Deutschlandrundfahrt Im Tal liegt noch Schnee von Gestern Steinach in Thüringen Von Hans-Otto Reintsch Sendung: 26. April 2015, 11.05h Ton: Bernd Friebel Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2015 Atmo: Flugzeuge, drunter Autor Der Krieg ist 70 Jahre vorbei. Aber noch immer ist da kaum eine Stadt, die nicht davon erzählen könnte. Steinach in Thüringen zum Beispiel. Ein kleiner, verschwiegener Ort zwischen den Bergen. Hier, tief im Schiefergebirge vergraben, liegt eine Geschichte, die noch nicht erzählt wurde. Eine Kriegsgeschichte. Sie erzählt von einem Vater, der Nazigröße Horst Dressler, und seiner Familie. Horst Dresslers Geschichte spielt auf der Straße, im Theater, im Propagandaministerium, auf Rügen, im besetzten Krakau, in Steinach, in Buchenwald und in der DDR. Dresslers Tochter ist heute 87 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben über ihren Vater geschwiegen. Jetzt spricht sie zum ersten Mal öffentlich über sein widersprüchliches Leben. Und sucht nach Erklärungen. Denn ... Zitator: "Der heutige Tag ist ein Resultat des Gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will." Heinrich Heine. Kennmusik Sprecherin v. Dienst: Im Tal liegt noch Schnee von gestern Steinach in Thüringen Eine etwas andere Deutschlandrundfahrt von Hans-Otto Reintsch Kennmusik Atmo: Auto innen Autor: Der Druckausgleich im Ohr klingt wie ein Schuss. Von Lauscha geht es nach Steinach nur noch bergab. 10 Prozent Gefälle. Schaltung im Leerlauf, einfach rollen, nur fliegen ist schöner, kein Gegenverkehr, -einhundertdreißig Meter tiefer. Peng. Auf dem Rennsteig, schien noch die Sonne, da war Weitblick. Hier ist es schattig, hier liegt noch Schnee am Rand. Wie eine Erinnerung. Steinach füllt das langgezogene Tal aus wie einen zu eng gewordenen Anzug. Tapfer dehnt sich der Ort in zwei aufsteigende Hänge. Da hinten ist schon wieder Schluss mit Ort. Musik: Sonny Thet, CD cello meets cello, Track: Pentus, ab 0:41, kurz frei, drunter Autor: Steinach in Thüringen, das ist zuerst eine Farbe. Die Farbe der Fassaden. Geschachtelte Häuser. Höher als breit. Grauschwarz behängt mit Schieferplatten. Kleine, biedermeierliche Kunstwerke. Tradition in ewigem Grau. Oder Anthrazit? Eine Farbe, die nie vergeht, ein Grau, das bleibt. Tonschiefer. Von Weitem edel wie Badfliesen aus dem Katalog. Aus der Nähe liegen Schieferhäuser da wie ebenmäßig geschuppte Reptilien. Echsen, die bei Sonne bläulich schimmern. Alt, schön, reglos, stur. Geschwungene Wege drängen sich dazwischen. Hören auf, wo es zu steil wird. Dann Wald. Fichten. Wer seine elektrische Eisenbahn mit entrückten Gebirgsidyllen bebaut, baut genau so. Musik: Sonny Thet, wie oben, ab 0:00, kurz frei, drunter Autor: Bin ich weit in der Welt habe ich Verlangen, Thüringer Wald nur nach dir! Das Rennsteiglied, in Thüringen weltberühmt, hier könnte es seinen Ursprung haben. Steinach. Tiefer Frieden. Überall. Am Bahnhof, am Schloss, bei der Kirche am Hang. Steinach wurde vom Krieg verschont. Keine zerfetzte Stadtsilhouette, keine Bombenlücken, heile, gewachsene Struktur einer jahrhundertealten Bergarbeiterstadt. Ohne Allüren, ohne Prunk. Mit einer Leerstelle im Herzen. Steinach rühmt sich, den größten Markplatz Thüringens zu haben. Ein riesiger gepflasterter Parkplatz. 400 Meter im Quadrat. Das weiße, langgestreckte Rathaus, dann ein öffentliches Toilettenhaus, modern sanierte Wohngebäude ringsum. Geschäfte, Restaurants oder irgendeinen Grund, zu bleiben, sucht man vergeblich am Markt. Und da nur wenige Autos parken, hat das Zentrum der Stadt in diesem Moment den Charme einer Landebahn für Kleinflugzeuge. Auch geeignet für Massenaufmärsche. Atmo: Markt: ab ~1:00 Markt mit ferner Blasmusik, drunter ... Autor: Aber das ist ungerecht. Steinach ist Wanderland. Steinach ist auf Urlaubermassen aus. Steinach ist vom Wetter abhängig. Vor vielen Häusern stehen noch Schilder: Vorsicht vor Dachlawinen und herabstürzenden Eiszapfen. Die Gefahr ist längst vorbei aber der Sommer noch nicht da. Und die Wege Matsch. Keiner kann wandern, keiner Ski fahren. In solchen Zeiten stehen Touristenorte geduldig in der Landschaft und schweigen. Obwohl. Am anderen Ende der Fläche marschieren drei Blasmusiker vorbei. Ohne Grund. Ohne Publikum. Einfach so. Als wollten die Steinacher sagen, da sind wir doch. Aber uns hört ja keiner. 1. O-Ton: Volker Sesselmann 25.7 Mein Großvater damals zu DDR-Zeiten der hat hier aus dem Ort seine Aufträge bekommen. Sonneberg, Steinach. Der hat ein Fahrrad gehabt, der hat gar kein Auto gehabt und konnte leben. Aber ich muss natürlich rum fahren. Das ist halt nicht mehr so wie früher ... von Usedom bis Baden-Württemberg bin ich halt unterwegs ... Autor: Volker Sesselmann ist Holzbildhauer und ein Mann von hier. In Steinach geboren, hier sprechen gelernt, hier aufgewachsen, um die 50. - Bart, heiter, geerdet. Er ist viel unterwegs, um hier zu leben. Zum richtigen Arbeiten ist es noch zu kalt, für seine großen Skulpturen müsste er raus. Der Ofen bullert. Musik: kurzer Effekt, Sonny Thet wie oben, ab 1:24 (2 sec.) Autor: Früher. Wenn Steinacher reden, sind sie schnell beim Früher. Früher war die Arbeit hier im Ort. So klingt es, wenn die Väter reden. Das alte Lied. Der Sohn muss der Holzarbeit hinterher. Heute. Weil der Berg nicht zum Propheten kommt. Aber die Musik, die Musik spielt zu Hause. Im Berg. 2. O-Ton: Volker Sesselmann 21.25 Vor 26 Jahren haben wir hier angefangen, einfach so