Nellie Bly: Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts. Manuskript: Lotta Wieden: Redaktion: Kim Kindermann Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts, Zeitreisen, Nellie Bly, Lotta Wieden, Weltreise, Segeln, Schiff, Weltumrundung, 1889, Manuskript Zeitreisen-Manuskript: Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts Musik & Atmo1 Möwen, Wellen schlagen leise gegen eine Brandungsmauer Sprecherin 1 Am Donnerstag, den 14. November 1889 um 9 Uhr, vierzig Minuten und dreißig Sekunden, begann ich meine Reise um die Welt. Es war ein klarer und herrlicher Morgen, und solang das Schiff noch vertäut dalag, war alles gut. O-Ton 1 Goodman (VO, Sprecher 1): It really was a remarkable trip for its time. The first of all was that no one had ever really tried to go around the world. Es war – für die damalige Zeit – eine wirklich außergewöhnliche Reise: Zum einen, weil es bis dahin überhaupt noch nie jemand versucht hatte: Der Suez-Kanal war gerade erst fertig gestellt und die erste transkontinentale Eisenbahnstrecke, quer durch die USA, war gerade erst gebaut worden. Autorin Matthew Goodman, New Yorker Literaturwissenschaftler, Sachbuchautor, Nellie-Bly-Experte: O-Ton 2 Goodman (VO, Sprecher 1): Es war also zum aller ersten Mal überhaupt vorstellbar, so in einem Ritt um die Welt zu reisen. Und Nellie Bly war der erste Mensch, der sich daran wagte, das wirklich auszuprobieren. … whether or not you could actually go around the world. Atmo2 Dampfschiffshorn um die Jahrhundertwende Sprecherin 1 Als meine Freunde aber von Bord gehen sollten, wurde mir klar, was das für mich bedeutete. Nur 45.000 Kilometer, redete ich mir zu. Solange ich konnte, blickte ich auf die Menschen am Kai zurück. Musikakzent 1 Ragtime Autorin Als die amerikanische Journalistin Nellie Bly im November 1889 zu ihrer Weltumrundung aufbricht – ohne Begleitung, ohne Fremdsprachenkenntnisse, gerade mal 25 Jahre alt, bereitet sich das amerikanische Medienspektakel der Saison vor: Hunderttausende verfolgen ihr Wettrennen gegen die Zeit. Denn die zierliche Frau mit der Stupsnase und den langen, braunen Haaren, will schneller sein als irgendein Mensch vor ihr – und sie will einen Rekord brechen: Phileas Fogg schlagen, den Romanhelden des Jules-Verne-Bestsellers „In 80 Tagen um die Welt“. Dieser wenige Jahre zuvor erschienene Roman, hatte den Herausgeber der „New York World“, auf die Idee gebracht, Nellie Bly alle Stationen von Foggs fiktiver Reise tatsächlich anzusteuern zu lassen: auf Dampfschiffen, in Eisenbahnen und Pferdekutschen und so den Rekord von 80 Tagen zu unterbieten! Atmo3 Tuten eines großen Dampfschiffes, Menschenmenge die dazu ruft O-Ton 3 Goodman (VO, Sprecher 1): The other thing perhaps even more so was that she was a women going by herself all the way around the world, unescorted Und das andere war: Sie war eine Frau! Eine Frau, die ganz allein um die Welt reisen wollte, unbegleitet, unbeschützt muss man sagen, durch einen Mann. Im Viktorianischen Zeitalter, gingen Frauen für gewöhnlich nicht mal allein auf die Straße. Und selbst für Journalistinnen galt es als unschicklich, nachts allein unterwegs zu sein oder bei Regen aus dem Haus zu gehen. Also, die Vorstellung, dass eine Frau ganz allein um die Welt reisen sollte, das war eine wirklich außergewöhnliche Sache. So the notion of a single women going all the way around the world by her self was really a remarkable thing. O-Ton 4 Kroeger (VO, Sprecherin 2): It was like sending a ham… I think that’s absolutely true. And speaking