsachen! REPORTAGE 4: Lokfietsen - Die Rotterdamer Polizei auf Fahrraddieb-Jagd Mitarbeiterbesprechung bei der Rotterdamer Polizei, Abteilung Lokmiddelen - Ködermittel: Abteilungschef Ben Rinck und seine zehn Mannen setzen alles ein, was die Herzen von Dieben höher schlagen lässt - um diese dann beim Klauen des Ködermittels auf frischer Tat zu ertappen. Und ein Ködermittel, das kann alles Erdenkliche sein: "Autos, Mofas oder Motorräder, aber auch Außenbordmotoren", erklärt Abteilungschef Rinck, ein großer gutgelaunter Mann, den nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen scheint. Und dann natürlich Fahrräder, betont der 58Jährige. Hier haben Diebe besonders große Auswahl: "Viele Leute haben mehr als nur ein Rad, die 17 Millionen Niederländer bringen es zusammen auf schätzungsweise 22 Millionen fietsen. Entsprechend viele Köderräder haben wir im Einsatz, ein paar Dutzend, über die ganze Stadt verteilt. Wo sie stehen, verraten wir natürlich nicht. Und wie viele es genau sind, auch nicht." Es sei wie beim Fischen, wirft einer seiner Mitarbeiter ein. Wer viel fangen will, muss dafür sorgen, dass die Fische anbeißen und deshalb möglichst viele Köder auswerfen: Die lokfietsen sind mit den neuesten technischen Raffinessen ausgestattet. Zum Beispiel mit Sendern, die im Sattel versteckt werden. Wird ein solches Rad geklaut, geht bei einem Wachdienst der Alarm los. Dort wird als erstes geprüft, ob es ein falscher Alarm ist - ob das Rad nur angestoßen wurde und umgefallen ist. Wenn nicht, dann werden umgehend Rinck und seine Männer alarmiert. Die fahren sofort los, um mit Hilfe des Senders den Dieb zu lokalisieren - und ihm dann unauffällig zu folgen. Sobald sich eine Möglichkeit bietet, ihn zu fassen, erfolgt der Zugriff. In der Regel dann, wenn er versucht, seine Beute zu verstecken, zum Beispiel in einer Garage. In den weitaus meisten Fällen geht der Fisch ins Netz - so wie am letzten Wochenende noch, erzählt Kollege Arnold: "Da konnten wir einen ganzen Laden hochgehen lassen, ein illegales Fahrradgeschäft! Der Dieb war ein älterer Mann um die 50, er führte uns zu einer Garage mit Verkäufern und Kundschaft, da stand mehr als ein Dutzend Räder, mindestens 15, und auch jede Menge Ersatzteile. Nur vom Feinsten, alles Markenräder, die zwischen 800 und 1000 € kosten oder noch viel mehr. Oder e-bikes." Aber fährt denn nicht die halbe Nation auf klapprigen Uraltmodellen herum? "In Amsterdam ist das vielleicht noch der Fall, vor allem unter Studenten. Aber zum Einkaufen, zur Arbeit oder auch für Radtouren setzen wir Niederländer uns inzwischen auf richtig teure Räder. Für abends haben viele ein zweites Rad, so genannte stap-fietsen, Ausgehräder. Und die sind dann in der Tat uralt. Weil alle wissen, dass abends in der Innenstadt das Diebstahlrisiko sehr hoch ist." Seit 2009 macht die Rotterdamer Polizei systematisch und im großen Stil mit lokfietsen Jagd auf Fahrraddiebe. Inzwischen wird im ganzen Land nach dieser Methode verfahren. Mit großem Erfolg, weiß Abteilungsleiter Rinck zu berichten: "Die Universität Tilburg hat untersucht, welchen Effekt der landesweite Einsatz von lokfietsen zwischen 2013 und 2016 hatte. Ergebnis: Die Zahl der Raddiebstähle konnte dadurch um 40 % gesenkt werden. 