COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. 10 Jahre "Lange Tafel" in Berlin Ein Tisch, eine Speise und viele Gespräche Autor Peter Podjavorsek Red. CS Rehfeld Sdg. 09.07.15 - 13.30 Uhr Länge 9'44" Spr. Markus Hoffmann MOD 10 Jahre "Lange Tafel" in Berlin. Ein Tisch, eine Speise und viele Gespräche. Am Mikrofon begrüßt Sie Claus-Stephan Rehfeld. E 01 "Ich bin Mika. Ich bin 15 Jahre alt. Mein Vater kommt aus Kolumbien. Meine Mutter aus der Türkei, meine Oma ist halb Afrikanerin, halb Kolumbianerin. Mein Opa ist halb Mongole, halb Türke." (17") MOD Amerika, Afrika, Asien und Europa in einer Person. Unterschiedliche Nationen in einer Person und hier nun an einem Tisch. An der "Langen Tafel" in Berlin. Seit 10 Jahren wird sie in der Hauptstadt aufgestellt, nimmt man an ihr Platz. Die Initiatorin ist deutsch-griechischer Abstammung, wuchs in West-Berlin, im Taunus und als Staatenlose in Leipzig auf. Und sie stellte vor 10 Jahren einen 100 Meter langen Tisch auf, an dem Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft Platz nehmen können. Um ins Gespräch zu kommen. Es gibt viel zu erzählen. Auf der Straße geht man aneinander vorbei, an der Tafel kommt man ins Gespräch. Peter Podjavorsek gesellte sich dazu. LR-l 10 Jahre "Lange Tafel" in Berlin / Podjavorsek - 9'44" "Ich bin Mika. Ich bin 15 Jahre alt. Mein Vater kommt aus Kolumbien. Meine Mutter aus der Türkei, meine Oma ist halb Afrikanerin, halb Kolumbianerin. Mein Opa ist halb Türke, halb Mongole." "Ich bin Kasimir. Ich komme aus Bulgarien. Dann ich hab nach Spanien gefliehen. Ich habe dort 5 Jahre gelebt, mit meinen Eltern. Ich wohne seit 4, 5 Jahren in Berlin" Die Freiligrathschule im Berliner Bezirk Kreuzberg. Knapp zwanzig Schüler einer 9. Klasse, viele von ihnen mit Migrationshintergrund, sitzen um einen langen Tisch. Sie nehmen an einem Workshop teil, geleitet von der Theaterregisseurin und Schauspielerin Isabella Mamatis. Das Thema des Kurses: Die Heimat des Homo Migrantes. Seit Urzeiten ist der Mensch auf der Suche nach besseren Lebensumständen. Doch was bedeutet das für diejenigen, die an einem fremden Ort ankommen? Wie geht es ihren Kindern? Was ist deren Heimat, haben sie vielleicht sogar mehrere? "Siehst Du deine Heimat hier in Berlin, oder ist deine Heimat da, wo du immer hinfährst mit deinen Eltern?" "In der Türkei." "Kannst Du sagen, warum? Hat das was mit der Vegetation zu tun, oder ist es einfach ein Gefühl?" "Keine Ahnung. Ich fühl mich in der Türkei wohler als hier in Deutschland. Mein Opa, Oma sind alle in der Türkei." "Spanien ist besser." "Ist besser? Weißt du warum?" "Weil die Menschen sind da ganz nett und... sympathischer." Vielen Schülern in der Runde fällt es schwer, mehr als vier oder fünf Sätze zu sagen. Manche sind es nicht gewöhnt, über persönliche Dinge zu reden. Andere scheinen sich mit dem Thema bislang nicht näher beschäftigt zu haben. Einer der Schüler weiß zum Beispiel nicht, wann seine Eltern nach Deutschland gekommen sind. "Und: Go!". Gemurmel. Isabella Mamatis lässt die Schüler ‚Die Reise nach Jerusalem' spielen. Ein Kinderspiel. Nicht jeder kann sich dafür begeistern kann. Einige lassen sich sofort aus der Runde werfen und setzen sich an die Seite. "Ich möchte mit euch das Spiel auswerten. Du warst zuallererst draußen. Was hast Du beobachtet?" "Die