Zitator In vorhistorischen Zeiten gab es eine Gesellschaft, die kommunistisch war und eine höhere Stufe der sozialen und technischen Entwicklung besaß, als die unsere. Erzähler 17-18. Mai 1937. Moskau. Aus dem Verhörprotokoll von Gleb Boki, Gründer des sowjetischen Lagersystems. Zitator Überreste dieser Gesellschaft befinden sich in unzugänglichen Bergregionen Zentralasiens. Ihr Zentrum heißt Schambala und seine Existenz ist ein strenggehütetes Geheimnis. Um mit ihm in Verbindung zu treten, wurde unsere freimaurerische Organisation gegründet. Ich gebe zu, dass ich die Interessen unseres Ordens über die Interessen von Partei und Staat gestellt habe und dass ich mich, um die wissenschaftlich-mystischen Geheimnisse Schambalas zu erwerben, von der marxistisch-leninistischen Lehre abgewandt und mit Klassenfeinden Kontakt aufgenommen habe. Erzähler Sieben Monate später, am 15.November 1937 wurde Gleb Boki zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag hingerichtet. Genauso die anderen Mitglieder seines Kreises. Allesamt hatten sie hohe Ämter innegehabt und allesamt wurden ihre Namen aus der Geschichte gestrichen. Wie auch jene hunderttausende weiteren Opfer dieser Jahre, deren Schicksal Jahrzehnte lang Staatsgeheimnis gewesen war. Erst mit Gorbatschow sollte sich das ändern. Musikalischer Akzent Sprecher O-Ton Russisch (Voice Over) Die ganze Sache begann mit der Perestroika. Es gab damals einen sehr bekannten Journalisten, der viel über Menschen schrieb, die man unschuldig angeklagt hatte. Erzähler September 2012. Ein Cafe´ im Zentrum Moskaus. Alexander Kolpakidi, ein bekannter Geheimdienstspezialist, erzählt davon, wie die Verhörprotokolle 1990 zum ersten Mal öffentlich bekannt wurden. Sprecher O-Ton Russisch (Voice Over) So hätte man doch tatsächlich Boki mit der Beschuldigung angeklagt, er sei Freimaurer gewesen. Wie konnte man auf die Idee kommen, ausgerechnet Boki sei Freimaurer gewesen? Niemand beachtete diesen Artikel besonders, da alle dachten, dies sei ein Witz und die Geheimdienstler hätten sich über den gesunden Menschenverstand hinweggesetzt. Wir waren in der Sowjetunion aufgewachsen und man hatte uns beigebracht, dass alle Bolschewisten Materialisten waren. Dass es dort Leute gab, die an Schambala glaubten, die an irgendwelche tibetischen Weisen glaubten, an irgendwelche vorgeschichtlichen Kenntnisse, das war einfach nicht vorstellbar. Ich las diesen Artikel auch ? ich las damals eine Unmenge Artikel über diese Dinge ? und beschäftigte mich mit dieser Sache, aber ich sah die Wirklichkeit hinter der Geschichte nicht. Musikalischer Akzent Erzähler Die meisten derer, die 1937 und 1938 hingerichtet wurden, hatte man vorher schwer gefoltert. Bis sie alles zugaben, was man ihnen vorwarf. Politbüromitglieder bekannten sich als imperialistische Agenten, Ärzte als Giftmörder und der Verteidigungsminister als deutscher Spion. Hier lag ein weiterer Grund, warum die Bekenntnisse Bokis niemand ernst nahm. Noch dazu waren die Aussagen Bokis kaum zu überprüfen. Er war Leiter einer Abteilung gewesen, die selbst innerhalb der Geheimpolizei sorgfältig abgeschirmt wurde. O-Ton Russisch (Voice Over) Sprecher Er war im Besitz aller Geheimnisse. Erzähler Wir sind in Moskau in der Buchhandlung Ziolkowsky, ganz in der Nähe der Lukjanka, dem heutigen und auch damaligen Sitz der Geheimpolizei. Der Journalist und Fernsehmoderator Oleg Schischkin erzählt. Ein lebhafter, elegant gekleideter Mann mit einem gepflegten Kinnbart. Er war der erste, dem der Gedanke kam, die Bekenntnisse Bokis könnten wahr sein. O-Ton Russisch (Voice Over) Darin liegt das Geheimnis dieses Menschen. Er wusste alles. Erzähler Lenin persönlich hatte Boki 1921 an die Spitze