Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 27. Dezember 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Hinterm Zaun - Russlands verbotene Städte Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel (DLF 2012) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Die Öffnung der Geschlossenen Städte wird diskutiert. Der Generaldirektor von Rosatom hat den Einwohnern von Novouralsk gesagt: Ich werde den Öffnungsprozess nicht anstoßen. Wenn Sie jedoch diese Frage ernsthaft stellen wollen, dann sollten Sie ein Referendum durchführen. Rosatom besteht nicht auf einer Öffnung oder Schließung dieser Städte, das sollen die Bürger selbst entscheiden. Russlands "Geschlossene Städte": Zu Stalins Zeiten waren es Geheimnis umwitterte Atombombenfabriken - totgeschwiegen und abgeschottet wie Hochsicherheitstrakte. Es gibt sie noch immer. Doch die Diskussion um ihre Existenzberechtigung ist kontrovers. Nein, bloß nicht öffnen! Wir haben genug mit unseren eigenen Idioten zu tun! Wenn sie die Stadt jetzt öffnen, dann kommen die Verbrecher rein! Diese Gastarbeiter, diese Tadschiken und Usbeken. Die verkaufen dann bei uns ihre Billigwaren und nehmen uns die verbliebenen Arbeitsplätze auch noch weg. Dann bleibt für uns gar nichts mehr zu tun. Nein, nein, sie werden unsere Stadt nicht öffnen. Niemals werden sie sie öffnen. Gesichter Europas: Hinterm Zaun - Russlands verbotene Städte. Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Patrouillierende Uniformierte, blickdichte Absperrungen, Geheimdienstler in Zivil: Wer auf russischen Landstraßen durch das menschenleere Naturidyll des Ural oder die Weiten Sibiriens fährt, dem kann es geschehen, dass seine Fahrt unversehens vor einem Schlagbaum endet. In die dahinterliegende Stadt hat nur Zutritt, wer sich mit einem speziellen Dokument als registrierter Einwohner ausweisen kann. "Geschlossenes administrativ- territoriales Gebilde", kurz ZATO, nennt die russische Amtssprache diese Städte, die der Sitz von wichtigen Rüstungsanlagen sind. Entstanden sind diese geheimen Orte in den Anfangsjahren des Kalten Krieges, als das atomare Wettrüsten zwischen Ost und West seinen Anfang nahm. Sie waren auf keiner Landkarte verzeichnet; kaum jemand wusste von ihrer Existenz. Die Forschung an Nuklearsprengköpfen für das sowjetische Atombombenprogramm hatte höchste Sicherheitsstufe; Ihre Mitarbeiter standen als staatliche Geheimnisträger unter strenger Beobachtung. Atmo 1 Der Kalte Krieg ist längst beendet, das Wettrüsten Vergangenheit. Doch bis heute spielen die ZATO in Russland eine zentrale strategische Rolle als Zentren der russischen Nukleartechnologie, Chemie oder Rüstungstechnik für die Landesverteidigung und neuerdings auch für den Exportmarkt. Mehr als 40 dieser geschlossenen Städte existieren heute noch; rund 1,4 Millionen Russen leben in einem Hochsicherheitstrakt. Reportage 1 Novouralsk ATMO SCHRITTE, STRAßENMUSIK Wohnblocks, Kinderspielplätze, Straßenmusiker und eine überlebensgroße Lenin-Statue auf dem zentralen Platz: Verch Nevinsk, so scheint es, ist ein ganz normales Städtchen am Ural. Direkt hinter dem Stadtzentrum jedoch ist es plötzlich vorbei mit dem gemächlichen Kleinstadtleben. ATMO STRAßENVERKEHR, STAU Hier quält sich in zähem Stop-and-Go eine Autoschlange vorwärts. Mitten auf der Durchfahrtsstraße steht ein Schlagbaum. Bewaffnete Uniformierte kontrollieren die Papiere derer, die die Absperrung passieren wollen. Denn hier, wo Verch Nevinsk endet, beginnt das Gebiet der Nachbarstadt Novouralsk - und die ist, wie es in der russischen Amtssprache heißt, ein "geschlossenes Territorium". Die Stadtgrenze darf nur passieren, wer sich mit einem speziellen Ausweis als registrierter Einwohner ausweisen kann. Ein paar hundert Meter weiter gibt es eine weitere Absperrung: die Kontrollstelle für Fußgänger. ATMO KONTROLLSTELLE In dem Häuschen herrscht reges Treiben: Hier