ein bisschen Freejazz zu machen. Und das hat aber hier überhaupt keinen interessiert. Und da haben wir oben im Steinbruch eigentlich geübt. Damit wir keinem auf den Senkel gehen. Autor: Sein Hobby, seine Dixilandband "Bruch-Blech-Bräzel-Bier-Bichlers", gehört heute hier zu den Touristenattraktionen. Ein Bandname wie eine Dachlawine. Die Steinbrüche waren der Ort, wo sich ihr Freejazz zum Dixiland wandelte. Der musikalische Durchbruch. Früher wurde hier Tonschiefer gebrochen. Zu einem einzigen Zweck: Griffel. Schiefertafeln, diese kleinen, holzumrahmten Platten, die Schulhefte von früher, wurden mit Griffeln beschrieben. Immer aufs Neue. Auf der ganzen Welt. Steinach hat Generationen lang Griffel produziert. Graue Tonschieferstifte. Milliarden. Die Arbeitergesichter auf alten Schwarz-Weißfotos zeigen: Ein Knochenjob. Nach dem Krieg war damit Schluss. Aber Steinach hat Anteil an der Schulbildung der Menschheit. Steinach ist Teil des Fortschritts in der Welt. Musik: wie oben, ab 1:31 (5 Sec.) 3. O-Ton: Volker Sesselmann 17.17 ... Steinach war ja ziemlich arm hier dran. 32.30 ... in diese Kerbtäler Industrie ran zu holen, das ist schwierig. Wenn ich das mit Arnstadt vergleiche, da hat man zwei Autobahnen, da kann die Industrie auf dem Feld bauen. Hier hast Du halt überall Berge ... wer BAUT in so einem Kerbtal, nä? Autor: Steinach zwischen den Hängen. Und im Rücken die Wand des Thüringer Waldes. Jahrhunderte lang gingen deshalb die Handelswege ins Offene, nach Coburg, oder Bamberg. 4. O-Ton: Volker Sesselmann 17.40 Unsere Handelsbeziehungen die sind schon immer nach unten, also ins Fränkische gegangen. Also nicht über den Rennsteig, nicht über den Berg ... 17.17 Und das ging natürlich bis die Grenze wirklich zu war. 17.40 Und das war schon ein gravierender Einschnitt hier. Autor: Steinacher fühlen sich traditionell als Franken. Aber die Geschichte hat auf die Gefühle keine Rücksicht genommen. Die Geschichte hat Steinach einen Strich durch die Tradition gemacht. So endgültig wie die innerdeutsche Grenze. Plötzlich lag Steinach nicht mehr mitten im Land. Plötzlich lag Steinach im DDR-Grenzgebiet. Ein paar Kilometer hinterm Ort war die Welt zu Ende. Obwohl man sie vom Berg weithin sehen konnte. Nach dem Krieg wurde Steinach zu einer Art Zwischenreich. Zwischen zwei Bergen, zwischen zwei Systemen, zwischen den Gefühlen. Mit dem Kopf im Westen und mit dem Leib im Osten. Wann das war? Früher. 5. O-Ton: Volker Sesselmann Zwei Kilometer übern Berg ging ja das Sperrgebiet los. Hasenbach, Hasental ... das Sperrgebiet war da eben. Und ich weiß noch, da war mal Pilzzeit ... und mein Vater sagt, Mensch komm ... da suchen die Leute nicht, da gehen wir mal rein in das Sperrgebiet. Wir sind da rein so zwei, dreihundert Meter und haben im Sperrgebiet Pilze gesucht. Und auf einmal hören wir ein Motorrad und mein Vater sagt, jetzt müssen wir uns verstecken du ... Und wir können uns BIS heute nicht erklären, wir der uns da trotzdem noch aus dem Gebüsch geholt hat. Das Motorrad ist angehalten und der ruft so: Kommt da mal raus da!...Völlig unklar, wie die das gemacht haben ... Völlig unklar, dass der uns da aus dem Gebüsch geholt hat. 4.47 Da bei Heinersorf die hatten ja auch eine Mauer im Ort ... Da war natürlich immer Blickkontakt in den Westen und das sollte unterbunden werden und da haben sie eine Mauer hingesetzt. Musik: Schlacht, ab 3:33, kurz frei, drunter Autor: Im schmalen Steinacher Tal wechselt man dauernd die Perspektive. Kaum ist man nah dran, steht man schon wieder über allem. Ein paar Minuten steil bergauf weitet sich der Blick. Die Milonshöhe. Wohnen am Hang. Kein Laut. Da unten, dieser Ort mit seinen ewigen Häusern. Frieden. Seit 70 Jahren. Und in der Luft das Dröhnen der Geschichte. Oder ist das wieder nur der Druckausgleich im Ohr? Genau hier sind am Ende des Krieges die Sieger, die Amerikaner angekommen. Wieder so ein Nazinest. Ideale Schussposition. Aber dann hisste Steinach die weiße Fahne. Einmarsch. Wer heute noch von seiner ersten Begegnung mit den Amis erzählen kann, war damals Kind. 6. O-Ton: Dagmar Maeß 1.17.1 Süß! (lacht) Also es hat ein bisschen geschossen, und nun waren wir ja in diesem Kinderheim ... also jedenfalls hieß es, die Amerikaner kommen. Und das war gerade irgendwie eine Tageszeit, wo die noch vorhandenen Kinder im Flur anstanden auf dem Klo, um ihr großes Geschäft zu machen. Und jedes Kind hatte zwei Blatt Klopapier in der Hand. Und da kamen die Amerikaner rein und fanden diese Schlange von kleinen Kerlen: Jeder zwei Blatt Klopapier. Und da haben die sich halbtot gelacht. 1 Musik: Sonny Thet, Truck: Pentus, von vorn, bis 0:41 7. O-Ton: Dagmar Maeß 0:17 Ich wurde 17 als wir nach Steinach kamen. Autor: Dagmar Maeß, geborene Dressler, ist Jahrgang 1928 und strandete im Chaos der letzten Kriegswochen 1945 in Steinach. Sie und ihre Mutter kamen mit ihrer wenige Monate alten Schwester mit dem Zug aus dem Osten. Zusammen mit hunderten Flüchtlingen wurden sie ausgeladen. Unterschlupf in einem Kinderheim am Hang. Steinach, das war der vorläufige Endpunkt ihrer beispiellosen Lebensgeschichte. Steinach, der Zwischenort. Dagmar Maeß, 87, ist voller Energie, Intelligenz und Witz. Resolut schwingt sie sich aus dem Sessel, wenn sie alte Tagebücher und Erinnerungen heranholt. Warte mal, Steinach, sagt sie, und blättert in einem grauen Taschenkalender: 1945. 