einer neugegründeten Organisation berufen, die so geheim war, dass sie lediglich als Sonderabteilung bekannt ist. Formal beim Geheimdienst angesiedelt, jedoch nicht in dessen Hierarchie eingegliedert, war sie letztlich nur der Staatsspitze selbst verantwortlich. Ihre Aufgabe war es, alles zu chiffrieren, was unbefugte Augen und Ohren nicht lesen oder hören sollten. O-Ton Russisch (Voice Over) Wenn jemand in der Lage war, alles zu lesen, was in Moskau chiffriert wurde, dann wusste er alles. Vor dem kannst Du nichts verbergen. Er war für alle eine potentielle Gefahr. Allerdings war er ein Mensch mit hoher bolschewistischer Moral. Musikalischer Akzent Erzähler Als Musterbolschewik, so wird Boki in den wenigen persönlichen Erinnerungen charakterisiert, die sich über ihn erhalten haben. Sein Schwiegersohn Lew Rasgon, der ihn 1935 kennenlernte und als einziger aus Bokis Familie überlebte, schildert ihn in seinen Erinnerungen als Überbleibsel einer anderen, idealistischeren Zeit. Zitator Gleb Iwanowitsch Boki gehörte einer völlig anderen Generation von Tschekisten an. Erzähler Tschekist kommt von Tscheka, der ersten Bezeichnung für die Geheimpolizei der Bolschewiki. Zitator Er weigerte sich, die Privilegien zu nutzen, die ihm zustanden. Also eine Datscha anzunehmen oder auf Kur zu gehen. Er lebte mit seiner Frau und der älteren Tochter in einer winzigen Dreizimmer-Wohnung und weder Freunde noch Verwandte konnten auch nur davon träumen, jemals seinen Dienstwagen zu benutzen. Er trug Sommers wie Winters ein und denselben Regenmantel und eine zerknitterte Schirmmütze. Erzähler Genauso schildert ihn die Schriftstellerin und alte Bolschewikin Margarita Jamschtschikowa in nachgelassenen Erinnerungen. Sie schreibt, er habe niemanden die Hand geschüttelt, da er dies für eine bürgerliche Gewohnheit hielt und sei so genügsam gewesen, dass er sich sogar die Schuhe selbst besohlte. Die Jamschtschikowa kannte Boki seit der Jahrhundertwende, als beide mit ihrer Tätigkeit im revolutionären Untergrund begannen. Erzählerin Boki war ein Mann der ersten Stunde, und bereits Mitglied von Lenins Organisation, bevor die Partei offiziell gegründet wurde. Ein unermüdlicher Kämpfer gegen das Zarenregime wurde der Revolutionär nicht weniger als zwölf Mal verhaftet und mehrmals zu längeren Haftstrafen verurteilt und nach Sibirien verbannt. Doch obgleich er in Haft an der damals unheilbaren Tuberkulose erkrankte, setzte er den Kampf fort. Seine Spezialität war das Auffinden von Polizeispitzeln, wobei er eine geradezu unheimliche Fähigkeit besaß. Wie die Jamstschikowa berichtet, genügte ihm dazu ein einziger Blick. Erzähler Es war eine Fähigkeit, die ihn nach der Revolution für eine neue blutige Aufgabe prädestinierte. 1918 nämlich wurde Boki Vorsitzender der Geheimpolizei in Petrograd, dem heutigen St. Petersburg. Und damit zum Begründer des roten Terror, wie man die Massenerschießungen nennt, die gleich nach seiner Ernennung begannen. Auf ihrem Höhepunkt wurden in nur einer Nacht 512 Menschen erschossen. Erzählerin Wie man aus Erinnerungen jener Wenigen weiß, die den roten Terror überlebten, war Boki absolut unbestechlich. War ein Todesurteil gefällt, gab es nichts, womit man ihn zur Aufhebung bewegen konnte. Ganz im Unterschied zu manchem Kollegen, der sich für Geld oder Wertsachen erkenntlich zeigte. So erklärt es sich, dass Boki 1920 von Lenin persönlich beauftragt wurde, führende Genossen zu untersuchen. Spätestens 1921 wurde er zum Hüter der Staatsgeheimnisse, da er vom Revolutionsführer mit der Gründung einer Sonderabteilung beauftragt wurde. Ein Zeichen des absoluten Vertrauens, da diese Position zum Machtmissbrauch geradezu einlud. Erzählerin Tatsächlich sind von