haben sich umgedreht und alle versucht, auf einem Stuhl zu sitzen." "Nun, alle nicht." "Nein, weil die keinen Bock hatten." "Genau, weil die keinen Bock hatten. Jetzt stellt euch vor. Das Spiel ist eigentlich eine Metapher dafür, dass Menschen aus ihrem Land z.B. hinausgeworfen werden oder hinausgehen. Und es gibt welche, die dann keine Lust haben. Dann gab es andere. Was haben die gemacht?" "Die haben um den Platz gerungen." "Und dann gibt es Menschen, die gehen in den Kampf rein. Die wollen es wissen. Auch im Leben. Und die nutzen jede kleine Chance im Leben dazu, um zu gewinnen." Nach anfänglicher Skepsis und einigen Störfeuern entwickeln die Schüler zunehmend Interesse am Geschehen. Eine Woche lang werden sie sich mit dem Thema beschäftigen: in Rollenspielen und Gesprächen, in Wanderungen durch ihr Stadtviertel und durch Straßeninterviews mit Passanten. Hier wollen sie biografisches Wissen von Zeitzeugen versammeln und dieses niederschreiben. Am Ende der Woche steht schließlich ein öffentliches Event: die ‚Lange Tafel'. Isabella Mamatis und die Schüler laden dazu die Öffentlichkeit zu einem großen, gemeinsamen Spaghetti-Essen ein. "Die Idee dazu kam, dass mir im öffentlichen Raum die Kommunikation zu wenig ist. Menschen unterhalten sich zu wenig miteinander. Früher war's bei uns so, speziell hier im Kiez, im Bergmannkiez, da gab's die alten Leute, die Hausbesetzerszene, Lehrer, Studenten. Es war sehr gemischt vom sozialen Aspekt her. Und wir haben trotzdem miteinander geredet. Wir haben uns an den Bänken getroffen, den Plätzen, bei den Kindern, wo die Spielplätze waren. Und heute ist es so, die Spielplätze sind gar nicht mehr so stark besucht, weil die Eltern ihre Kinder in die Kitas geben. Die Eltern gehen arbeiten, außerhalb. Und die ältere Bevölkerung ist komplett aus dem Straßenbild draußen." In der Heimat ihres verstorbenen Vaters, auf einer griechischen Insel, hatte Isabella Mamatis erlebt, wie sich die Bewohner einmal im Jahr auf dem zentralen Platz, der Agora, trafen. Sie stellten eine lange Reihe von Tischen auf, kochten und aßen zusammen und unterhielten sich. Jung und alt, arm und reich, Einheimische und Besucher. Mamatis "Wir hatten ein kleines Hotel an der Agora gemietet. Und wurden dort eingeladen, dran Platz zu nehmen, mit denen zu essen. Es kamen dann griechische ehemalige Gastarbeiter, die mit uns deutsch sprachen. Und wir waren in Nullkommanichts ein Teil dieser Gemeinschaft." Isabella Mamatis beschloss, diese Idee an ihren Wohnort Kreuzberg zu bringen. Schnell fanden sich drei Schulen, die Interesse hatten mitzuwirken. Fördergelder sicherten die Finanzierung. Vor zehn Jahren startete dann die erste ‚Lange Tafel' in der Bergmannstraße, unter dem Motto: "Alltagskultur der letzten 100 Jahre zwischen 2 Weltkriegen". Trompete. Inzwischen gibt es die ‚Lange Tafel' an 14 Orten in Berlin, jeweils drei Schulen kooperieren damit. Darüber hinaus existieren ‚Lange Tafeln' in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen sowie dieses Jahr erstmals in Hamburg. Nächstes Jahr geht es zudem nach Los Angeles in den USA. Stimmengewirr. Im Berliner Bezirk Neukölln. Die Schüler der Freiligrathschule bauen mit mehreren Helfern Tische und Bänke auf. Unter Anleitung eines Kochs werden in riesigen Töpfen Spaghetti und Tomatensoße