8. O-Ton: Dagmar Maeß 21.17 "Frieden" steht hier ... siebenter Mai, Frieden ... Autor: Eigentlich stammt die Familie aus Berlin, wo ihr Vater Horst Dressler-Andress arbeitete. Und wenn es um ihren Vater geht, geht es ans Eingemachte. Horst Dressler-Andress wird in den Analen der Deutschen Geschichte als führender Funktionär der NSDAP genannt. Dressler war Präsident der Reichsrundfunkkammer. Dressler gehörte zum engen Kreis des Propagandaministers. Die politische Karriere des Vaters hat die Familie ein Leben lang umgetrieben. Und mitgerissen. Schon damals. Wenn er zu Hause von seiner Arbeit erzählte, flogen die Namen Goebbels, Rosenberg, Ley, Speer und der Name des Führers durch das Wohnzimmer. Dressler war ein unermüdlicher Propagandist. 9. O-Ton: Dagmar Maeß 39.49 Er war voller Phantasie ... aber dann durften sie ihm nicht dazwischenreden! Autor: Dagmar Maeß möchte die Geschichte ihres Vaters eigentlich nicht so hoch hängen, wie sie sagt. Sie möchte endlich ihre eigene Geschichte erzählen. Sie war Kind, Teenager. Wie oft sie wegen Vater die Schule wechseln musste. Zwanzig mal? Aber Vaters Geschichte ist subtil mit ihrer eigenen verbunden. Und mit der deutschen Katastrophe. Mit ihrer Flucht. Dem ganzen Elend. Das macht die Sache so bleischwer. 10. O-Ton: Dagmar Maeß 50.16 Wissen sie, und es ist sooo komplex. Autor: Es ist das erste Mal, dass sie öffentlich darüber redet. Es ist ein Versuch. Nach 70 Jahren. Wo soll sie anfangen. Wie sie nach Steinach kam? 11. O-Ton: Dagmar Maeß 4.30 Im Sommer 44, in den Schulferien ... 44 brach die Front zusammen im Osten. Da kam der große Durchbruch. Und da haute alles ab, was Beene hatte und wir auch. 6:51 Und dann kam die Front immer näher ... Man hatte ja immer dieses: Das rollt, das rollt, das rollt auf uns zu ... und die meisten liefen einfach. Per Beene. Aber da meine Schwester ein Baby war, hatten wir den unglaublichen Vorteil, dass wir in einem Lazarettzug fahren konnten. (Richtung?) Na Richtung nischt! Autor: Dagmar Maeß und ihre Mutter mit der eben erst geborenen Schwester flohen im Frühjahr 45 vor den Russen aus dem besetzten Polen. Dem "Protektorat", dem erbeuteten Lebensraum im Osten. Denn Vater Dressler war jetzt "Mitglied der Zivilverwaltung und Leiter der Propagandaabteilung in Krakau." Ausgerechnet in Krakau. Er war für die Kultur zuständig, sagt Maeß. 12. O-Ton: Dagmar Maeß 2:04 So. Und da haben wir - ich dächte mal anderthalb Jahre, als ganze Familie in Krakau gewohnt ... jedenfalls wollten wir ja auch in Kriegszeiten so weit wie möglich zusammen sein. Und wenn das möglich war, haben wir das gemacht. Und es gab in Krakau eine deutsche Schule. Autor: Horst Dressler-Andress hat viele Fragen hinterlassen. Fragen, die vor allem die Familie umtreibt. Bis heute. Wer war dieser Mann, der ihr Vater war? Was trieb ihn bis in die höchsten Führungsetagen des Naziapparates? 13. O-Ton: Dagmar Maeß 53.36 Er hat schon vor 33 in München eine Funktion bei den Nazis gehabt ... und 34 ist er Ministerialrat geworden. Das weiß ich noch. Sein Geburtstag ... ich fuhr Roller auf der Straße und da hielten tolle Autos und alle deutschen Gaue gratulierten ihm zum Geburtstag, einer schenkte so eine große Weinflasche - das fand ich natürlich - das war Kino!! Autor: Dressler ist Jahrgang 1899 und stammt aus Zeitz, Sachsen. Aus einfachen Verhältnissen, SEHR einfachen, sagt seine Tochter. Volksschule, acht Klassen oder so. Dressler war noch als 18jähriger im ersten Weltkrieg. Und wollte immer mitmischen. Irgendwie groß rauskommen. Kunst machen. Tingelte schon als Junge in den Kneipen. Er war in seinen Zwanzigern, als die wilden Zwanziger ausbrachen. Weimarer Republik, Rezession, Revolution, Armut, Unmut. Überall wurden obskure Reden geschwungen, keiner wusste den Weg, aber alle hatten noch die Bilder von Flugzeuggeschwadern, die Bomben auf Städte werfen im Kopf. Bilder von alptraumhaften Gestalten in Gasmasken, die wie Blinde ihren Weg durch Giftgaswolken tasten. Dressler sucht seine Lebensaufgabe, seine Mission. Will mitmischen, will nach oben. Und wird Schauspieler. 14. O-Ton: Dagmar Maeß 24.29 ... mein Vater war ja Max Reinhardt Schüler ... und er hat mir rezitieren beigebracht. 57.57und das war toll!...Ich musste am Fußende seines Bettes stehen, und dann los: "Du redest mit frisierter Schnauze! Noch mal!" 24.29 Ich habe -ZIG Abende gemacht und so was ... das ist mein Vater für mich. Autor: Dressler spielt bei Max Reinhardt vor, auf dem Theaterolymp. Am Deutschen Theater Berlin. Darunter macht Dressler es nicht. Und besteht. Gut, Junge! - soll der linke Max Reinhardt zu dem Arbeiterkind gesagt haben. Kannst bleiben, bist Freischüler. Nur wenig später führt Dressler auch Regie. Übernimmt Führung. Dressler ist ein Talent. Vor allem ein Redetalent. Beteiligt sich als Sozialist im Meinungskrieg. Auf den Schlachtfeldern der Straße. Für die Rechte der Entrechteten. Irgendwo hat Dressler immer irgendeine Rede geschwungen, irgendein Traktat geschrieben. Die Welt verändert. 15. O-Ton: Dagmar Maeß 25.22 Er hat - ich sage es jetzt mal positiv - ich weiß es nicht. Er war auch ehrgeizig. Er ... WOLLTE auf der Bühne stehen. Er HAT die Leute mit seinen Reden, - die LUFTNUMMERN sind, wenn ich sie lese, - aber begeistert!...40.17 "Und wenn sich Pfennig um Pfennig sammelt, dann gibt es eine schöne runde Mark und dann können wir Suppe kochen ... "- und alles so etwas. Die waren hingefetzt und der hat einen Haufen Geld eingenommen. Da muss die Suada seines Mundes dahinter sein...so auch ein ... ein Zauberer! 