kontrollieren Uniformierte die Zugangspapiere von Passanten. Leute kramen nach ihren Ausweisen, und zwängen sich nach der Kontrolle durch die Drehkreuze. Eine Frau versucht ohne Einwohnerausweis ihr Glück. "Nein, kein Zugang!", sagt ihr die Sicherheitsbeamtin. "Bitte gehen Sie wieder zurück." Aber sie wolle doch nur kurz jemanden besuchen, beharrt die Frau. Wenn sie Verwandte in Novouralsk habe, erklärt die Sicherheitsbeamtin, dann könne sie ja einen schriftlichen Antrag stellen. Verständnislos schüttelt die Frau den Kopf. "Wie kann nur so leben?", murmelt sie im Weggehen. "Was haben Sie denn nur dagegen, dass diese Stadt endlich geöffnet wird?" ATMO MARKT Direkt vor der Mauer, die Novouralsk umschließt, gibt es einen kleinen Markt. Hier bieten Händler mit asiatischen Gesichtszügen Pullover, Turnschuhe und Elektrogeräte zum Verkauf an. An den Straßenrändern haben Rentnerinnen Apfelsinenkisten aufgestellt, als Auslage für selbst gestrickte Socken, Waldpilze oder eingelegten Kohl. Ein älteres Ehepaar, beladen mit Einkaufstüten, bahnt sich den Weg zur Kontrollstation - zurück nach Novouralsk. Es ist ganz in Ordnung da drin. Heute ist Novouralsk eine Stadt wie jede andere. Es gibt keine Privilegien mehr für die Einwohner, so wie es früher einmal war. Heute ist das Leben dort wie überall. ATMO DISKUSSION "Aber da drin gibt es doch nichts mehr. Ständig kürzen sie die Staatszuschüsse", wirft ihr Ehemann ein. Um das Gesundheitswesen stehe es schlecht. Seine Frau knufft ihm in die Seite: "Du willst wohl verhaftet werden", sagt sie. "Aber für so etwas wird man heutzutage doch nicht mehr verhaftet", wehrt sich der Mann. Einige Händler gesellen sich dazu. Wir brauchen unsere Autos nicht abzuschließen, niemand klaut sie. Und wenn ich nachts in Novouralsk unterwegs bin, dann brauche ich keine Angst zu haben. Die russischen Marktleute, die hier mit kleinen Geschäften ihre Rente aufbessern, wohnen alle in Novouralsk. Im "Elektrochemischen Kombinat", dem größten Arbeitgeber von Novouralsk, habe es in den vergangenen Jahren viele Entlassungen gegeben, erzählen die Leute. Nur die noch verbliebenen Werksmitarbeiter hätten keinen Grund zu klagen, sie führten nach wie vor ein privilegiertes Leben. Aber alle anderen müssten sich jetzt irgendwie durchschlagen. Eine Zukunftsperspektive für Novouralsk sehen die Marktleute nicht. Die Jungen ziehen weg, weil es keine Arbeit und keine Freizeitangebote gibt. Und unsere Geschäfte erst! Zum Einkaufen fahren wir alle nach Jekaterinburg. Mein Sohn ist zum Studieren nach Jekaterinburg gezogen. Ich selbst habe ihm das geraten: Die Universität Jekaterinburg hat wenigstens Renommee! Hier in Novouralsk hat zwar auch gerade ein neues Institut aufgemacht, das "NGTI" - aber was soll das denn sein? Wo kann man sich mit so einem Abschluss bewerben? Das nimmt doch keiner ernst. Das kennt doch noch nicht mal einer! Die Jungen ziehen weg, die Alten bleiben - so sieht es aus in Novouralsk, da sind sich alle einig. Eigentlich sei es allmählich an der Zeit, sagt ein Mann, die geschlossenen Städte zu öffnen, um auf diese Weise ein normales Wirtschaftsleben möglich zu machen. Doch nicht alle der Umstehenden sind mit ihm einer Meinung. Nein, bloß nicht öffnen! Wir haben genug mit unseren eigenen Idioten zu tun! Wenn sie die Stadt jetzt öffnen, dann kommen die Verbrecher rein! Diese Gastarbeiter, diese Tadschiken und Usbeken. Die verkaufen dann bei uns ihre Billigwaren und nehmen uns die verbliebenen Arbeitsplätze auch noch weg. Dann bleibt für uns gar nichts mehr zu tun. Nein, nein, sie werden unsere Stadt nicht öffnen. Niemals werden sie sie öffnen. Musik Zu Sowjetzeiten arbeiteten die renommiertesten Wissenschaftler an geheimen Rüstungsprogrammen. Von 1948 bis 1968 forschte auch der Physiker Andrej Sacharow an der sowjetischen Atombombe. Der bekannte Dissident, Menschenrechtler und spätere Friedensnobelpreisträger