of critics … Mal ehrlich, man hätte genauso gut einen Hamster auf die Reise schicken können. Aber wenn wir schon von Kritik sprechen: Viele Leute waren einfach wahnsinnig neidisch auf sie! Der Neid von anderen Journalisten, Männern wie Frauen, war geradezu mit den Händen zu greifen. The jealousy from other journalists, both male and female editors, was palpable. Autorin Brooke Kroeger, Professorin für Journalismus an der New York University, Verfasserin der bis heute einzigen Nellie-Bly-Biografie. O-Ton 5 Kroeger (VO, Sprecherin 2): Und dieser Neid überall, das allein zeigt ja, wie wichtig Bly damals bereits war. It’s a very good sign of her prominence. Autorin Als Nellie Bly am 14. November 1889 an der Reling der „Augusta Victoria“ stehend, in sentimentaler Stimmung die ersten Eindrücke ihrer Weltreise notiert, gilt sie bereits als Starjournalistin. Ein Erfolg, den sie sich in hart erkämpft hat: Musikakzent 2 BadlyDrawn Boy: “I love N.Y.E.” Sprecher 2 Nellie Bly wird am 5. Mai 1864 in Westpennsylvania, als Elisabeth Jane Cochran geboren: Die Eltern sind wohlhabend. Elisabeth und ihre Geschwister genießen eine unbeschwerte Kindheit, doch dann stirbt der Vater, ein angesehener Unternehmer, und für die Cochrans beginnt ein rapider gesellschaftlicher Absturz: Elisabeth, damals sechs Jahre alt, erlebt Umzüge in immer billigere Wohngegenden, Hänseleien ihrer Mitschüler, Geldsorgen der Mutter. Als sie mit 15 beschließt Lehrerin zu werden, geht ihrer Familie nach nur einem Semester das Schulgeld aus. Elisabeth muss Geld verdienen. Sie arbeitet hin und wieder als Kindermädchen oder gibt Nachhilfestunden: alle Träume, sich gesellschaftlich zu etablieren scheinen ausgeträumt. Doch dann gelingt ihr fünf Jahre später der Einstieg in den damals noch ganz und gar männerdominierten Journalismus – auch das eine Geschichte, die sich liest wie ein Hollywood-Drehbuch: Autorin An einem Wintertag 1885, die Familie lebt inzwischen in Pittsburgh, liest die damals 20jährige in der „Pittsburg Dispatch“ eine Kolumne, die sie wütend macht: Der Autor verhöhnt Frauen, die ihren Platz außerhalb von Heim und Familie suchen, einer Arbeit nachgehen wollen. Die Kolumne gipfelt in der der Schlussfolgerung: Sprecher 2 Das Reich der Frau lässt sich mit einem einzigen Wort definieren: „Home!“ Autorin Elisabeth Cochran schreibt einen erbosten Leserbrief und unterzeichnet ihn – wie damals üblich – mit einem Pseudonym: „Einsames Waisenmädchen“. Der Brief landete bei Chefredakteur George Madden. Madden registriert: eine verquere Grammatik, eine fehlerhafte Interpunktion, aber auch einen erfrischend unverblümten Zungenschlag. Sprecher 2 „Nicht gerade das, was man einen guten Stil nennt“, Autorin soll Madden gebrummt haben, Sprecher 2 „aber was sie zu sagen, sagt sie! Sie haut’s einfach raus!“ Autorin Weil der Brief keinen Absender hat, lässt Madden eine Anzeige drucken mit der Bitte, das „einsame Weisenmädchen“ möge sich melden. Die Anzeige erscheint am 17. Januar 1885. Am nächsten Tag steht die Gesuchte in Maddens Büro. O-Ton 6 Kroeger (VO, Sprecherin 2) I mean she almost had no schooling.... Sie war ja kaum zur Schule gegangen und nicht sehr gebildet. Aber Madden, der Chefredakteur, liest ihren Brief und sagt: „Ich seh’ da was!