25.22 Er war ja erst kommunistisch! ... Er war im Herzen SOZIAL - ich will nicht sozialistisch sagen, aber so etwa. Autor: Und plötzlich war da diese Partei mit dem österreichischen Führungsoffizier. Volksgenossen, Arbeit, Brot, Revolution von unten, Zukunft, Verstaatlichung, Lebensraum. Pathos, Theater. Horst Dressler macht sich groß, heftet sich den Künstlernamen Andress an und wird "Sozialrevolutionär". Eine linke Strömung innerhalb der NSDAP. 16. O-Ton: Dagmar Maeß 25.22 ... Und dann machten die nationalen Sozialisten das richtig und dann musste er da mitmachen. Und da war er noch BEGEISTERT, so mit KdF-Schiffen und Volksempfänger und Volkswagen und für das Volk. Er hat ja Konzerte in Werkhallen organisiert und so ein Zeug. Autor: Völkischer Antikapitalismus und nationaler Sozialismus entsprachen den Vorstellungen vieler Parteigänger. Ihre Verfechter unterlagen bald den innerparteilichen Machtkämpfen. Denn bereits im April 1928 sprach Parteichef Hitler ein Machtwort: Die Partei stehe auf dem Boden des "Privateigentums" und die Formulierung "unentgeltliche Enteignung" im Parteiprogramm richte sich zuallererst gegen Juden. Horst Dressler muss das gewusst haben. Oder? 17. O-Ton: Dagmar Maeß (0424)14.12 Ich denke, er hat auch immer nur das gehört und gelesen, was in sein Konzept passte. Und das andere das kannste untern Tisch fegen. Das kannste auslassen. Autor: 1930 tritt Dressler in die Partei ein. Und macht Karriere. Rasend schnell. Wie er das gemacht hat, konnte die Familie nie richtig nachvollziehen. Gerade war er noch mit wehendem Mantel, Rembrandthut und Künstlerschal durch die Provinz geschwebt. Aber plötzlich kam der Rundfunk auf. Horst Dressler ist hingerissen. Was für Möglichkeiten: Einer redet und Millionen hören zu. Massenmedium. Machtvoll. Nie dagewesen. Revolutionär. Er schreibt, reist, deklamiert. Verfasst hochtrabende rundfunkpolitische Visionen. Goebbels wird auf Dressler aufmerksam. Und holt ihn kurz nach der Machtergreifung 1933 ins Propagandaministerium. Da ist Dagmar Maeß fünf Jahre alt. Was haben eigentlich Rundfunkpräsidenten im "Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" so zu tun? 18. O-Ton: Dagmar Maeß 45.46 Die lassen ihre Kinder im Arbeitszimmer Ostereier suchen! DAS mein Vater! Im Propagandaministerium, gegenüber von der Reichskanzlei. Und da hatte er, so weit ich weiß, die Abteilung Rundfunk. Nee. Die Reichsrundfunkkammer ... Der Strauss hatte die Musikkammer und mein Vater hatte die Rundfunkkammer. 2 Musik: Sonny Thet, Track Kadenz1, ab 0:28 bis 1:29, reißt ab Rundfunkansprache über "Die Bedeutung des Rundfunks im nationalsozialistischen Staat", Archivton Nr. 2590249 vom 23.10.1933 19. O-Ton: Horst Dressler-Andress 0.0. (Applaus) Meine Arbeitskameraden und Arbeitskameradinnen am Deutschen Rundfunk! ... Wir alle miteinander, wir alle gemeinsam haben DER Aufgabe zu dienen, die die nationalsozialistische Revolution dem Deutschen Rundfunk gestellt hat. Wir alle haben seit dem ... politischen Sieg des Nationalsozialismus, seit Übernahme der Macht, Zeit und Gelegenheit gehabt zu der Untersuchung, ... ob wir der uns gesetzten Aufgabe im gesamten Umfange und nach jeder Richtung hin, genügt haben. Wir müssen uns heute in der Werksgemeinschaft Rechenschaft darüber geben über das, was da kommen soll ... Autor: Die Ansprache beginnt wie der harmlose Rechenschaftsbericht eines Angelvereins. Kameraden, der Abend wird lang. 23. Oktober 1933. Horst Dressler-Andress spricht vor der Reichsrundfunkgesellschaft über die Bedeutung des Rundfunks. Verkündungsmittel, Gestaltungsinstrument, historische Mission, Nationalsozialismus als Sendung. Der Saal hält still. Applaudiert protokollgerecht. Dann kommt, was kommen soll: Nach gefühlten 20 Minuten kitscht sich Dressler ein, findet in die Rolle: Der Missionar. Berauscht sich. An sich selbst. Und fordert die Einheit aller Talente im Funk. Und überhaupt. 20. O-Ton: Horst Dressler-Andress 11:32 Nicht in der These und in der Antithese liegt die Ordnung für unser Schaffen! Sondern in der Synthese. In der dauernden, gewollten, gedachten, erlebten Zusammenführung und Zusammenschweißung der Kräfte. Und wenn sie NOCH so sehr auseinander begabt sind! Sie MÜSSEN zusammen kommen!! Weil sie unbedingt zusammen gehören. Weil nur die geistige und seelische Verschwisterung aller Lebenselemente, Lebenstalente und Redsamkeiten in unserem Volke den GENIALEN Aufstieg unseres Volkes ausmacht! Sonst gibt es eine Zerstückelung, eine Verspaltung, eine Verreißung in Gegensätze ... (unter Autor weiter) Autor: Es ist der Sound der Straße. Der Sound der Klassenkämpfer. Die Rede dauert gefühlte Ewigkeiten. Der Prolet kommt empor, darf das große Rad drehen. Schluss mit Individualismus, dem Prominentenkult, Schluss mit intellektuellem Dünkel. Dressler ruft das Ende der Klassenunterschiede aus. Und dann bemüht er für diesen historischen Befreiungsschlag der Menschheit ein schlichtes Bild: Wenn die Scheuerfrau den Pflaumenkern auf dem Parkett nicht wegräumt, fällt der Promi auf die Nase. 21. O-Ton: Horst Dressler-Andress 14:24 Wenn aber der Prominente weiß, dass er sich die KNOCHEN bricht, wenn der Pflaumenkern auf dem Parkett von der Scheuerfrau nicht KORREKT weggetan wurde, und dass ihm die SCHÖNSTE Begabung nichts mehr nutzt, wenn er sich den HALS gebrochen hat!! - Dann erst haben wir Nationalsozialismus als Erlebnis und nicht mehr nur als Gesinnung, sondern auch als Haltung. Autor: Und diese Haltung hat jeder zu erlangen. Zu nutzen. Denn: Die Nutzanwendung des Einzelnen, darauf kommt es an. 22. O-Ton: Horst Dressler-Andress 15:43 - So dass man von ihm sagen kann: Grüß Gott, ein anständiger Nationalsozialist!! Heil Hitler! (Applaus ... ) Autor: Nein, so richtig zu verstehen war dieser Mann nie. Dressler war Schauspieler. Er schrieb sich seine Rollen selbst. Wenn seine Texte hohl klangen, wurde er eben lauter. Alter Schauspielertrick. 