war im eigenen Land lange geächtet und wurde erst kurz vor seinem Tod rehabilitiert. Er arbeitete zunächst in Moskau, später in dem geheimen Entwicklungsinstitut im damals zur Tarnung "Arsamas -16" genannten Sarow, gelegen in Westrussland an der Wolga. Der "Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe" war zu dieser Zeit überzeugt - wie er in seinen Memoiren "Mein Leben" schrieb, dass ein nukleares Gleichgewicht die Welt vor der Zerstörung bewahren könne. Literatur 1 Es ist angebracht zu erläutern, wie unsere und auch meine Einstellung zu der moralischen und menschlichen Seite der Sache war, an der wir uns so aktiv beteiligten. Meine Position, die sich bis zu einem gewissen Grad unter Igor Tamms Einfluss, seiner Haltung und jener der mich umgebenden Personen gebildet hatte, veränderte sich im Laufe der Zeit. (...) An dieser Stelle möchte ich darlegen, wie sie während der ersten sieben, acht Jahre aussah, vor dem thermonuklearen Versuch des Jahres 1955. (...) Ich versuche - 34 Jahre danach - dies auch mir selbst zu erklären. Einer der Gründe, nicht der Hauptgrund, war die "gute Physik" - so ein Ausspruch Fermis in Bezug auf die Atombombe. (...) Das wichtigste (...) war für mich die innere Überzeugung, dass diese Arbeit notwendig war. Ich konnte mir nicht verhehlen, mit welch furchtbaren, unmenschlichen Dingen wir uns beschäftigten. Doch der eben erst zu Ende gegangene Krieg war auch unmenschlich gewesen. Ich war in diesem Krieg nicht Soldat gewesen, doch fühlte ich mich als Soldat dieses, des naturwissenschaftlich- technischen Krieges. (...) Mit der Zeit hörten oder kamen wir selbst auf solche Begriffe wie strategisches Gleichgewicht, wechselseitige thermonukleare Abschreckung u. ä. Ich glaube auch heute, dass diese globalen Ideen tatsächlich eine gewisse intellektuelle Rechtfertigung für den Bau von Thermo-nuklearwaffen und für unsere persönliche Beteiligung daran enthalten. Damals nahmen wir alles eher auf einer emotionalen Ebene wahr. Die ungeheure Zerstörungskraft, die gewaltigen Anstrengungen, die für diese Entwicklung nötig waren, die Mittel, die dem armen und hungernden, vom Krieg zerstörten Land weggenommen wurden, die Menschenopfer in den gesundheitsschädlichen Produktionsstätten und in den Zwangsarbeiterlagern - all dies zwang uns, so zu denken und zu arbeiten, dass alle Opfer, die als unumgänglich galten, nicht umsonst waren. Dieses Gefühl verschärfte sich noch im "Objekt". Es war wirklich die Psychologie eines Krieges. Musik Jekaterinburg, das zu Sowjetzeiten Sverdlovsk hieß, ist eine Millionenmetropole am Ural. Hier ist auch der Regierungssitz der Region Sverdlovsk. In ihrem Regierungsbezirk liegen vier so genannte "geschlossene administrativ-territoriale Gebilde": zwei werden vom Verteidigungsministerium verwaltet, zwei von der staatlichen Nuklearholding Rosatom. Die geschlossenen Städte sind bis heute stark auf Zuschüsse aus dem Staatshaushalt angewiesen - einerseits, weil die hoch spezialisierten Industrieanlagen anders nicht zu finanzieren wären, andererseits, weil unter den Bedingungen der hermetischen Abschottung freier Handel unmöglich ist. Reportage 2 Jekaterinburg ATMO RESTAURANT, WASSERSPIEL Ein kleines Restaurant in der Innenstadt von Jekaterinburg: Großstadtchic in traditioneller Holzbauweise. Von der Wand plätschert dekorativ ein Wasserspiel, serviert wird russische Küche. Es ist der richtige Ort für gehobene Geschäftsessen. Hier wartet Vladimir Maschkov: ein schlanker Mann mit grau meliertem Haar. Er redet mit großen Gesten, lacht gern und viel. Er sitzt im Rat der Region Sverdlovsk, und gehört zu den wenigen Regierungsvertretern, die sich vor ausländischen Medien überhaupt zu dem heiklen Thema Geschlossene Städte äußern wollen. Es gibt ein interessantes Phänomen. Ich habe selbst 15 Jahre in einer Geschlossenen Stadt gelebt, in Novouralsk. Aber als ich dann nach