“ Und lässt sie zu sich kommen und bietet ihr einen Job an! Stellen Sie sich das vor! Stellen Sie sich mal vor, das würde heute passieren! Unglaublich! And calls her in and gives her a job! Imagine, image that happening today! It’s really unbelievable. Autorin Elisabeth Cochrans erster Artikel bei der „Pittsburg Dispatch“ ist überschrieben mit: „Die Sphäre der Frauen“ – eine gesellschaftskritische Analyse zur Lage arbeitender Frauen kurz vor der Jahrhundertwende. Es folgt ein Kommentar zum Scheidungsrecht. Schon diesen zweiten Artikel unterzeichnet die Autorin mit dem Pseudonym Nellie Bly, nach der Heldin eines damals sehr populären Liedes: Musik 4: Nelly Bly Song Autorin Doch schon bald beauftragt George Madden seinen jüngsten Redaktionszuwachs mit weniger anspruchsvollen Themen – ganz im Stile der Zeit. Matthew Goodman: O-Ton 7 Goodman (VO, Sprecher 1) At that time in the US there were about 13.000 working journalists and of those 13.000 … Zu dieser Zeit gab es in den Vereinigten Staaten etwa 13.000 Journalisten und davon waren nicht mal 300 Frauen. Und die schrieben fast ausschließlich für die so genannten “Frauen-Seiten“. Das waren Seiten mit Themen, von denen man dachte, dass sie Frauen am meisten interessieren würden: Also Mode, Highsociety, Klatsch und Tratsch, dazwischen kleine Gedichte, mal eine Buchrezension, Kochrezepte und so weiter – Artikel, die Nellie Bly einfach nicht schreiben wollte. Nellie Bly herself refused to do that kind of article. O-Ton 8 Kroeger (VO, Sprecherin 2) She got angry covering robber raincoats and flower shows, you know. Sie hatte keine Lust über gummierte Regenmäntel und Blumenausstellungen zu berichten. Sie wollte schreiben, was die Jungs schrieben, aber sie kam nicht durch damit. Und dann, eines Tages kündigte sie: Sie hinterließ einen Zettel auf dem Schreibtisch ihres Mentors, auf dem stand: Ich bin weg, nach New York! Du wirst von mir hören! – Bly! Bly! Wonderful, very Nellieesk! Atmo4 Straßengeräusche New York City um die Jahrhundertwende Autorin New York City aber schert sich wenig um die ehrgeizige 23jährige Journalistin, die im Frühjahr 1887 aus der Provinz in die große Stadt kommt. Fünf Monate lang versucht Nellie Bly den Fuß in die Redaktion irgendeiner der großen Tageszeitungen zu bekommen – ohne Erfolg. Im Spätsommer, sie ist nahezu Pleite, setzt sie alles auf eine Karte: Unter dem Vorwand, eine Geschichte über Frauen im Journalismus zu recherchieren, bittet Nellie Bly die Chefredakteure mehrerer Tageszeitungen um ein Interview, darunter John Cockerill von der „New York World“, damals die wichtigste Tageszeitung der Vereinigten Staaten. Cockerill lässt sich auf das Interview ein – und Nellie Bly nutzt die Chance, endlich ein paar eigene Reportage-Themen vorzuschlagen. O-Ton 9 Kroeger (VO, Sprecherin 2) Given the numbers of Barriers between the entrance and Cockerills office … Es war ja schon eine Leistung für sich überhaupt in Cockerills Büro vorzudringen, an all den Wachleuten, Vorzimmerdamen und Redakteuren vorbei, die es gewohnt waren, jeden Fremden abzuwimmeln, und bis hinauf in sein Zimmer zu gelangen!“ … this was an achievement itself. Autorin: Zwar lehnt Cockerill alles ab, was seine junge Besucherin vorzubringen hat. Doch er macht ihr auch ein Angebot: Nellie Bly soll Wahnsinn vortäuschen und versuchen, sich auf Blackwell`s Island einweisen zu lassen – damals die größte Irrenanstalt für Frauen in New York, ein berüchtigter Ort, über den allerlei Schauergeschichten kursieren. O-Ton 10 Wagner Nellie Bly muss klar gewesen sein, dass das wahrscheinlich ihre einzige Chance war, sich in New York im Zeitungswesen einen Namen zu machen und auch einfach wieder Geld zu verdienen. Autorin: Martin Wagner, Herausgeber der Reportage „Zehn Tage im Irrenhaus“: O-Ton 11 Wagner Und was jeden, der die Geschichte