Boki keine jener Sünden überliefert, derer sich viele seine Kollegen schuldig machten. Weder häufte er Reichtümer an, noch nahm er an Orgien teil. Allerdings notierte er Verstöße hoher Kader gegen die Parteidisziplin sorgfältig in ein kleines schwarzes Buch. Eine Absicherung für den Fall parteiinterner Intrigen. Erzählerin Somit unantastbar geworden, ging er daran, die Sonderabteilung zielstrebig auszubauen. Sowie an ein neues geheimes Projekt. Musikalischer Akzent Erzähler 17.Mai 1937. Aus dem Verhörprotokoll von Gleb Boki. Zitator Schon 1926-27 hatte ich mich so weit von der Partei entfernt, dass die innerparteilichen Auseinandersetzungen jener Jahre völlig an mir vorbeigingen. Unter dem Einfluss von Bartschenko hatte ich mich mehr und mehr in den Mystizismus vertieft. Erzähler An dieser Stelle wurde der Häftling unterbrochen. Sein Vernehmer hatte eine Frage. Wer war Bartschenko? Zitator Alexander Bartschenko ist ein Biologe, mit dem ich 1924 bekannt wurde, als zwei frühere Mitarbeiter der Tscheka aus Leningrad mit ihm zusammen in die Sonderabteilung kamen. Sie empfahlen ihn mir als talentierten Forscher, der eine Entdeckung von enormer politischer Bedeutung gemacht hatte. In vorhistorischen Zeiten habe es eine kommunistische Gesellschaft gegeben, die höher entwickelt war, als die unsere. Überreste dieser Gesellschaft befänden sich in unzugänglichen Bergregionen Zentralasiens. Ihr Name sei Schambala. Er selbst, Bartschenko, sei durch geheime Abgesandte dieses religiös-politischen Zentrums in die Wissenschaft der Vorzeit eingeweiht worden. Musikalischer Akzent Erzähler Auch das klang völlig unmöglich, als es 1990 bekannt wurde. Ausgerechnet Gleb Boki, der unbestechliche Begründer des roten Terrors sollte sich auf so etwas eingelassen haben? Es musste eine Erfindung seiner Vernehmer und Folterer sein. Und überhaupt, wer war Alexander Bartschenko? Niemand hatte je von einem Biologen dieses Namens gehört. Erzählerin Doch das sollte sich ändern. 1995, also mehrere Jahre später, stieß der Journalist Oleg Schischkin wieder auf den Namen Bartschenko. Wenn auch in einem anderen Zusammenhang. O-Ton Russisch (Voice Over) Ich erfuhr, dass es einen gewissen Swjatosar Bartschenko gab, der 1991 den Roman ?Dr. Tschjorni? veröffentlicht hatte. Einen mystischen Roman in zwei Teilen. Erzähler In Wirklichkeit war der Autor des Romans eben jener Alexander Bartschenko, nach dem Schischkin gesucht hatte. Swjatosar dagegen war sein Sohn, der den Roman herausgegeben und mit einem Vorwort versehen hatte. Aber das wusste Schischkin noch nicht. O-Ton Russisch (Voice Over) Swjatosar Bartschenko lebte weit von Moskau in Istri, noch ein Stück hinter Nowij Jerusalem. Das war sehr weit. Man musste sich zehnmal überlegen, bevor man dorthin fuhr. Ich hatte kein Auto und habe lange und lange überlegt und schließlich fuhr ich dorthin. Ich dachte, dass ich dort nichts Besonderes finden würde. Aber alles kam ganz anders. Diese Fahrt stellte meine Vorstellung von dem auf den Kopf, mit was ich zu tun hatte. Da waren Briefe von Bartschenko, Materialien aus seiner Kriminalakte. Erzähler Auch Alexander Bartschenko hatte man 1937 verhaftet, lange verhört und dann hingerichtet. O-Ton Russisch (Voice Over) Da war Alexander Bartschenko, wie er parapsychologische Forschungen betrieb, noch vor der Revolution, und diese Arbeiten wurden übrigens auch veröffentlicht. Und Unterlagen von Swjatosar Bartschenko. Es war folgendes passiert: Fast alle hatte man festgenommen, aber einem war es gelungen, zu entkommen. Sie konnten ihn nicht finden und er überlebte bis ins Jahr 1975. In der Stadt Borowitschi bei Nowgorod und er beschrieb in einem Brief wie sie sich auf eine Expedition in die Mongolei