1980 wurden in den Niederlanden noch gut eine Million Räder pro Jahr geklaut, es war ein Kavaliersdelikt. Jetzt ist es nur noch rund die Hälfte." Auf frischer Tat ertappte Diebe lassen sich die tollsten Ausreden einfallen, erzählt sein Mitarbeiter Dennis: "Einmal haben wir einen Dieb gestellt, der erzählte uns die Story vom Pferd: dass er eigentlich die Polizei anrufen wollte, aber der Akku seines Handys leer gewesen sei. Da habe er beschlossen, das Rad höchstpersönlich auf dem Polizeirevier abzugeben. Und auf der Fahrt dorthin sei er halt zufällig uns begegnet." Die Strafen für Fahrraddiebstahl variieren zwischen einer Geldbuße von 500 oder 700 € bis hin zu Gefängnisstrafen. Das können Wochen, aber auch Monate sein, berichtet Dennis, während sein Chef die Autoschlüssel einsteckt. Zeit für die tägliche Kontrollfahrt durch die Innenstadt, um zu sehen, ob die lokfietsen noch alle da stehen, wo sie abgestellt wurden, und nicht umgefallen oder beschädigt sind. Es geht's los, zuerst Richtung Coolsingel und Rathaus. Rinck deutet nach rechts und nach links, überall sind Fahrräder zu sehen. An manchen Stellen ballen sie sich regelrecht. Vor Schulen, Einkaufszentrum, U-Bahnstationen. Oder so wie vor diesem Supermarkt: Das sind die Niederlande, überall Räder. An den Bahnhöfen seien es noch viel mehr. Dort entstehe jeden Morgen ein wahrer Ozean an fietsen. Für Raddiebe ein El Dorado - denn wer sieht in diesem Meer an Rädern schon, ob sich jemand auf sein eigenes Rad setzt oder auf ein geklautes? Die meisten ihrer Köderräder stellt die Polizei denn auch an solchen Hotspots auf - vor Schulen, Einkaufszentren, Bahnhöfen: "Sehen Sie das blaue Rad da? Das hellblaue?" Das ist eines unsere Köderräder. Und das schwarze weiter rechts auch, das mit dem Kindersitz!" Länger als drei Tage stehen die lokfietsen nie an ein und derselben Stelle, das würde auffallen. Nur die schönsten und modernsten Räder werden als Köder aufgestellt - so wie das pfefferminzgrüne Damenrad mit weißen Streifen und viereckiger Einkaufskiste vorne an der Lenkstange, an dem wir gerade vorbeifahren. Die Täter lassen sich in drei Kategorien einteilen: angefangen bei Drogensüchtigen und Hehlern, die ihr Diebesgut im Internet auf secondhand-sites anbieten. Über Gelegenheitsdiebe, die spätabends, wenn sie aus der Kneipe kommen, das erste beste Rad knacken, weil sie nicht nach Hause laufen wollen - oder weil ihnen ihr eigenes aus eben diesem Grund gerade geklaut worden ist. Bis hin zu semi-professionellen Banden, die ganze Busladungen voller geklauter Räder ins Ausland verfrachten, vorzugsweise Osteuropa. Die Köderräder werden immer gut abgeschlossen abgestellt, aber nie zusätzlich an einem Bügel Baum oder Laternenpfahl festgemacht. Allzu schwer will es die Polizei den Raddieben nicht machen. Der Radbesitzer hingegen, der sollte das schon, betont Rinck. Man solle nur zertifizierte Schlösser benutzen. Die lassen sich nicht so leicht mit einem Universalschlüssel oder Schraubenzieher knacken. Und immer an einem Stahlbügel oder Baum festmachen, sagt Rinck, als er seine Kontrollfahrt beendet hat und wieder im Büro gelandet ist. Dort herrscht Ruhe, nichts passiert. Kein Wunder bei dem schönen Wetter, witzeln die Männer vom Köderteam. "Die liegen alle am Strand, die Raddiebe, und warten bis es kühler ist." So sei das halt, manchmal sei drei Tage lang nichts los, an anderen Tagen umso mehr. Der neue junge Kollege am Schreibtisch in der Ecke macht ein langes Gesicht. Genau eine Woche ist er jetzt dabei und wartet auf seinen ersten Einsatz. Doch was ist in dieser Woche passiert? - nichts! Er erntet fröhliches Gelächter. Kein Grund zur Sorge. Das könne sich ganz schnell ändern. LITERATUR: Dass wir die Bewegung haben, ohne uns zu bewegen: Kein Traum hat uns mehr berauscht als dieser; kein Traum hat stärker alle Bereiche unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens durchdrungen, seit wir vom Fahrrad umgestiegen sind ins Auto. Kein Traum hat zu mehr Unfällen geführt und uns auf solch fatale Weise gelehrt, was Träume schon