zum ersten Mal hört, begeistert ist diese atemberaubende Leistung einer jungen Frau, die am Ende des 19. Jahrhunderts Mut und Durchhaltevermögen genug aufbringt, um nacheinander vor mehreren Ärzten verrückt zu spielen,unter natürlich ganz fürchterlichen Bedingungen. Autorin: Zwei Tage lang irrt Nellie Bly in der Stadt umher, gibt vor, nicht zu wissen, wer sie ist. Dann nimmt sich die Polizei der Sache an. Es folgen mehrere ärztliche Untersuchungen, schließlich die Einweisung nach Blackwell`s Island. Brooke Kroeger: O-Ton 12 Kroeger (VO, Sprecherin 2) Extremely dangerous because getting out was a problem! Das Ganze war hochgefährlich: Die Frage war ja, wie kommt sie da wieder raus? Fürchterliche Sachen passierten da. Sie müssen nur mal die Szene im Waschraum lesen. Absolut grauenhaft! I mean its completely harrowing! Musik, darüber Sprecherin 1 Wir wurden in einen kalten, feuchten Waschraum gebracht, und mir wurde befohlen mich auszuziehen. Ob ich protestierte? Es war mir nie so ernst wie hier, als ich darum bat von dieser Pflicht ausgenommen zu werden. Die Schwestern sagten, dass sie, wenn ich mich nicht auszöge, Gewalt anwenden und dass das nicht angenehm werden würde. Da bemerkte ich, dass eine der verrücktesten Frauen mit einem ausgebleichten Lumpen in der Hand neben der gefüllten Badewanne stand. Sie sprach mit sich selbst und kicherte dabei teuflisch. Ich wusste nun, was mir bevorstand. Atmo5 Schrille Töne noch mal hoch, dann weg Autorin Bly schreibt über verdorbenes Essen, ungeheizte Zimmer, über Häme, Willkür und Folter. Sie berichtet von der Anstrengung, jeden Tag stundenlang auf einer Bank sitzen zu müssen, in gerader Haltung, ohne die Möglichkeit, sich irgendwo anzulehnen, geschweige denn einer Beschäftigung nachgehen zu können. „Muss hier nicht auch der gesündeste Mensch irgendwann verrückt werden?“, fragt sie und beschreibt an andere Stelle, wie die Anstaltsärzte arbeiten: Musik, darüber Sprecherin 1 Am Nachmittag kam Dr. Field vorbei und untersuchte mich, er stellte mir nur einige wenige und zudem für meinen Fall völlig belanglose Fragen. Dennoch hörte ich ihn sagen, dass mein Fall hoffnungslos sei. Als der Arzt gerade den Pavillon verlassen wollte, kam Miss Tillie Mayard auf ihn zu: „Wenn Sie von irgendwas eine Ahnung hätten“, sagte sie, „dann wären Sie fähig zu erkennen, dass ich geistig vollkommen gesund bin. Warum untersuchen Sie mich nicht?“ – „Wir wissen alles, was wir wissen müssen“, sagte der Arzt und überließ die Arme – wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens – dem Dasein in einer Irrenanstalt. Autorin Zehn Tage dauert der Selbstversuch, dann lässt die Redaktion der „New York World“ einen Anwalt vorsprechen, der beteuert, ab sofort für den Unterhalt der jungen Patientin auf Station 7 aufzukommen. Nellie Bly wird entlassen. Fünf Tage später erscheint der erste Teil ihrer Reportage in der Sonntagsausgabe der „New York World – und löst einen Skandal aus, der wochenlang in den Medien diskutiert wird und die gesamte Stadtverwaltung erschüttert. O-Ton 13 Wagner Sie deckt ja nicht nur damit auf, welche Missstände es in der Psychiatrie gab, sie stellt das gesamte medizinische Fachwesen bloß. Autorin Blys Irrenhaus-Reportage wird zum Glanzstück eines frühen, investigativen Journalismus, dem die Autorin bald weitere Beispiele hinzufügt: Um über das Leben werktätiger Frauen zu schreiben, gibt sie sich als Fabrikarbeiterin, Revuetänzerin und Dienstmädchen aus. Im Central Park lässt sie sich von Zuhältern ansprechen, um deren Verführungsmethoden