vorbereitet hatten. Musikalischer Akzent Erzähler Wie Gleb Boki, so war auch der gleichaltrige Alexander Bartschenko ein typisches Kind seiner Zeit. Nur war es nicht die Revolution, die den Studenten der Medizin in seiner Jugend umtrieb, sondern die andere Lieblingsbeschäftigung jener bewegten Jahre vor dem ersten Weltkrieg, die als silbernes Zeitalter der russischen Kultur in die Geschichte eingegangen ist. Das Übersinnliche und der Okkultismus in allen seinen Schattierungen. Ein französischer Besucher der russischen Hauptstadt notierte 1907 in sein Tagebuch: Zitator Überall gibt es Publikationen über Hypnotismus und ähnliche mystische Fragen. In den Fenstern der Buchländen und den Aushängen der Zeitungskioske, überall springen einem diese Bücher über Spiritismus, Handleserei, Okkultismus und Mystizismus in allen Varianten entgegen. Selbst unschuldige Bücher werden mit Buchdeckeln verkauft, die mit das Auge beleidigenden mystischen Emblemen und Symbolen dekoriert sind. Erzähler Selbst die berühmtesten Wissenschaftler des Landes blieben von dieser Zeitströmung nicht unberührt. Mendeleew, der Begründer des chemischen Periodensystems bekannte sich im Jahr 1900 öffentlich zum Spiritismus und der weltberühmte Neurologe Bechterew unternahm zahlreiche Versuche zur Gedankenübertragung. Sogar Maxim Gorki, der spätere Begründer des sozialistischen Realismus, ließ sich anstecken. In mehreren seiner Erzählungen und Romane gab er der Überzeugung Ausdruck, Gedanken könnten materielle Wirkung haben. Erzählerin Das alles vermengte sich mit Fantasien, die mit Tibet zu tun hatten. Jenem riesigen, noch kaum erforschten und für Ausländer nicht zugänglichen, geheimnisvollen Hochplateau und seinem nicht weniger geheimnisvollen Dalai Lama. Okkultisten und Sucher des Übersinnlichen aller Couleur waren überzeugt, hier den Gegenentwurf zur materialistischen Kultur des Westens zu finden. Die stärker wissenschaftlich Orientierten wiederum glaubten, in Tibet habe man Telepathie und Telekinese zur Vollendung gebracht. Musikalischer Akzent Erzählerin Sein Medizinstudium sollte Alexander Bartschenko nie vollenden. Stattdessen beschäftigte er sich mit Experimenten zur Gedankenübertragung, die er in populären Zeitschriften veröffentlichte. Außerdem trat er noch vor dem ersten Weltkrieg als Autor eines Romans hervor, in denen es um Übersinnliches und eine geheime Bruderschaft in Tibet ging. Eben jenen Roman ?Doktor Tschorni?, den sein Sohn 80 Jahre später neu herausgeben sollte. Die Inspiration dazu hatte der in St. Petersburg lebende Schriftsteller sozusagen direkt vor der Tür. Erzähler 1911 wurde im Herzen der russischen Hauptstadt für die buddhistischen Minderheiten des russischen Reichs ein großer tibetischer Tempel errichtet. Zu ihm gehörten hohe Lamas und sogar ein Vertreter des Dalai Lama am Hof Nikolais II. Hier hörte Alexander Bartschenko zum ersten Mal von Schambala. Erzählerin Schambala, das ist im tibetischen Buddhismus ein innerer Zustand, den man durch Meditation erreicht. Aber auch ein Königreich, das in den heiligen Texten in allen Einzelheiten beschrieben wird. Bis hin zu den Regierungszeiten seiner Herrscher und den Gebäuden der Hauptstadt. Erzähler Eben die Konkretheit Schambalas, die Genauigkeit der Beschreibung dieses Königreichs sollte Bartschenko später dazu verführen, hier einen Überrest seiner Wissenschaft der Vorzeit zu vermuten. In einigen der Lamas wiederum, denen er vor, aber auch noch nach der Revolution begegnete, glaubte er Abgesandte Schambalas zu erkennen. Erzählerin Den ersten Weltkrieg verbrachte Bartschenko an der Front und kehrte mit Ausbruch der Revolution nach St. Petersburg zurück. Jetzt hielt er Vorträge über die Gesellschaft