Jekaterinburg gezogen bin, hatte ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Die Schlüssel und Schlösser haben mir gefehlt! Nun, das ist vorübergegangen. Aber seitdem weiß ich, dass man sich an so etwas gewöhnen kann. Und dann will man es nicht mehr missen. Novouralsk ist eines von vier geschlossenen Territorien in der Region Sverdlovsk. Der Strukturwandel von streng geheimen Atombombenschmieden hin zu international kontrollierten Nukleartechnologie-Zentren, der in den 90-er Jahren noch zum Greifen nah erschien, hat hier nie stattgefunden. In den Jahren der Perestrojka, erzählt Maschkov, war die Aufbruchsstimmung sogar hinter der Mauer von Novouralsk deutlich zu spüren. Er selbst arbeitete damals als Journalist: Die Öffentlichkeit sollte endlich vom Leben in diesen Städten erfahren, die Jahrzehnte lang totgeschwiegen worden waren. Unter Gorbatschow war es erstmals erlaubt, in den Massenmedien über Geschlossene Städte zu berichten. Ich war damals an der Gründung der ersten Zeitung und des ersten regionalen Fernsehkanals beteiligt. Darum kann ich mir ein Urteil erlauben. In den 60 Jahren, die es unsere Atomindustrie inzwischen gibt, hat sich ein bestimmtes Berufsethos herausgebildet. Dort arbeiten Leute mit viel Disziplin, und mit hoher technologischer Qualifikation - und die brauchen ein solides und friedliches Umfeld. Darum gibt es in Geschlossenen Städten besonders viele Schulen und Kindergärten. In Novouralsk wurde gerade ein neuer Sportkomplex eröffnet; außerdem gibt es Musikschulen, Theater und Opernhäuser. Dort geht es friedlicher zu als in dem dynamischen und wilden Jekaterinburg. Doch auch viele Russen empfinden die Geschlossenen Städte heute wie einen Anachronismus aus der längst versunkenen Stalin-Ära. Welthandel und offener Grenzverkehr haben Russland verändert. Die internationale Staatengemeinschaft hat in den vergangenen 20 Jahren Milliardensummen in die russischen Nuklearanlagen investiert, um in den maroden Hochrisikoobjekten kontrollierbare Sicherheitsstandards einzuführen. Heute ist Russland beim Export von Nukleartechnologie ein Global Player. Maschkov aber vermeidet jede persönliche Stellungnahme zu diesem Dilemma. Die Öffnung der Geschlossenen Städte wird diskutiert. Der Generaldirektor von Rosatom hat den Einwohnern von Novouralsk gesagt: Ich werde den Öffnungsprozess nicht anstoßen. Wenn Sie jedoch diese Frage ernsthaft stellen wollen, dann sollten Sie ein Referendum durchführen. Rosatom besteht nicht auf einer Öffnung oder Schließung dieser Städte, das sollen die Bürger selbst entscheiden. Sollten sie sich für eine Öffnung entscheiden, dann werden wir etwas Zeit für den Bau neuer Sicherungsvorrichtungen rund um die Nuklearanlage brauchen, denn die Terrorismusgefahr ist real. Das ist die Position von Sergej Kirienko. Sergej Kirienko: Wer mit Maschkov über die Wirtschaftsentwicklung der Region Sverdlovsk redet, der hört diesen Namen oft. Der Generaldirektor der staatlichen Nuklearholding Rosatom ist der Hauptverantwortliche für Russlands Nuklearanlagen. Das macht ihn auch zum Entscheidungsträger über die Zukunft der Geschlossenen Städte. Maschkov hat zu Kirienko einen persönlichen Draht, erzählt er mit unverhohlenem Stolz. Denn die Nuklearindustrie zählt zu den wichtigsten Wirtschaftsmotoren der Region. Musik Literatur 2 Der Fall Boris Smagins charakterisiert die Gefahr des Lebens im Objekt. Ich war Smagin zum ersten Mal in Aschchabad begegnet, wo er zwei Studienjahre unter mir war. Dann schloss er sich der kämpfenden Truppe an. Nach seiner Entlassung vom Militär absolvierte er die Physikalische Fakultät der MGU und wurde ins Objekt geschickt. Kurze Zeit vor meiner Ankunft ernannte man ihn zum Leiter einer kleinen Abteilung. (...) Eines Tages kam ihm ein geheimes Element abhanden, das ich hier nicht näher beschreiben will. Smagin wurde verhaftet. Er flehte, man möge die Kanalisationsabfälle