zu beschreiben und sie begibt sich kerngesund in medizinische Behandlung, um die Unfähigkeit der Ärzte in den Armenkliniken aufzudecken. Schließlich gelingt es ihr als vermeintliche Geschäftsfrau, einen einflussreichen New Yorks Lobbyisten der Bestechung zu überführen. O-Ton 14 Kroeger (VO, Sprecherin 2) So the stories were very powerful, she was always in the center of them. Ihre Geschichten hatten eine unglaubliche Power. Die Schlagzeilen lauteten: “Wie ich einmal ein Kind verkaufte“ oder „Nellie Bly als Dienstmagd“ oder „Meine Erlebnisse im Gefängnis“. Und sie selbst stand immer im Mittelpunkt der Geschichte. So she made herself the center of the narrative. Autorin: Dieser sensationsheischende Enthüllungsjournalismus, verlangt Wagemut, schauspielerisches Talent und hin und wieder persönliche Opfer. Stilistische Brillanz verlangt er nicht. Brooke Kroeger. O-Ton 15 Kroeger (VO, Sprecherin 2) Bly was average in so manyways: She was not a fantasticwriter; she was in somewaysveryfull Nellie Bly war in vielerlei Hinsicht eher durchschnittlich begabt. Und das gibt einem immerzu das Gefühl, das, was sie geschafft hat, könnte ich auch! Sie ist eben kein Genie, sie hat keine wahnsinnig tolle Schreibe und sie hat auch keine Einfälle, die ich oder Sie nicht hätten auch haben können, aber sie hat einen ungeheuren Willen./ Ihre Maxime war: Wenn man seine ganze Energie auf ein bestimmtes Ziel richtet, dann erreicht man es auch. Und nach diesem Motto lebte sie eigentlich ihr ganzes Leben. Autorin Wer heute im Internet die wissenschaftliche Datenbank „Undercover Reporting“ nach Nellie Blys Texten durchforstet, merkt schnell: Dieser Frau geht es kaum um tief greifende Recherchen oder strukturierte Informationen. Sie konzentriert sich ganz auf ihre Eindrücke, die Schilderung des persönlich Erlebten: O-Ton 16 Wagner Aber das gehört sicherlich auch zur Inszenierung dazu und zu dem, was man von ihr erwartet hat: dass sie eben auftritt als das naive junge Mädchen mit einem soliden Sinn für soziale Ungerechtigkeit. Auch dann wenn sie solche stunts übernahmen, mussten die Frauen weiterhin deutlich als Frauen auftreten. Autorin: Einer der großen Förderer dieses Enthüllungsjournalismus, der später unter dem Begriff „Girl Stunt Reporting“ in die Publizistik-Geschichte eingeht, ist der Herausgeber der „New York World“ – Joseph Pulitzer; der Mann, der Nellie Bly im November 1889, zwei Jahre nach ihrer Irrenhaus-Reportage, auf Weltreise schickt. Martin Wagner. O-Ton 17 Wagner Der Zeitungsmarkt damals in Amerika war hart umkämpft, im letzten Viertel des 19 Jahrhunderts vervierfacht sich die Zahl der Tageszeitung in New York und Joseph Pulitzer, einer der ganz großen Zeitungsmacher der Zeit, baut gerade im Jahr 1889 als sich Nellie Bly auf die Reise macht, ein großes, neues Bürohaus, das höchste Haus der Stadt damals. Und Pulitzer sucht natürlich nach neuen Marketingstrategien. Die Weltreise in Rekordzeit gehört zu diesen Strategien und Nellie Bly, die damals schon bekannt war durch ihre Reportageaus dem Irrenhaus war gewissermaßen der ideale Kandidat um sich die Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern. Atmo6 Dampfschiff Autorin: Wochenlang tüftelt die „New York World“ an der genauen Reiseroute: Sie soll Nellie Bly von New York nach London führen und von dort – ganz wie in Jules Vernes Roman – über den Ärmelkanal nach Frankreich. Von hier mit dem Zug bis in die süditalienische Hafenstadt Brindisi. Dann weiter über das Mittelmeer, durch den Suezkanal hindurch und dann gute dreieinhalbtausend