des Urkommunismus, die in der Sintflut untergegangen sei. Ihr letzter Rückzugsort läge im Himalaya und trage den Namen Schambala. Erzähler Großen Anklang fand Bartschenko ausgerechnet unter den Matrosen der Ostseeflotte. Also den radikalsten Anhängern der Bolschewiki. Mitte 1920 wurde aus diesen Kreisen der Antrag an das Volkskommissariat für Äußeres gestellt, eine Expedition roter Matrosen nach Schambala zu schicken. Unter der Leitung von Alexander Bartschenko. Aber der Antrag wurde abgelehnt und Bartschenko wandte sich erst einmal anderen Dingen zu. Musikalischer Akzent O-Ton Russisch (Voice Over) Er war der Kopf des Ganzen und überhaupt ein Mensch, der es liebte Anweisungen zu geben und zu führen. Erzähler St. Petersburg. September 2012. Wir sind im siebten Stock eines Plattenbaus. Olga Kondiain erzählt, was sie als junge Frau über Alexander Bartschenko gehört hat. Sie ist eine kleine, lebhafte und geistig noch sehr rege, fast neunzigjährige Dame. Ihr längst verstorbener Ehemann war der Sohn des engsten Mitarbeiters von Alexander Bartschenko. O-Ton Russisch (Voice Over) Sie wohnten an der Bolschaja Posadskaya, und Bartschenko lebte bei ihnen. Mein Oleg, der damals ein Junge war, konnte sich noch an einiges erinnern. Sein Vater war Astrophysiker. Er machte alle Berechnungen und alles, was mit der Wissenschaft zu tun hatte. Diese Übertragung von Gedanken über die Distanz, die ersten Experimente wurden alle in dieser Wohnung vorgenommen. Mir erzählten die Verwandten, man habe alles mit schwarzem Papier zugeklebt. Ich sehe das alles ziemlich skeptisch. Aber dass Gedanken materielle Wirkung haben können, dazu wurden wirklich sehr interessante Versuche angestellt. So sollte sich jemand zum Beispiel Röntgenaufnahmen vorstellen. Ein Dreieck, ein Quadrat oder einen Kreis. Als man sie entwickelte, fand man entsprechende Abdrücke. Das waren die ersten Versuche zur Gedankenübertragung. Erzähler Experimente, die Bartschenko bis an sein Lebensende fortsetzen sollte. Aber nicht mehr in St. Petersburg. Denn Ende 1924 begegnete er Gleb Boki. Musikalischer Akzent Erzähler 17. Mai 1937. Aus dem Verhörprotokoll von Gleb Boki. Zitator Als ich Bartschenko kennenlernte, beschäftigte ich mich gerade mit der Frage nach dem absolut Guten und dem absolut Bösen. So interessierte ich mich für seine Erzählung von der Existenz einer vollkommenen Synthese aller Wissenschaften. Kurz darauf, 1925, versuchte ich für ihn eine Expedition zu organisieren, um mit den Bewahrern der Wissenschaft der Vorzeit in Kontakt zu treten. Musikalischer Akzent Erzählerin Alexander Bartschenko muss eine ungemein charismatische Persönlichkeit gewesen sein. Anders ist kaum zu erklären, wie es ihm gelang, einen Mann wie Gleb Boki von sich und seinen Theorien zu überzeugen. Erzähler Dass dies sehr schnell vorgegangen sein muss, erfährt man aus den Erinnerungen der Jamschtschikowa. Jener Schriftstellerin und alten Genossin, die Boki seit den ersten Tagen im revolutionären Untergrund kannte. Plötzlich habe ihr alter Freund seltsame Dinge geredet und sich für Okkultismus interessiert. Als sie ihn fragte, woher denn dieses Interesse komme, antwortete er: Zitator Von Bartschenko. Das ist ein hervorragender Kopf und talentierter Mensch, ein Philosoph und Wissenschaftler, der bei uns einen Kreis organisiert hat. Wir beschäftigen uns dort mit vielen wissenschaftlichen Entdeckungen und bedauern, dass wir diesen bemerkenswerten Menschen nicht früher kennengelernt haben. Erzählerin Eine Fakultät für Psychotechnik habe Stalin den Vorschlag gemacht, einen Apparat zu bauen, um Gedanken zu lesen, erzählte Boki der Schriftstellerin Zitator Stell dir vor, wie wichtig das für uns wäre. Wir könnten bei den