gekocht. Mehrere Künstler, die Isabella Mamatis eingeladen hat, sorgen für Stimmung. Gesang Immer mehr Besucher finden sich ein. Verwandte und Freunde der Schüler. Menschen, die die ‚Lange Tafel' schon aus den Vorjahren kennen. Passanten, die zufällig des Weges kommen. Das Essen gibt es umsonst. Die Gäste sollen aber ihr eigenes Geschirr und Besteck dabei haben. Neben den Tischen hängen an einer langen Schnur Impressionen des Workshops und die Geschichten der bei den Straßeninterviews befragten Passanten. Die Schüler versuchen, mit den Besuchern ins Gespräch zu kommen. Manchen fällt das etwas schwer. Die 15-jährige Vanessa blüht dagegen regelrecht auf. "Glauben Sie, Sie verstehen den Sinn der Langen Tafel. Worum es da so geht?" "Miteinander sich treffen, hätte ich gedacht. Sich kennenlernen, austauschen." "Genau, seine Geschichten zu teilen. Zum Beispiel auch neue Freunde zu finden, oder so." "Wir haben nur Leute getroffen, die wir noch nicht kannten und haben uns gleich mit denen unterhalten. Das war schön." "Das ist auch Sinn des Projekts." "Ist schön." Nicht alle Schüler haben sich von der Idee der ‚Langen Tafel' mitreißen lassen. Manche schwänzen die Veranstaltung, andere stehlen sich nach kurzer Zeit unauffällig davon. Die, die bleiben, finden das Projekt aber prima. "Im Großen und Ganzen habe ich viel mehr gelernt, als ich dachte. Ich habe gelernt, dass man nicht mit Vorurteilen so rumschmeißen sollte. Weil man hat sonst immer Vorurteile: Ach, der Junge, der neben mir sitzt, ist bestimmt voll doof! Und das habe ich gelernt, mit anderen Leuten auch so zu reden. Ich versteh mich auch mit jemand, mit dem ich vorher gar nicht klarkam. Wir haben uns jetzt ein bißchen angefreundet. Und dann hatten wir auch so Touren, wo wir mit Leuten geredet haben. Und da habe ich mich endlich getraut, mit Leuten von der Straße zu reden. Das hat mir Selbstbewusstsein verschafft." Tobi "Der Kurs war eigentlich gut. Man weiß jetzt halt, wo andere sich zuhause fühlen. Und dass es für mich relativ überraschend war, dass die meisten sich in ihrem Ursprungsland heimatlich fühlen und nicht in Berlin, wo sie geboren wurden. Das hat mich überrascht." Isabella Mamatis, die Schauspiel an der Berliner Universität der Künste studiert hat, versteht die ‚Lange Tafel' nicht nur als soziale Aktion, sondern auch als künstlerisches Projekt, als Theateraufführung im öffentlichen Raum. Die Besucher werden, ohne es zu merken, zu einem Teil der Inszenierung. Die Regisseurin gibt den Rahmen vor: das Essen, die auftretenden Künstler, das Thema. Der Rest entwickelt sich von selbst. Als Kommunikation zwischen Jung und Alt, zwischen Kiezbewohnern und Fremden. Für einige Stunden gehört die Straße nicht dem Verkehr, sondern den Menschen. Mamatis "Was mich immer zutiefst rührt, wenn also Hausbesitzer neben Hausbesetzer, Straßenmusiker und der Verkäufer, und Händler, die Eltern der Kinder - wenn die alle zusammen, aus einem Kiez, an einem Tisch sitzen und gemeinsam Spaghetti essen. Ich sage immer: Für 3 Stunden sind wir gleich reich. Und so isses auch. Da kommen Menschen miteinander ins Gespräch, die würden sich, auch hinterher, nicht noch mal weiter verabreden. Diese Tafel ist sozusagen eine Kommunikationszeile, die die Herzen in Bewegung bringt. Und das ist das, was mich immer wieder überrascht."