Kilometer auf dem Arabischen Meer bis nach Ceylon, dem heutigen Sri Lanka. Hier soll Nellie Bly auf ein Anschlussschiff warten, das sie über Singapur und Honkong bis nach Japan bringt, wo sie sich schließlich auf dem Pacific Mail Dampfer nach San Francisco einschiffen soll, um dann die letzte Hürde zu nehmen: einmal quer durchs Land mit der transkontinentalen Eisenbahn bis nach Chicago, und New York. Sprecherin 1 Ich kaufte eine Handtasche und nahm mir vor, mein gesamtes Gepäck auf ihren Umfang zu beschränken. In dieser Tasche konnte ich folgendes unterbringen: zwei Reisemützen, drei Schleier, ein Paar Pantoffeln, ein Tintenfass, Füllfederhalter, Durchschlagpapier, einen großzügigen Vorrat an Rüschen, Nadeln und Faden, einen Schlafrock … Autorin: Pulitzer und Cockerill tun alles, um das Interesse der Leser am Schicksal ihrer Starreporterin wachzuhalten: Tag für Tag erscheinen Beschreibungen der Länder, Städte, Landschaften, in denen Nellie Bly gerade unterwegs sein müsste; Wetternachrichten, Spekulationen über knapp erreichte oder verpasste Anschlüsse: O-Ton 19 Goodman (VO, Sprecher 1) They were promoting it every day in the pages of their paper, about two weeks into the trip they created Zwei Wochen nach Beginn der Reise kamen sie auf die Idee, ein Ratespiel zu veranstalten, bei dem die Leser auf die Sekunde genau schätzen sollten, wie lange Nellie Bly für ihre Reise brauchen würde. Der Hauptgewinn: Eine Europareise. Ein riesen Erfolg: Jeder wollte mitmachen, wie bei einer großen Lotterie! Und kurz bevor Nellie Bly wieder in New York ankam, zählte die Redaktion knapp eine Million Zusendungen. …by the time the trip was over they had received nearly a million entries in the Nellie Bly guessing Match. O-Ton 20 Kroeger: (VO, Sprecherin 2) So a lotofthecommercialmeansofgeneratinginterestandsustaininginterestreallywereborn in thatkind Viele kommerzielle Strategien wurden in dieser Zeit neu entwickelt: Zum ersten Mal ging es um eine Berichterstattung, die die Sensationslust und Vorstellungskraft der Leser über einen Zeitraum von 80 Tagen aufrecht erhalten würde. Atmo7 Lärm von Druckereimaschinen, Ruf: Extrablatt! Autorin Die Auflage der „New York World“ steigt und auch in Frankreich, England und Japan berichten die Zeitungen von der jungen Amerikanerin und ihrer außergewöhnlichen Reise. Hunderttausende verfolgen ihr Rennen um die Welt. Doch Nellie Blys später erscheinender Reisebericht wirkt – zumindest aus heutiger Sicht – erstaunlich belanglos: Atmo8 Eisenbahnfahrt zur Jahrhundertwende Sprecherin 1 Die englischen Eisenbahnwaggongs sind erbärmlich beheizt. Man verbrennt sich die Füße am Fußwärmer, während man sich weiter oben in der kalten Luft den Rücken verkühlt. Dazu sitzt man stundenlang Auge in Auge und Knie an Knie einem Fremden gegenüber, sei er nun unangenehm oder nicht. Autorin Nellie Bly schreibt über Londons Straßenpflaster, italienische Häfen, zerlumpte Araber und eine Gruppe somalischer Jungen, die in der Bucht von Aden nach Münzen von Touristen tauchen. Akribisch notiert sie alle Stadien ihrer Seekrankheit, berichtet amüsiert von einer erfolglosen Schlangenbeschwörung in Colombo und angewiderten von dem Besuch einer chinesischen Leprakolonie. Sie lästert über Mitreisende, empört sich über die Vorrechte von Männern auf englischen Dampfschiffen, schwärmt von Japan und protokolliert penibel ihre immer währende Sorge, den nächsten Anschluss zu verpassen: O-Ton 21 Wagner Also Nellie Blys Leistung besteht eben darin, diese Reise zu Machen, die sonst keiner