Verhören viele Fehler vermeiden. Aber im Sekretariat Stalins legte man die ganze Sache ins Archiv ab. Als wir einmal in irgendeiner Angelegenheit im Sekretariat Stalins etwas suchten, stießen wir auf dieses bemerkenswerte Projekt. Wir nahmen es mit, um es zu überprüfen. Erzählerin Der Wissenschaft der Vorzeit soll für Boki dabei eine besondere Rolle zukommen: Zitator Dies alles hilft dabei, die Ideen des Kommunismus auf der ganzen Erde zu verbreiten. Dies ist wichtig, für unsere zukünftigen Eroberungen. Vom Osten her werden wir die Bekehrung der ganzen Welt zum Kommunismus einleiten. Denn dort liegt es, das uralte Schambala, dass wir wiedererwecken werden. Musikalischer Akzent Erzähler Doch so mächtig und praktisch unkontrolliert Gleb Boki auch innerhalb der Sowjetunion sein mochte, ohne Einwilligung des Außenministers konnte auch er keine Expedition nach Tibet ausrüsten. Erzählerin Es war der 31. Juli 1925 als Alexander Bartschenko, begleitet von zwei Geheimpolizisten von Außenminister Tschitscherin persönlich empfangen wurde. Bartschenko legte dem Minister seine Theorie von der vorzeitlichen Wissenschaft, dem Urkommunismus und Schambala dar. Dann verwies er auf die Unterstützung von Boki und der Sonderabteilung und bat um die Genehmigung, im höchsten Interesse des Kommunismus mit der Bruderschaft im Himalaya in Kontakt zu treten. Erzähler Der verblüffte Minister sagte erst einmal nicht nein. Doch nachdem er sich rückversichert und herausgefunden hatte, dass nicht die gesamte mächtige Geheimpolizei, sondern nur die Sonderabteilung hinter Bartschenko stand, wagte er ein höhnisches Schreiben an das Politbüro. Zitator Leider kann von einer Expedition keine Rede sein. Nicht nur wird man unsere Tschekisten nicht zu irgendwelchen Bruderschaften zulassen, sondern allein ihre Anwesenheit kann zu großen Unannehmlichkeiten führen, da die englische Presse die Expedition garantiert in ganz anderem Licht darstellen wird. Erzähler Ein Hintertürchen ließ sich der Minister: Sollte Bartschenko überprüft und für zuverlässig befunden werden, sollte er sich verpflichten, nie ein Wort über Politik zu sagen, und sollte ein Kontrolleur mitkommen, dann käme es vielleicht in Betracht, die Expedition der Sonderabteilung zu erlauben. Erzählerin Doch diese Bedingungen akzeptierte Bartschenko nicht und alle Vorbereitungen für die Expedition wurden abgebrochen. Womit der zweite Versuch Bartschenkos gescheitert war, mit Hilfe der Sowjets nach Tibet zu kommen. Musikalischer Akzent Erzähler Ob es der letzte Versuch Bartschenkos und Bokis gewesen ist, nach Tibet zu kommen, ist unbekannt geblieben. Wie auch vieles mehr, denn ab 1929 werden die Quellen immer dünner. Die Geheimhaltung, die die Sonderabteilung umgab, ist bis heute nicht aufgehoben worden. Man weiß von verschiedenen Expeditionen in asiatische Regionen der Sowjetunion, wo Bartschenko mit Schamanen und Angehörigen mystischer Sekten Kontakt aufnahm. Auch ist bekannt, dass Bartschenko mit muslimischen Sufis, sowie dem berühmten chassidischen Rabbi Schneerson zusammentraf. Vor allem, weil er bei ihnen Überreste jenes Wissens vermutete, das sich in reinster Form in Schambala erhalten hatte. Man weiß auch, dass sich um Boki und Bartschenko ein Kreis bildete, dem sich mehrere hochrangige Funktionäre anschlossen. Eben die Geheimgesellschaft ?Einige Werkende Bruderschaft?, von denen in den Verhörprotokollen die Rede ist. Doch das größte Rätsel ist bis heute ungelöst. Erzählerin Das betrifft auch ein Geheimlabor der Sonderabteilung, das 1929 gegründet und von Alexander Bartschenko geleitet wurde. Bestand hatte es bis 1937, als alle Beteiligten verhaftet wurden. Der beste Kenner der Materie ist der Petersburger