23. O-Ton: Dagmar Maeß 41.24 Die haben auch gewusst, dass sie ihn gut einsetzen können ... großes Theater! Musik: Sonny Thet, Track 1, Schlacht/Traktor, ab 0:19, 10 sec. frei, dann drunter ... Autor: Dressler hatte offenbar schnell begriffen, worauf es in der Politik ankommt. Auf die große Geste. Den Sound. Ohne den missionarischen Ton könnte sein Text auch von Heinz Erhard stammen. Comedy. Aus heutiger Perspektive. Aber 1933 rief die Masse nicht "der Kaiser ist nackt!", sondern "Heil". Eine Art Selbsthypnose. Alle wollten die Bewegung. Die große Welle nach vorn. Und Welle machen, das konnte Horst Dressler-Andress. 24. O-Ton: Dagmar Maeß 30.49 Also er hat sich hineingesteigert, dass er das auch selber glaubt ... Also ich weiß, dass ich 1943 in Krakau mal gesagt habe zu meiner Mutter: Glaubt denn der Vater das alles, was er sagt? Und da hat sie gesagt: Diese unehrerbietige Frage stellt man nicht! Autor: Fragen stellen. Der Vater, der Krieg, die Zeit, es ist ein Puzzle. Viele Teile fehlen. Wie kam es, dass Horst Dressler-Andress so tief in den Naziapparat eindrang? Als treuer Mitarbeiter von Goebbels? Dressler macht Kulturpolitik für die Nazis. Und Kultur, dass hat etwas mit Feierabend zu tun. Der müsse gestaltet werden. Umfassend. Total. Bis in den letzten Winkel. Dressler schreibt: Zitator: Die künstlerische Entwicklung muss vom Volk ausgehen, dass in den NS-Formationen die Bedeutung des Feierabends erkennt. Von dem dort gepflegten Feierabendgeist geht die Besinnung aus, die eine Vertiefung des Arbeitserlebnisses bewirkt und seine Transformation in einen künstlerischen Ausdruck in die Wege leitet. Autor: Der Feierabendgeist der NSDAP. Darauf muss man erstmal kommen. Dressler schreibt ganze Bücher voll mit seinen schwurbeligen Visonen. Dressler ist nicht nur Parteimitglied, nicht nur Funktionär, er hat den Größenwahn der Nationalsozialisten verinnerlicht. Die Tochter erzählt, durchgeknallt war er schon immer. Die totale Erschaffung des neuen Menschen. Samt seiner Freizeit. Im Juli 1934 steigt Dressler weiter auf. Er wird zum Amtsleiter KdF ernannt. "Kraft durch Freude", damals das größte Reisebüro der Welt. Die monströse Freizeitmaschine der NSDAP. Schiffe, Heime, Vollpension. Ein Ruck der Erholung soll durchs Volk gehen. Zwölf Tage Urlaub für alle. Ende der Durchsage. Das Monument der Freizeitdiktatur: Ein Erholungsheim für 20 000 Volksgenossen auf Rügen. 25. O-Ton: Archivaufnahme 2743235 0.0 Marschmusik am Strand. Drunter ... Autor: Die Szene: Die Bucht vor Prora. Grundsteinlegung. 20 000 geladene Gäste, Parademarsch, Wehrmacht, SA Formation, Schiffsparade, Flugzeugstaffel. 2. Mai 1936. Horst Dressler-Andress eröffnet das Strandspektakel. Archivaufnahme 2743235 26. O-Ton: Horst Dressler-Andress 8.17 Eine große Stunde ist es, die wir hier gemeinsam erleben dürfen ... eine Reihe gewaltiger Taten ist im Rahmen der nationalsozialistischen Gemeinschaft "Kraft durch Freude" erstanden ... 9.52 Denkmäler sind es ... die da erstehen!!...10.00 Und heute wird abermals solch ein Denkmal in GRUND gelegt ... um Zeugnis abzulegen, was Geist und Tat DER Männer war, die das dritte Reich Adolf Hitlers begründeten!! Autor: Dresslers Rede ist kurz und bemüht. Er beschwört noch einmal das "Sozialistische", das Soziale als den Kern der Bewegung. Ruft es aus sich heraus. Dann gibt Dressler überschwänglich das Mikrofon an Robert Ley ab, der eine Art Personalchef in der Partei ist. Dressler klingt nicht gut. Es tönt. Wie ein letzter Versuch. Die Zeit der "Sozialisten" in der NSDAP Führung war 1936 schon vorbei. Und Robert Ley, ein Machtmensch und Strippenzieher, Ley, der Dressler ins Propagandaministerium geholt hatte, demontierte Dressler wohl bereits. Und redet am Strand offen darüber, worum es bei der Massenerholung im Kern geht: Nur ein absolut erholter Volksgenosse sei in der Lage, sein Vaterland mehr zu lieben, als sich selbst. Redet von Todesstrafe, der Heiligkeit von Blut und Boden, von heldischem Denken und Soldatentum. Redet endlos. Immer wieder muss Ley seine Rede unterbrechen, weil Flugzeuggeschwader die Szene überdröhnen. Atmo: (aus Archiv O-Ton 2743235, Dressler; Ley) ab 24.00 Flugzeuge ... . Autor: Wer wollte, konnte die Menetekel lange vor Kriegsbeginn erkennen. Horst Dressler-Andress hat in dieser Zeit viel gelitten. Weil er gemobbt und abserviert wurde. 27. O-Ton: Dagmar Maeß 1.3.35 Er hat Krach mit Rosenberg, Ley und Göbbels gehabt. Und die drei haben ihn im Grunde genommen kalt gestellt. Die haben ihm dann ... die Abteilung zehn gegeben, die gabs aber nicht, die bestand nur aus ihm! 26.15 ... so, und das war eigentlich das Ende seiner Karriere ... ich bin im Herbst dann zu meinen Eltern zurückgekommen, und da lag er schon mit Fieber im Bett und war völlig fertig ... weil er raus war ... Er ist früh weg gegangen, damit die Leute im Hause denken, er geht zur Arbeit! 26.37 ... 