aufgraben, weil er hoffte, dass ihm das Element in der Toilette zufällig aus der Tasche gefallen war. Drei Tage lang trugen Offiziere der Staatssicherheit, nachdem sie den Ort, wo das Kanalisationsrohr an der Uferböschung des Flusses austrat, abgeriegelt hatten, die angeschwemmten gefrorenen Fäkalien Schicht um Schicht mit der Hacke ab. Zum Glück fanden sie das Element. Somit hat sich Smagin nur dessen schuldig gemacht, dass er ein Loch in der Tasche hatte. Er wurde aus der Untersuchungshaft entlassen, doch seine Arbeit hatte er verloren. Als Träger von Staatsgeheimnissen und eines Lochs in der Tasche durfte er das Objekt nicht verlassen. So lebte er ohne Recht auf Ausreise, ohne Existenzmittel und auch ohne das Recht, jemanden über seine Lage zu benachrichtigen, über ein halbes Jahr. (...) Erst viel später gelang es Smagin, als Lehrer an einer Mittelschule Arbeit zu finden und einige Jahre darauf die Gegend zu verlassen. Musik Nicht jede Art von Wissenschaft fand zu Sowjetzeiten in hermetisch abgeschotteten geschlossenen Städten statt. Forschungsstätten, die sich der zivilen Nutzung von Atomkraft widmeten, befanden sich häufig in gesperrten städtischen Bereichen. Obninsk besitzt bis heute den offiziellen russischen Status "naukograd", Stadt der Wissenschaft, und kommt darum bevorzugt in den Genuss staatlicher Fördergelder. Hier gibt es zahlreiche Institute und Forschungszentren im Bereich der Weltraumtechnik, Atomenergie, Meteorologie und in anderen Wissenschaftsbereichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Obninsk als Planstadt errichtet worden; 1954 rückte sie mit der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Obninsk ins Rampenlicht, was zu großem Bevölkerungswachstum führte. Atmo Bis heute ist eine Besichtigung des historischen Meilers mit langer Vorlaufzeit und viel Bürokratie verbunden. Das Institutsgelände, auf dem er steht, trägt seit Stalins Zeiten den Beinamen "die Sperrzone" - und daran hat sich nicht viel geändert. Zurzeit wird hier am Physikalisch-energetischen Institut an einer neuen Generation Kernreaktoren gearbeitet, und auf dem Gelände lagert viel radioaktives Spaltmaterial. Reportage 3 Obninsk ATMO ZUGANKUNFT Ankunft am Bahnhof Obninsk: Gut zwei Stunden Fahrt braucht der Regionalzug aus Moskau, bis er in der 100.000 -Einwohner- Stadt einfährt. Wie an jedem Werktag sind zahlreiche Pendler hierhin unterwegs. Sie streichen ihre Geschäftskleidung glatt, greifen nach ihren Laptop-Taschen und treten hinaus auf den Bahnsteig. Über breite, von Blumenrabatten gesäumte Straßen strömen sie in Richtung der zahlreichen Institute für Raumfahrt, Meteorologie und Nukleartechnik, die hier ihren Sitz haben. Obninsk ist im Aufbruch, das ist deutlich zu spüren. Die Krisen der 90-er Jahre scheinen überwunden, der post-sowjetische Überlebenskampf der Institute: gewonnen. Der Exodus russischer Wissenschaftler ins Ausland ist Vergangenheit. Die staatlichen Forschungsgelder fließen wieder. Das ist der Zentraleingang zum Physikalisch-Energetischen Institut. Sehen Sie die digitale Anzeigetafel dort? Sie zeigt die radioaktive Hintergrundstrahlung: 11 Mikroröntgen in der Stunde, das ist die Norm. Die Radioaktivität liegt hier draußen weit unter dem Grenzwert. Selbst 13, 14 Mikroröntgen wären noch völlig in Ordnung. Diese Dosis könnte man verzehnfachen, bis man sich Sorgen machen müsste. ATMO BEGRÜßUNG, BUSTÜR Das Obninsker Physikalisch-Energetische Institut gehört zu Russlands renommiertesten Forschungseinrichtungen. Es hat Technikgeschichte geschrieben, schwärmt der Institutssprecher. Hier ging vor 58 Jahren das erste Atomkraftwerk der Welt ans Netz - das "AM-1". Doch ein mannshoher Zaun verwehrt den Blick auf das weitläufige Gelände, das seit Stalins Zeiten den umgangssprachlichen Beinamen "die Sperrzone" trägt. Selbst angemeldeten Gästen wird Zufahrt nur im institutseigenen Kleinbus