gemacht hat, in die Tat umzusetzen, worüber die anderen spekuliert haben. Aber einmal unterwegs ist sie letztlich Touristin. Da sitzt sie in Schiffskabinen und Zugabteilen erster Klasse und reist mehr oder weniger bequem und ob sie es nun schafft, in weniger als 80 Tagen um die Welt zukommen das hängt letztendlich weniger von ihr ab als vom Wetter. Autorin Dennoch, so Martin Wagner, ist Nellie Blys Bericht ein faszinierendes Zeitdokument, gerade weil er die Trivialität des Reisens um 1890 so genau darstellt. O-Ton 22 Wagner Nellie Bly stellt keine großartigen Recherchen an über die Orte, die sie bereist. Sie hat während ihrer Reise, weil sie ja so schnell sein will, kaum Zeit sich irgendetwas genau anzusehen. Sie besucht immer nur die Orte, die der aller oberflächlichste Tourist auch besuchen würde. Sie ist sozusagen die Chronistin der Trivialität des Reisens vor 120 Jahren. Autorin Und noch etwas zeigen Nellie Blys tagebuchartige Notizen: Sie dokumentieren unverhohlen das kolonialistische Überlegenheitsdenken der Amerikaner und Europäer gegenüber dem Rest der Welt. Nur knapp widersteht die Autorin der Versuchung, einen ägyptischen Jungen oder ein singhalesisches Mädchen zu kaufen. Am Ende entscheidet sie sich für einen Affen – ein Souvenir, dass bei ihrer Ankunft in San Francisco fast genauso frenetisch gefeiert wird wie sie selbst. Atmo10 Jubel bei der Ankunft. Sprecherin 1 Meine Fahrt über den (heimischen) Kontinent ist mir als einziges Gewirr aus Begrüßungen, guten Wünschen, Glückwunschtelegrammen, lautem Jubel, wilden Hurrarufen, eiligem Händeschütteln, und einem wunderschönen Eisenbahnwaggong voller duftender Blumen in Erinnerung. Atmo10 Jubel bei der Ankunft noch mal hoch Sprecherin 1 Es war herrlich! O-Ton 23 Wagner Vor allem dann auf dem Endspurt ihrer Reise von San Francisco nach New York warteten ihre Anhänger, ihre Fans an allen Bahnhöfen auf sie und feierten sie wie ein Rockstar im Grunde. O-Ton 24 Goodman (VO, Sprecher 1) … und auf diesem Weg zurück nach New York wird Bly wird zur berühmtesten Frau im ganzen Land. Autorin Am 25. Januar 1890 – nach genau 72 Tagen, 6 Stunden, 11 Minuten und 14 Sekunden, erreicht Nellie Bly New York. O-Ton 25 Goodman (VO, Sprecher 1) arguably the most famous women even in the world at that time. This was the moment in … vermutlich sogar der ganzen Welt. Und das ist der Moment in der amerikanischen Geschichte, wo viele Unternehmer zum ersten Mal realisieren, dass sich die Berühmtheit gewisser Leute für ihre eigenen Produkte nutzen lässt. Plötzlich tauchten überall Nellie-Bly-Artikel auf: Die Frauen trugen Nellie-Bly-Kleider, die dem Kleid nachempfunden waren, das Bly auf ihrer Weltumrundung getragen hatte. Es gab Nellie-Bly-Handschuhe und Nellie-Bly-Hüte. Man konnte seine Briefe auf Nellie-Bly-Papier schreiben, mit einem Nellie-Bly-Stift beim Schein einer Nellie-Bly-Lampe. Kinder spielten mit Nellie-Bly-Puppen und es das beliebteste Brettspiel in dieser Zeit hieß “Mit-Nellie-Bly-Rund-um-die-Welt“. Kurz: Ihr Name und Ihr Image waren überall. So her name and image were everywhere. Autorin Zwei Wochen nach ihrer Ankunft bricht die 25jährige zu einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten auf. 40 Stationen, im ganzen Land ausverkaufte Häuser, auch ihre Reisereportage verkauft sich glänzend. Doch zu dem von ihr wesentlich mitgeprägten Enthüllungsjournalismus kehrt sie nie mehr zurück: Matthew Goodman. O-Ton 26 Goodman (VO, Sprecher 1) The celebrity was not good for her as a journalist. Becauseshehadmade her nameas an