Historiker Alexander Andreew, der die Geschichte Bartschenkos und Bokis seit Jahren erforscht. O-Ton Russisch (Voice Over) Wir wissen leider sehr wenig. Und besonders wenig wissen wir über seine wissenschaftlichen Forschungen. Die Versuche, die er anstellte. Er arbeitete mit diesen Sensitiven, mit Schamanen und so weiter. Leute mit übernatürlichen Fähigkeiten. Ich fürchte, wir werden das nie herausfinden. Selbst wenn sich solche Informationen erhalten haben sollten, so sind sie geheim. Erzähler Es ist gut möglich, dass die Forschungen Bartschenkos später fortgesetzt wurden. Das zumindest glaubt Oleg Schischkin - jener Mann, der sich als erster mit den Verhörprotokollen beschäftigte. Das schließt er aus den Erzählungen des Sohns von Alexander Bartschenko. O-Ton Russisch (Voice Over) Swjatosar versuchte die wissenschaftlichen Arbeiten des Vaters zu bekommen. Viele Kinder haben das in den fünfziger Jahren geschafft. Doch man gab sie ihm nicht. Er versuchte es dann über den ehemaligen Leiter der Hauptverwaltung Wissenschaft. Bartschenko hatte dort gearbeitet, als er mit seinen übersinnlichen Experimenten begann. Dem ehemaligen Verwaltungsleiter nun wurde gesagt, dass der Sohn diese Materialien nie erblicken wird, weil sie noch aktuell sind. Erzähler Es ist bekannt, dass es in den siebziger und achtziger Jahren in der Sowjetunion umfangreiche Forschungen zu übersinnlichen Phänomenen gegeben hat. Möglich, dass sie auch auf den Arbeiten Bartschenkos beruhten. Musikalischer Akzent Erzählerin Es gibt ein weiteres Rätsel, das, bis heute ungelöst ist. Es betrifft Gleb Boki. Wie ist es zu erklären, dass sich dieser strikte Marxist und Materialist ausgerechnet auf einen Mann wie Alexander Bartschenko einließ. Der Historiker Alexander Andreew: O-Ton Russisch (Voice Over) Das ist eine sehr schwere Frage. An was glaubte Boki? Letztlich kennen wir ihn sehr wenig. Er war ein Mann mit einem Doppelgesicht. Auf der einen Seite war er ein Intellektueller, ein Mann mit Feingefühl. Auf der anderen Seite war er Mitglied der Tscheka, war am roten Terror und den Erschießungen beteiligt. Das ist ein und derselbe Boki. Doch seine zweite, helle Seite, die kann ich mir nur schlecht vorstellen. Ob er an Schambala glaubte, wovon Bartschenko ihm erzählt hatte? Es kann sein, dass er zum Teil daran glaubte.? Andernfalls wäre er nicht als Förderer von dessen Expedition nach Tibet in Erscheinung getreten. Am wahrscheinlichsten jedoch ist, dass Boki kein Mystiker war. Aber er glaubte, dass es möglich sei, dass es, wie Bartschenko ihm erzählt hatte, irgendwelche abgeschlossene Gemeinschaften von Yogis oder irgendwelchen Eingeweihten gab, die über Kenntnisse verfügten, die der sowjetischen Regierung nützen konnten. Erzählerin Oder war es ganz anders? War der Idealist, der seine Jugend und seine Gesundheit der Revolution geopfert hatte, vielleicht schon früh am neuen Staat verzweifelt? Und nicht zynisch genug, sich einfach damit abzufinden? Erzähler Dies ist zumindest die Deutung, die das Verhörprotokoll nahelegt. Hier gibt Boki an, schon 1921 tiefe Zweifel bekommen zu haben. Als nämlich die roten Matrosen, die treuesten Anhänger der Partei, gegen die Diktatur Lenins rebellierten und man nicht etwa verhandelte, sondern den Aufstand gnadenlos niederschlug. Erzählerin Hatte Boki von da an in der Geheimpolizei weitergemacht, weil er nicht mehr zurückkonnte? Besonders, nachdem er mit der Sonderabteilung einen Ort gefunden hatte, wo er schalten und walten konnte, wie er wollte? Und in Bartschenko einen Propheten entdeckt, der ihm einen neuen Weg zum Ideal seiner Jugend wies? Erzähler Die Antwort hat Gleb Boki mit ins Grab genommen. Wenn es denn überhaupt eine klare und eindeutige gibt. 7