gewährt, und begleitet von einem mehrköpfigen Empfangskomitee. Sicherheitskräfte kontrollieren Pässe und Passierscheine. Dann kann man durch die Windschutzscheibe das Eisentor aufschwingen sehen. Nach kaum 500 Metern Fahrt ist das Ziel erreicht: Der Bus hält vor einem Gebäudekomplex, der mit seiner prächtigen Fassade mehr an das Wohnhaus eines wohlhabenden Bürgers erinnert, als an ein Atomkraftwerk. Am Eingang wartet ein hagerer alter Herr in weißem Laborkittel und mit einer Schutzhaube auf dem Kopf. Hier befinden wir uns in dem ersten Atomkraftwerk der Welt. Es ging am 27. Juni 1954 ans Netz, und war dann 45 Jahre in Betrieb. Anschließend begann der Rückbau. 2004 wurde dann beschlossen, das Kraftwerksgebäude als Baudenkmal der Wissenschaft und Technik zu erhalten. ATMO GESPRÄCH Jevgenij Uljanov hat selbst 30 Jahre lang als leitender Ingenieur in dem Atomkraftwerk gearbeitet. Der AM-1, erzählt, Uljanov, war ein Testreaktor - gebaut in den Jahren des beginnenden Wettrüstens. Der Technikwettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion um die schlagkräftigsten Nuklearsprengköpfe setzte sich in der zivilen Forschung und Entwicklung fort: 1951 hatten die Amerikaner mit einem Atomreaktor vier Glühbirnen zum Leuchten gebracht. Der Obninsker Reaktor dagegen produzierte von Anfang an Strom für mehrere hundert Haushalte. Uljanov deutet auf eine Schwarz- weiß- Fotografie, die im Gang ausgehängt ist. Sie zeigt das Porträt des deutschstämmigen Nuklearwissenschaftlers Klaus Fuchs, der an den US-amerikanischen und britischen Atombombenprogrammen beteiligt war, und später als Spion in die Geschichte des Kalten Krieges einging: Er verriet die streng geheimen Forschungsergebnisse an die Sowjetunion. Es war eine seltsame Zeit, sagt Uljanov. Die sowjetische Atomindustrie verbarrikadierte sich in Festungs-ähnlichen Anlagen, und versuchte gleichzeitig, durch ihre technischen Errungenschaften zu Weltruhm zu gelangen. Damals war man stolz darauf, im Atomsektor zu arbeiten. Schauen Sie sich diesen Zeitungsartikel aus der "Prawda" an, vom Juni 1954: Darin wird der Welt bekannt gegeben, dass in Russland ein Atomkraftwerk ans Netz gegangen ist. Wie viele Filme sind später darüber gedreht worden! Der Name der Stadt Obninsk wird in dem Artikel nicht erwähnt. Aber trotzdem haben hierzulande alle gewußt, dass es sich nur um diese eine Stadt handeln konnte, die in der Nähe von Moskau. ATMO SCHRITTE, QUATSCHEN Der Weg durch das Gebäude führt über Treppen, durch Gänge, an Kabinetts und Aufenthaltsräumen vorbei, und mündet schließlich in einem schmalen Korridor. Hier, sagt Uljanov, sollte man es vermeiden, die Wände zu berühren, damit keine radioaktiven Partikel an der Kleidung haften bleiben. Dann betritt er einen verglasten Raum, der - einer Theaterloge gleich - von oben den Blick in eine schummrige Gewerbehalle freigibt. Sie hat die Größe eines Schwimmbades. Darin herrscht ein Durcheinander aus Gerätschaften, Kabeln und Kränen: Der Rückbau ist in vollem Gange. Den Reaktor, sagt Uljanov, sieht man nicht. Er liegt darunter. Die Wände hier sind drei Meter dick, um den Reaktor zu schützen. Sehen Sie die dicken Schutzplatten, dort unten auf dem Hallenboden, wo jetzt die Container stehen? Darunter befindet sich der Reaktor. An der Wand hängen Kernbrennstäbe. Sie sind sechs Meter lang. Normalerweise enthalten sie Uran, aber diese hier sind Muster. ATMO SCHRITTE, UNTERHALTUNG Die letzte Station seiner Reaktorführung ist der Kontrollraum: Ein leerer Stuhl hinter dem Steuerpult lädt zum Platz nehmen ein. Von hier aus hat man - wie in einem Cockpit - den Überblick über Schalttafeln, Messgeräte und Hebel. Die Mitte des Steuerpults bildet ein großer, roter Knopf. Das ist die Abschaltung, sagt Uljanov, und weist auf ein Schwarzweißfoto an der Wand. Entstanden ist es im April 2002. Das war unsere letzte Schicht, alle Anwesenden waren Veteranen