39 fing der Krieg an. Da wurde er erstmal eingezogen.1.10.20 Als Landesschütze nach Polen. Autor: Nach Polen. In den totalen Krieg. Tiefer konnte man nicht fallen, wenn man schon mal neben dem Thron gesessen hat. Aber hinter jedem großen Mann steckt eine Frau, die alles regelt. Dresslers Frau kommt aus gutem Hause und ist Juristin. Und kämpft. Um den Vater ihres Kindes. Dagmar Maeß erinnert sich. 28. O-Ton: Dagmar Maeß 26.51 Meine Mutter muss ihn rasend geliebt haben ... und die hat gesagt: Die haben ihn ja gar nicht gewollt, und dass er nun für die stirbt, das geht doch nun eigentlich gar nicht ... Und meine Mutter ... die ist also ... zu Göbbels und zu wem allen, und hat gesagt: Macht ihn doch für Euch nützlich und setzt ihn doch ein. Es gibt doch in den besetzten Gebieten Kulturarbeit! Da ist der nach Krakau für Kulturarbeit gekommen. Hat eine Orchester gegründet und so ein Zeug. Soo! Autor: Krakau 1941. Die Stadt ist besetzt, Polen Untermenschen, im März wird das Ghetto errichtet. 20 000 Menschen werden zusammengepfercht, gequält. Der Rest ist bekannt. Judenvernichtung. Umsiedlungen, Vertreibungen, Erschießungen. Deportation. Im Mai 42 Abtransport von 6000 Juden in die eben erst erbauten Vernichtungslager Belzec und Auschwitz. 300 werden sofort erschossen. Im Oktober Abtransport von 7000 Juden. 600 werden sofort erschossen. Es braucht Kraft, die Fakten zu ertragen. Sie wollen kein Ende nehmen. Die mit Deutscher Gründlichkeit geplanten Judenvernichtungen lesen sich wie ein Marsch in den Untergang der Menschheit. Und in Krakau war es besonders schlimm. In der Stadt, in der Dagmar Maeß zur Schule geht. Im "Arischen" Teil der Stadt. Ihrem neuen Lebensraum. Wo Vater am Morgen irgendwo in einem Büro der Zivilverwaltung verschwindet. Sie kann darüber nicht reden. Sie bemüht sich. Ehrlich. Es geht einfach nicht. Selbst wenn sie wollte. Sie war ein Schulkind. 29. O-Ton: Dagmar Maeß 31.39 Na ja wissen sie, ich habe Polen GESEHEN! Das können sie erst nach meinem Tod benutzen. Ich möchte das nicht breit treten. Verstehen sie das? 32.7 Ich habe in Polen erlebt, da gab es große grüne Plakate. Da standen immer 50 Namen drauf. Und die ersten 5 waren fett gedruckt. Und vor diesen Plakaten versammelten sich ... die Massen. Und da hieß es ... wenn irgendwelche Partisanenaktivitäten gewesen waren, waren diese ersten fünf erschossen worden. Und bei der nächsten waren dann die anderen dran. Die waren zum Teil schon verhaftet ... und da hingen ja Familien dran.32.59 Und ich habe erlebt, - Sonntag, die Polen waren ja immer sehr für schickes Anziehen, Sonntag machte man Familienspaziergang. Topfit. Nicht so wie wir heute latschen, so, nee. Und da wurden Straßen abgesperrt und die Männer wurden eingesammelt auf Lastwagen und nach Deutschland gebracht in die Rüstungsindustrie. Peng. 33.42 Und ich weiß, ... mein Vater war nicht an diesen Erschießungen beteiligt. Aber ich weiß, dass er in diesen Krakauer Zeiten viel gesoffen hat. Da standen Flaschen auf dem Schrank und dann ist er so dann ins Bett gegangen. 3 Musik: Sonny Thet, Track1, Schlacht/Traktor, ab 0:39 bis 1:43, dann drunter Autor: Es gibt vieles, was nicht behalten werden will. Was einfach nicht zur Erinnerung dazu gehören soll. Dagmar Maeß weiß mehr, als sie zu sagen in der Lage ist. Das Bild des Vaters muss irgendwie mit den Bildern aus Krakau zusammengepasst werden. Es will nicht gelingen. Nicht so richtig. Sie ist jetzt 87, eine aufgeklärte, lebenskluge Frau und sagt: Ich habe bei meinem Vater am Kopfende gesessen und habe ihm Zöpfe geflochten. Und er hat geknurrt. Wie er zu den unübersehbaren Mordtaten vor ihren Fenstern stand, weiß sie bis heute nicht. Oder kann es nicht sagen. Vater, das Deutsche Phantom. 30. O-Ton: Dagmar Maeß 1.1.47 ... Das passt alles zu ihm: Er hatte in Krakau eine Uniform, die komisch war. Die war im Grunde keine Soldatenuniform und keine SA Uniform - das gabs für diese Verwaltung da. Keene Ahnung ... Und da hat er, in der Blütezeit seiner Karriere 1936, bei der Olympiade einen italienischen Olympiaorden bekommen, den man um den Hals hing. - Und diesen Orden trug er alltäglich und damit kam er auch in Steinach an. Die dachten, das ist ein Ritterkreuzträger. Autor: Horst Dressler-Andress war ein Mann, der den Glanz liebte. Das Licht. Er landete immer da, wo die Lampe brannte. Das Feuer der Revolte, die Scheinwerfer der Bühne, auf den Podien der Macht. Verblendet. Jetzt steckte er mitten drin in der Katastrophe. Jetzt blinkte nur noch eine italienische Geschenkplakette auf seiner blauen Uniform. 31. O-Ton: Dagmar Maeß 12.1. Ich glaube aber, er wollte die Welt verändern ... der hat mir in Krakau im Zimmer auf und ab laufend erzählt, wie er ... Jugoslawien, Ungarn - diese Länder alle sozialistisch machen wird - müsste, so. Und DANN, wäre eigentlich das Deutsche Reich gesichert. Den Russen gegenüber. Da hatte er sich schon beworben für Vortragsreisen ... . Autor: Im Sommer 44 bricht im Osten die Front zusammen und die große Flucht beginnt. Vater Horst bleibt zurück im Kriegschaos von Krakau. Mutter, Dagmar und die fünf Monate alte Ricarda auf dem Weg ins Nirgendwo. Dagmar behütet ihre Schwester rund um die Uhr. Die Odyssee endet in Steinach. Dort schreibt Dagmar in ihr Tagebuch einen Brief an das Baby: 32. O-Ton: Dagmar Maeß 21.50 ... es ist kaum zu fass- nee, hier ist es. "Mein liebes Ricardalein ... Es ist der siebente Mai 45 ... ES IST FRIEDEN. Frieden Ricarda, nach sechs Jahren Krieg. Ich sitze am offenen Fenster und sehe auf das stille Steinach. Abend. Du schläfst. Ach