undercover Bly hatte sich einen Namen als Undercover-Journalistin gemacht, als Reporterin, die ihre Identität verbarg, in immer neue Rollen schlüpfte, um an gute Geschichten heranzukommen. Aber nach ihrer Weltreise war sie einfach zu berühmt dafür. Sie wurde überall sofort erkannt. She was constantly being recognized. Autorin Doch der Ruhm ist nicht von Dauer: Zwar erhält sie direkt nach ihrer Weltreise einen hochdotierten Vertrag als Autorin von Unterhaltungsliteratur, doch Nellie Bly, nun aller finanziellen Sorgen ledig, bringt innerhalb dreier Jahre nicht ein einzige Erzählung, geschweige denn einen Roman zu Papier. O-Ton 27 Goodman (VO, Sprecher 1) And than her life began kind of going down hill for a long period … Und von da an geht es für lange Zeit bergab mit ihr. Musik, darüber Autorin Nellie Bly zieht sich zurück. Als ihr Bruder Charles stirbt, versinkt sie wochenlang in Depressionen. Doch dann, 1895 lernt sie, inzwischen 30 Jahre alt, Robert L. Seaman kennen, einen 70-Jährigen Stahlfabrikanten und Millionär. Zwei Wochen nach ihrer ersten Begegnung heiraten die beiden. Ganz New York spekuliert über die Hintergründe dieser Ehe: O-Ton 28 Goodman (VO, Sprecher 1) Youknow, she was growinguppoor … Naja, sie war in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, mit vielen Geschwistern und einer allein erziehenden Mutter. Ihre Karriere kriselte. Klar, sie wollte Geld haben. Shewantedtohavemoney. Atmo11 Fabrikgeräusche um die Jahrhundertwende Autorin Als Seaman, 1904, nach neun Ehejahren stirbt, übernimmt die Nellie Bly als Alleinerbin die Fabriken ihres Mannes – zunächst voller Enthusiasmus: Sie kümmert sich um technische Neuerungen, lässt für ihre Angestellten eine Bibliothek errichten und eine Turnhalle. Zu spät bemerkt sie, dass sie von ihrem Geschäftsführer, systematisch betrogen wird. Bald schon beschäftigen sich die Gerichte mit Blys Vermögen, oder mit dem, was davon übrig ist. Sprecherin 1 „Wenn Sie jemals vor Gericht stehen, denken Sie daran: Die Wahrheit ist tabu.“ Autorin: Schreibt Nellie Bly 1912 in einem Artikel für das „New York Evening Journal“: Sprecherin 1 „Die Anwälte der Gegenseite werden Sie in einen Sumpf von Lügen tauchen. Sie werden jedes Detail ihres Lebens ausgraben bis zu dem Tag als Sie ihren großen Zeh noch für die aufregendste Sache der Welt hielten – so lange bis Sie sich selbst nicht mehr im Spiegel erkennen“. Autorin In einem verzweifelten Versuch ihre letzten Ersparnisse zu retten, bricht Bly im Sommer 1914 nach Europa auf, wo sie den Beginn des Ersten Weltkrieges erlebt: Noch einmal fängt sie von vorn an – diesmal als Kriegsreporterin in Österreich. Erst 1919 kehrt die frühere Starreporterin, Unternehmerin und Feministin zurück nach New York. Hier stirbt sie drei Jahre später an den Folgen einer Lungenentzündung - verarmt und fast vergessen: Musik, darüber O-Ton 29 Goodman (VO, Sprecher 1) Nellie Bly died at young age, at the age of 57, and did not have very much money Nellie Bly starb jung, gerade mal 57 Jahre alt. Und weil nicht genug Geld da war, bekam sie nicht mal einen Grabstein. Erst fünfzig Jahre später, in den 1970er Jahren, als der Berufsverband der New Yorker Journalistinnen entdeckte, das eine ihrer wichtigsten Vorreiterinnen noch nicht mal einen Grabstein hat, änderte sich das: Journalistinnen begannen Geld zu sammeln und errichteten einen Grabstein - zum Gedenken an die Inspiration, die von dieser Frau für heutige Journalistinnen ausgegangen war. symbol of the inspiration that she provided them as journalists. *** 1