wie ich. Unser bekannter Physiker Lev Kotschekov hatte die Ehre, auf den Knopf zu drücken. Damit hat er den Reaktor heruntergefahren. Die nukleare Kettenreaktion stoppte. Unser Reaktor hatte aufgehört zu atmen, wie wir sagen. Und dieser Mann, hier auf dem Foto, das bin ich. Musik Sie wurden bewundert, und sie lebten privilegiert: Wer zu Sowjetzeiten in einer Geschlossenen Stadt wohnte, zählte zur Elite des Landes. Die sowjetischen Alltagsprobleme, die defizitäre Versorgungslage waren hier fern: Hinter den Mauern um die geschlossene Stadt gab es von Delikatessen bis zu Importmöbeln alles zu kaufen. Gesundheitsversorgung, Schulen und Kulturleben zählte zum Besten, was der Staat zu bieten hatte. Doch die Wissenschaftler und ihre Familien zahlten einen hohen Preis: Als staatliche Geheimnisträger mussten sie jeden Kontakt mit der Außenwelt abbrechen. Familienbesuche und Urlaube waren tabu - für viele ein Leben lang. Reportage 4 Laboratorium B (Snezhinsk) ATMO AUTOFAHRT, RADIO Dichte Wälder, wildwüchsige Sumpflandschaften, tiefblaue Seen: Wer die Millionen-Metropole Tscheljabinsk in Richtung Norden verlässt, dem zeigt sich der Ural von seiner schönsten Seite. Autostunde um Autostunde - ein scheinbar unberührtes Naturidyll. Nach 140 Kilometern, so ist der russischen Landkarte zu entnehmen, kommt Snezhinsk. Dass man als Nicht-Einwohner die Kleinstadt weder besuchen noch passieren darf, das sagt die Karte nicht: Snezhinsk ist "geschlossenes Territorium", und gehört zu Russlands wichtigsten Rüstungsstandorten. Wer einen der Bewohner treffen will, der muss sich außerhalb der streng bewachten Zone verabreden. German Lukaschin wartet direkt an der Landstraße: ein älterer Herr mit großer Brille und Baseballmütze. Behende läuft er zum Wagen herüber. ATMO AUTOTÜR Immer wenn ich die Grenzen meiner Stadt verlasse, kann ich leichter atmen. Ganz egal wo ich bin - ob in Jekaterinburg, Moskau, St. Petersburg oder in irgendeinem Dorf: Ich fühle mich wunderbar. Und wenn ich in Europa bin, dann ist es, als ob ich fliege: Der Druck ist einfach weg. Unter Lukaschins Führung geht die Fahrt weiter. Der Rentner will einen Vorort von Snezhinsk besuchen, den nur wenige kennen - bis heute. Und das, obwohl er Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat. Erst im Jahr 2010, berichtet Lukaschin, wurden hier die Absperrungen weggeräumt. Die Siedlung, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Codenamen: "Laboratorium B" trug, war in Wirklichkeit ein Internierungslager - für Nuklearforscher aus Russland und aus Deutschland. Die Landkarten verzeichnen diesen Ort erst seit kurzem. Nur über Google Earth kann man Genaueres erkennen, damit sieht man sogar die einzelnen Industriekomplexe. Ja, und per Navigator, per GPS, kann man den Ort finden. Lukaschin grinst. Er ist aufgewachsen in dieser Wissenschaftlersiedlung, die es zu Sowjetzeiten offiziell gar nicht gab. Das war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Später, erzählt er, hat er die Karriere gemacht, die den Kindern dieses Ortes vorgezeichnet war: Er wurde Nuklearphysiker und forschte für sowjetische Atombombenprogramme. Später aber wechselte er in einen Einsatzbereich, der seine Weltanschauung fundamental veränderte. Er arbeitete als Strahlenschutzbeauftragter in verschiedenen russischen Kernanlagen. Damals begann er neu über Radioaktivität nachzudenken - über die Gesundheitsschäden, die sie anrichten kann. Und auch darüber, sagt er, wie rücksichtslos die Staatsmacht ihre Bürger dieser Gefahr aussetzt. Seitdem schreibt Lukaschin Protestbriefe - an die Behörden, an den Präsidenten, an die Regierung, und an alle, die ihm nur einfallen. Viel verändert hat er damit bislang noch nicht. Vor der Windschutzscheibe lichten sich die Bäume. Der Wagen rollt durch eine kleine Siedlung. Viele der Häuser scheinen unbewohnt zu sein. An dieser Stelle hier war früher der