und nun stirbt nirgends mehr ein unschuldiger Mensch. Es ist kaum zu fassen. WELCH-EIN-FRIEDEN, Ricarda! Heute um zwei Uhr wurde die bedingungslose Kapitulation unterschrieben. Was ist in diesen drei Monaten alles geschehen. Die Russen drangen immer weiter vor ... weil du noch so klein warst, durften wir in einem Lazarettzug fahren, dessen Ziel uns unbekannt war. Wir fuhren mit vier anderen Leuten im Abteil, sechs Tage und sechs Nächte. Du warst rührend lieb, du schliefst fast immer, trotz Krach und Schmutz. Auf den Bahnsteigen der Stationen, an denen wir kurz hielten, spülten wir deine Windeln und hängten sie im Gang auf. Dann wurde der Zug an dreizehn thüringischen Stationen ausgeladen ... Wir kamen ins Massenlager und schliefen auf Holzwolle. Es war sehr kalt. Gleich in der ersten Nacht wurde zwei Mal Fliegeralarm gegeben. Dauernd schrien Kinder. Aber Du schliefst ... ." Musik: Sonny Thet, Track 1, Schlacht/Traktor ab: 2:50 bis 3:40 dann drunter Autor: Hunderte Flüchtlinge werden in Steinach untergebracht. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Wochen und Monate, in denen zunächst jeder sich selbst der Nächste war, sagt Dagmar Maeß. Und wieder kommt die kämpfende Mutter ins Spiel. Sie schafft es, ganz ohne Goebbels, sich und die Kinder in einem abgelegenen Kinderheim unter zu bringen. 33. O-Ton: Dagmar Maeß 10.58 ... und wir kriegten ein ZIMMER! Wo jeder ein BETT hatte! Und das war BEZOGEN! Und es war auf dem Flur eine BADEWANNE! Wir hatten ja seit Wochen keine Badewanne mehr gesehen. Es war Himmel, Kino, alles in einer Person. Autor: Und plötzlich kommt Horst Dressler-Andress zur Tür herein. Aus Krakau geflohen. Die Familie ist wieder vereint. Die Szene filmreif. Vater war einfach nicht mehr zum Auftritt auf der großen Bühne des Krieges erschienen. 34. O-Ton: Dagmar Maeß 16:53 Also mein Vater hatte uns dann gefunden, das ist ein Abenteuer für sich. Der hat irgendeinen Stempel geklaut und hat sich Marschbefehle geschrieben. So dass der dann in den letzten Kriegstagen nach Steinach gekommen ist, - den er sich selber ausgefüllt hat. Autor: Der Überlebenskampf der Familie beginnt. Kleidung, Essen, Heizung muss beschafft werden. Dagmar Maeß rast durch ihren Kopf. Die Erzählung springt. Sie hat in dieser Zeit fast die volle Verantwortung für ihre Schwester. Und Vater? Der kümmert sich sehr bald wieder um seine Kernkompetenz. Um Kunst, Kultur. Redet viel. Und sammelt neue Erkenntnisse. 35. O-Ton: Dagmar Maeß 44.5 ... und da hatte er wohl auch was getrunken ... dass er im Bett lag, noch in diesem Kinderheim, und da war ich mit ihm allein im Zimmer und da sagte er: Daggi, ich bin ein Schwein. Das hat mich dann auch ... (schweigt) Musik: Sonny Thet, Track 1, Schlacht Traktor, ab: 4:00, kurz frei, drunter Autor: Steinach, der Frieden und die Amerikaner. Und Horst Dressler-Andress. Die Zeit der amerikanischen Besatzungsmacht dauert nur acht Wochen. 1.21.26 (blättert) Aha! Ersten Juli: Russen besetzten Sonneberg! Autor: Bereits im Februar 1945 hatten die Alliierten in der Konferenz von Jalta festgelegt, wo nach dem Krieg die Grenze verlaufen sollte. Die Grenze zwischen dem Osten und dem Westen. Aber das wusste im Mai 45 in Steinach niemand. Niemand wusste, dass die Rote Armee bald nach Steinach kommt. Und die Entnazifizierung. Plötzlich waren sie da, die Russen. Und krempelten alles um. Warum ist Horst Dressler-Andress nicht abgehauen, wie so viele Nazikameraden in dieser Zeit? Ein paar Kilometer weiter gezogen, in den Westen? 36. O-Ton: Dagmar Maeß 56.38 (geflüstert) Weil er da nicht hingepasst hat. (laut:) Da war er auch wieder ein Kind. Also: "Er ist doch Sozialist Menschenskind! Und machen wir ihn nicht braun, dann machen wir ihn rot! Hauptsache wir machen Sozialismus! 1.22.30 Mein Vater hat gleich die Verbindung zu den alten Kommunisten gesucht! Und die waren BEGEISTERT von ihm! Autor: Dressler macht sich nützlich. Macht wieder den Kulturobmann. Organisiert Konzerte, sorgt sich um schöngeistige Literatur. Und die bildhübsche, 18. jährige Tochter rezitiert. 37. O-Ton: Dagmar Maeß 58.57 (blättert) ... unmittelbar nach dem Krieg, großer Konzertabend. Violinenvirtuose ... Büchner als Gast. Mitwirkende ... Dagmar Dressler und Horst Dressler. Ja, bitte sehr. Na das war so was. Aber das war auch Überlebenschance! Autor: Und dann ... 38. O-Ton: Dagmar Maeß 1.27.52 Und dann hat er sofort - (flüstert), ich habe gedacht, der spinnt. Der hat sofort bei Veranstaltungen wieder Reden gehalten ... Na ja und das hat ihn in Steinach eben dann auch unbeliebt gemacht. 1.29.28 Er ist ja dann auch noch mal in Sonneberg im Gefängnis gewesen. Autor: Und dann kommt keiner mehr richtig mit. Überall Geschichten von Verhaftung und Denunzierung. Entnazifizierung. Angst geht um. Was treibt Vater da schon wieder?? Wieder irgendwas mit Politik. Dagmar Dressler, der früh erwachsene Teenager, hat gründlich die Nase voll davon. Steinach in den Monaten nach dem Krieg. 39. O-Ton: Dagmar Maeß 1.22.41 ... Das war bald, nach dem die Russen da waren ... In Steinach in der Mitte der Stadt ist ... so eine Art altes Schloss, da war die Polizei drin ... und da kam, wo das Gefängnis war, ein Lastauto raus: Mann bei Mann auf einem offenen Lastauto standen da Männer ... Und ich habe da jedenfalls rumgefragt, was das ist: Ja, die sind alle verhaftet worden, die kommen jetzt nach Buchenwald. Und dann habe ich diesem Gespräch der Leute zugehört. Und die einen sagten: Na ja also, ein richtiger Nazi war das nicht, den haben sie nur angezeigt, weil der mal einen Nachbarn angezeigt hat wegen Schwarzschlachten und so.