immer sind: potenzielle Albträume. (...) Wie es aussieht angesichts der totalen Entfaltung der Technik, oder der totalen Mobilisierung des Menschen, als die Ernst Jünger die Technik jubelnd beschrieb, fahren wir den Wagen gegen die Wand. Oder der Wagen fährt uns gegen die Wand, im Ergebnis dürfte der Unterschied nicht groß sein. (...) Satteln wir also um! Zurück aufs Fahrrad, das ist die Revolution. Wer weiß, vielleicht lehrt uns der Drahtesel all das, was die Menschheit zu vergessen droht, vielleicht gibt er uns ein Gefühl zurück, für das, was es heißt, Mensch zu sein: Dass wir strampeln müssen, um uns zu bewegen, dass wir leiden müssen für die Kunst, dass wir uns streiten müssen in der Politik und dass es Freude nur vor dem Hintergrund von Scheitern gibt, von Tragik, Hinfälligkeit und Tod. Reportage 5: Aufgeben gibt's nicht: Auf dem Rad die Gipfel Europas erstürmen Fast hätte er das Klopfen an der Tür überhört. Marcel Rijs unterbricht sich und geht in die Diele. Es ist die Nachbarin mit dem Päckchen, auf das er schon sehnsüchtig gewartet hat. Der Briefträger hat es nebenan abgegeben. Alles drin, wie bestellt, konstatiert der 53Jährige hocherfreut, als er es auspackt. Vier neue Radschläuche, Kettenöl und Bremsklötze. "Der Geruch von Gummi ist für mich das, was für Frauen Parfum ist! Riechen Sie mal! Ist das nicht fantastisch?" Das Paket stammt von einer Radspezialfirma und ist bedruckt mit den höchsten Gipfeln Europas: "Alpe d'Huez, 1.815 Meter. Mont Ventoux, 1.912 Meter, Galibier, 2.642. Und Stilfserjoch, 2.768 Meter." Marcel Rijs hat sie alle bezwungen. Mit seinem Rennrad. Kein Wunder, dass es der ein Meter 90 große Südniederländer aus Grave bei Nimwegen nur auf 78 Kilogramm bringt. Kein Gramm Fett, alles Muskeln und Sehnen. Seine wichtigsten sportlichen Erfolge hat er in einer Mappe mit Urkunden, Fotos und Karten festgehalten. Egal, ob Etappenrennen wie die Transalp-Tour, die in sieben Tagen über 22 Pässe von Oberammergau zum Gardasee führt. Eintagesrennen wie Mailand-San Remo, Paris-Roubaix oder die Runde von Flandern: Als Hobbyradrennfahrer hat Marcel auch die so genannten Tour-Versionen dieser Radrennklassiker Europas mitgemacht. Paris-Roubaix zu seinem Leidwesen nur einmal. "Hölle des Nordens" wird diese Königin der Klassiker auch genannt, wegen ihrer berüchtigten Pflasterstein-Abschnitte. "Mein Chirurg hat mich für verrückt erklärt, denn ich hatte mehrere Bandscheibenoperationen hinter mir, ich solle froh sei, dass ich noch laufen könne. Ich hab's trotzdem getan - aber es bei diesem einen Mal belassen. Und ich habe es nicht bereut - gut, eine Woche lang tat mir jeder Knochen weh, ich hatte an Händen und Füßen Blasen, aber das gehört dazu, das hat jeder. Es war fantastisch, es war sooo schön!" Den legendären Mont Ventoux hingegen, den Berg mit dem "schönen kahlen Kopp", den hat er bereits mehrmals erklommen. Wie oft genau, das weiß er nicht mehr, irgendwann hat er aufgehört zu zählen. Sieben, vielleicht auch acht Mal. Erst in diesem Frühling wieder stand er auf dem Gipfel in fast 2.000 Metern Höhe und ließ den Blick über die weite Landschaft der Provence gleiten. Mit einer Steigung von maximal 13 % ist der Ventoux eigentlich harmlos, es gibt weitaus Schlimmere. Den Zoncolan in Norditalien etwa oder den Angliru in Spanien: Der bringt es auf bis zu 24 % Steigung. Aber: "Der Weg nach oben ist beim Mont Ventoux 30 Kilometer lang, viel länger als bei anderen Bergen. Und irgendwann muss man die Richtung ändern und nach Westen radeln. Dann hat man Gegenwind - meistens vom Mistral. Ich kann Ihnen sagen, einmal, da habe ich auf dem steilsten Abschnitt nur mit dem Mistral gekämpft, die Steigung war völlige Nebensache. Ich hatte Schaum vor dem Mund. Und Brechreiz. Aber ich kam oben an. Das macht den Ventoux so schwer." Die Leidenschaft für den Radrennsport entdeckte Marcel schon als Kind. Durch seinen Vater, der sich kein Sportereignis im Fernsehen entgehen ließ, auch die Tour de France nicht: "Ich erinnere mich noch genau, es war 1980, da erlebte ich zusammen mit meinem Vater, wie Joop Zoetemelk die Tour de France gewann, da wollte ich unbedingt ein Rennrad haben. Da geriet ich in den Bann des Radsports, und es hat mich nie mehr losgelassen." Sein Onkel nahm ihn in dieser Zeit als Zuschauer mit zu wichtigen Radsportereignissen. Der junge Marcel sah alle seine Helden vorbeikommen- auch Didi Thurau, den ersten Deutschen seit langem: "Thurau feierte damals seine ersten Erfolge. Er trug, glaube ich, zehn Tage lang das gelbe Trikot!" Inzwischen sitzt er selbst seit gut 36 Jahren auf dem Rennrad. An die 450.000 Kilometer, so schätzt er, hat er in dieser Zeit geradelt. In den ersten Jahren trainierte er bis zu 22.000 Kilometer pro Jahr- die gut 80 Kilometer zur Arbeit hin und zurück pro Wochen nicht mitgezählt. Marcel Rijs arbeitet als Manager im Gesundheitswesen, 32 Stunden pro Woche. Eigentlich wollte er Lehrer werden und hat Geschichte studiert. Aber er wollte einen flexibleren Job. Um sein Hobby auszuleben. Und dreimal pro Woche zu trainieren. Sämtliche Gipfel in Europa, die ihn reizten, sind inzwischen abgeradelt. Deshalb hat sich Marcel eine neue Herausforderung gesucht: den so genannten Brevet. Er ist für die Radrennsportler das, was für Langstreckenläufer der Marathon ist. Seinen ersten Brevet, also einen Radmarathon, hat Marcel bereits erfolgreich hinter sich gebracht: Paris-Brest-Paris. Rund 1.200 Kilometer hin und zurück. Nonstop versteht sich, auch nach Einbruch der Dunkelheit. Ohne zu schlafen. Die besten schaffen es in 45 Stunden. Er hat 75 dazu gebraucht, erklärt er, als er die vier neuen Schläuche samt Bremsklötzchen und Kettenöl in das Paket zurücklegt, um dieses dann in die Garage zu bringen. Er hat seiner Frau versprochen, das Haus möglichst radrennsportfrei zu halten, schmunzelt er. "Sie wusste, sie konnte mich nur MIT Rad kriegen. Als wir uns kennenlernten, stand mein Rennrad im Schlafzimmer und, wenn es schmutzig war, unter der Dusche. Irgendwann hat sie gesagt, im Schlafzimmer müsse ich mich entscheiden: entweder sie - oder das Rad. Da hatte mein Rad dann doch das Nachsehen." In den Urlaub allerdings darf es immer mit, da hat sich das Ehepaar auf einen Kompromiss geeinigt: Vormittags darf Marcel auf dem Sattel das Gebiet erkunden, nachmittags wandern die beiden zu den schönsten Dörfchen, Schlössern und Burgen, die er zuvor auf dem Rad entdeckt hat. Anders werde er verrückt. An Weihnachten sei es immer am schlimmsten, da könne er zwei Tage nicht radeln, seufzt er auf dem Weg in die Garage. Drei Rennräder machen sich dort zusammen mit unzähligen Ersatzteilen und Werkzeugen den Platz streitig: das Rad, das ihn schon mehrmals auf den Mont Ventoux gebracht hat. Das, auf dem er Paris-Roubaix bewältigt hat. Und ein Trainingsrad, das er an einen Computer anschließen kann, um sich dank virtual reality in seiner Garage so vorzukommen wie am Galibier oder Tourmalet. Dann könne man den Schweiß, den er verliert, hinterher mit einem Lappen aufwischen, erzählt er, bevor er das Päckchen mit den neuen Ersatzteilen ins Regal stellt und sich wieder ins Haus begibt. Ein Leben ohne Rad - so viel ist klar - kann sich Marcel Rijs nicht vorstellen. Überleben würde er das zwar - aber er würde krank werden. Mit Sicherheit: "Nee nee, dan zou ik ziek worden!" 15