--Und da habe ich gedacht: Nee. Wenn das jetzt die neue Welt ist, NIE mehr beschäftigst du dich mit Politik. Politik ist immer ungerecht. Autor: Und wieder: Lastwagen voller Zivilisten. Wie weiter? Das nahe gelegene Konzentrationslager Buchenwald wird übergangslos Internierungslager für Nazis und solche, die dafür gehalten werden. Vater muss beweisen, wer er ist. Braucht Zeugen aus seiner Vorkriegszeit: Dressler der linke Schauspieler und Regisseur. Dagmar kommt nicht raus aus der Politik. Aus dem Leben ihres Vaters. Dagmar muss los, Zeugen besorgen. 40. O-Ton: Dagmar Maeß 44.54 Es fiel ihm ein, dass er ja vor 33 starke persönliche Bindungen zu einem Lehrerehepaar kommunistischer Art in einem Gesprächskreis in Gera hatte, wo er am Theater war...ich sollte doch mal einen Termin ausmachen, wo mein Vater dahin kommen könnte ... Weil er doch JETZT den Sozialismus aufbauen wollte ... So ... Und der Mann von der Frau war kurz vorher an den Folgen des KZs gestorben und sie war also Schulrätin geworden ... und da hat diese Frau zu mir gesagt, ja er soll nur ruhig kommen, aber ich verstehe ihn nicht. Das höre ich noch: Nur ein Wahnsinniger oder ein Verbrecher konnte in die NSDAP eintreten, nach dem er diese Diskussionen mit uns gemacht hat. Aber er soll kommen ... Musik: Sonny Thet, Track 1, Schlacht/Traktor, ab 2:03 bis 2:10, überblenden 41. O-Ton: Dagmar Maeß 47.3 ... nun ja, da ist mein Vater hingefahren, und der hatte noch nicht den Mantel ausgezogen, da waren die Russen da und haben ihn nach Buchenwald gebracht. 47.20 ... und die haben ihn mit Stahlruten geschlagen und die Brille zerschlagen... Autor: Horst Dressler-Andress wird der Prozess gemacht. Und wieder: Frau Dressler kämpft, fährt umher, besorgt Zeugen, schreibt Eingaben. Kämpft um den Mann. Wie eine Juristin? 42. O-Ton: Dagmar Maeß 1.31.43 Nee, emotional! Also da kam zum Beispiel ein Gedicht von ihm ... "Und wieder fuhr ich früh am Morgen aus, die Hoffnung wehte frisch und frei vom Lande, und wieder bracht ich kaum mich selbst zurück. Und wieder liegt mein Boot zerschellt am Strande." Kannste heulen! Autor: Könnte auch vom Pazifisten Wolfgang Borchert stammen. Dresslers Bücher aus der Nazizeit landen jedoch auf dem Index und werden aus den Bibliotheken entfernt. Er schafft es, die Richter von seiner linken Gesinnung zu überzeugen. Er kommt bald als "Minderbelasteter" wieder frei. Dagmar sagt, er hat nie über Buchenwald geredet. Kein Wort. Für den Rest seines Lebens wird Horst Dressler panische Angst vor Hunden haben. 43. O-Ton: Dagmar Maeß 1.34.38 Da! Vater zurück gekommen. Am 8. Januar 46! Autor: Wenig später beteiligt er sich an den Veranstaltungen zur Zwangsvereinigung von KPD und SPD, die im April 1946 vollzogen wird. 44. O-Ton: Dagmar Maeß 1.35.6 Am 8. Januar kommt er zurück. Am 13. ist er auf der Kundgebung der Einheitspartei! (lacht) Das kannste nicht verstehen! Autor: Dagmar Maeß wird tief überzeugte Christin. Ist es bis heute. Vater Horst Dressler-Andress wird wieder Parteimitglied. Diesmal in der NDPD, der National-Demokratischen Partei Deutschlands. Einer Blockpartei der SED, vorrangig geschaffen, um alte Nazis zu kontrollieren und für die DDR nützlich zu machen. Dressler sitzt bald im Parteivorstand. Schreibt wieder Bücher, macht wieder den Regisseur, wird Intendant und mischt in der Kulturpolitik der DDR mit. Und ist erpressbar. Von der Staatssicherheit. Seine alten Kontakte sind wertvoll. Bald darf er in den Westen reisen. Seine Tochter fragt sich bis heute: Was wollte Vater in Westberlin bei Albert Speer? Dresslers Stasiakten füllen drei Regalmeter. Dagmar Meaß hat es bis heute nicht geschafft, das alles zu lesen, zu verarbeiten. 45. O-Ton: Dagmar Maeß 24.29 Aber in Goebbels Tagebüchern steht: Er war ein Taschenspieler und Jongleur. Musik: Sonny Thet , Track 1, Schlacht/Traktor, ab 5:09 bis 5:22, dann drunter Autor: Steinach liegt still. Und der Schnee von gestern vergeht nicht. Wie eine Erinnerung. Wer will, kann das Dröhnen der Geschichte hören. Oder ist das wieder nur der Druckausgleich im Ohr? Durch Steinach führte vor Ende des Krieges der Todesmarsch von Buchenwald. Dann Schüsse hinter den Schiefersteinbrüchen. Im Ort leben noch Zeugen des Massakers. Musik: Sonny Thet, Track 1, Schlacht/Traktor, von vorn, 9 sec, dann abreißen Autor: In der Kneipe "Zum Anker" kennt jeder jeden. Tiefer Frieden. Der Fremde wird bemerkt und in Ruhe gelassen. Bratkartoffeln mit Sülze. Hinten im Vereinsraum tagen örtliche Medienleute. Regionalfernsehen und so, erklärt der Wirt. Nach der Sitzung bleiben ein paar zum Fußball. Bayern spielt. Gegen Schachtar Donezk. Wegen des Krieges in der Ostukraine muss das Spiel weit im Westen der Ukraine stattfinden, in Lwiw, sagt der Reporter im Fernsehen. Nein, er sagt nicht Lwiw, er sagt Lemberg. So hieß die Stadt zuletzt im Zweiten Weltkrieg, 1941-45. Als Teil des "Deutschen Generalgouvernements". Das Fußballspiel geht unentschieden aus, Null-Null. Musik: wie oben, 0:15 bis 0:26, reißt ab Kennmelodie Sprecherin vom Dienst Im Tal liegt noch Schnee von gestern Steinach in Thüringen Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Hans-Otto Reintsch Ton: Bernd Friebel Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2015 Manuskript und das Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 1