Kontrollpunkt. Erst vor kurzem haben sie ihn entfernt. Hier bin ich aufgewachsen, und hier habe ich gewohnt bis 1957, bis ich 13 Jahre alt war. Das grüne Gebäude dahinten war meine Schule. Die habe ich besucht, bis ich in die 7. Klasse kam. Die Waldsiedlung liegt still in der Nachmittagssonne. Ein Mann hackt Holz; ein anderer schraubt an einem alten Motorrad. Ansonsten ist keine Menschenseele zu sehen. Lukaschin steigt aus dem Auto, er gestikuliert und redet. Zu jedem der doppelstöckigen Holzhäuser, der verschachtelten Backsteinkomplexe und der kleinen Hütten mit den herausgerissenen Fensterläden kennt er eine Geschichte. Sie sind einmal gebaut worden - das ist nicht zu übersehen -, um ihren Bewohnern jeden Komfort zu bieten, den sich das vom Weltkrieg ausgeblutete Land damals nur leisten konnte. Mit Zuckerbrot und Peitsche trieb damals Joseph Stalin sein Sowjetreich in den Rang einer Atombomben-Supermacht. Wie aber wirkt radioaktive Strahlung auf lebendige Zellen? Bekannte sowjetische Wissenschaftler wurden hier interniert, um diese Frage im Tierversuch zu beantworten. Einer von ihnen war der bekannte Genetiker Nikolaj Timofeev-Ressovksij. Unterstützung erhielten er und seine russischen Kollegen von namhaften Wissenschaftlern aus dem besiegten Deutschland. Karl Günther Zimmer, Hans-Joachim Born und Nikolaus Riehl waren nach Kriegsende von den sowjetischen Besatzern in Gewahrsam genommen, und zwangsweise nach Russland gebracht worden. Am Ural wurden sie zu Mitbegründern einer Wissenschaft, die sich heute Strahlenbiologie nennt. Ein lauschiger See, ein Schwimmbad, ein Klub, ein Kino, ein Theater - all das sollte die Wissenschaftler vergessen lassen, dass sie rund um die Uhr von Soldaten bewacht wurden. In diesem Landhaus hier hat Timofeev-Rissovskij gewohnt. Eigentlich war er 1925 nach Deutschland ausgewandert, doch 1945 haben ihn Stalins Schergen als Vaterlandsverräter zurückgeholt. Sie haben ihn in ein Straflager verschleppt, wo er so auszehrte, dass er fast erblindete. Und dann stellt sich heraus, dass die Sowjetunion Spezialisten wie ihn braucht. Zeitlebens konnte er nur noch mit einer starken Lupe lesen. Seine Bücher liegen bei mir auf dem Nachttisch. Tiefere Gedanken sind in der gesamten sowjetischen Epoche nicht geschrieben worden. ATMO VOGELPIEPSEN, UNTERHALTUNG, SCHRITTE Doch das Wettrüsten schritt mit unvorhergesehener Dynamik voran. 1957 wurde die Forschung im Laboratorium B jäh beendet: Die Nuklearwissenschaftler wurden in der Atombomben-Entwicklung gebraucht, da blieb für Strahlenforschung keine Zeit mehr. Die russischen Wissenschaftler und ihre Familien wurden in eine nahegelegene Stadt umgesiedelt, die hastig aus dem Boden gestampft worden war: das heutige Snezhinsk. Die deutschen Wissenschaftler durften in den darauffolgenden Jahren in ihre Heimat zurückkehren. Auf dem Heimweg ist Lukaschin schweigsam. Doch dann nähert sich der Wagen der Stadtgrenze von Snezhinsk: Schon von weitem ist der Schlagbaum zu sehen. Davor stehen bewaffnete Uniformierte mit Hunden. An dem Schild hier bitte anhalten: Stopp! Hier am Rand kann man parken. Anhalten jetzt! Stopp, Stopp! Sonst werden sie schießen, ohne Fragen zu stellen! German Lukaschin: Heute ist er Rentner. Er bezieht eine Pension, die für russische Verhältnisse ansehnlich ist. Was also hält ihn in Snezhinsk - in dieser Stadt, die all das verkörpert, was er an der russischen Staatsmacht kritisiert? Wer sein Leben lang im Gefängnis gesessen hat, der wird immer in sein Gefängnis zurückkehren. So geht es allen, die hier leben. Sie können mit ihrer Freiheit nichts anfangen, sie schauen die ganze Zeit auf den Lagerführer. Sogar bei meinen eigenen Söhne ist das so: Sie wollen hier leben. Sie wollen nicht reisen, sie wollen nichts sehen. Und ich frage mich manchmal selbst: Wie ist so etwas nur möglich? Man muss doch seinen eigenen Platz im Leben suchen! Musik Literatur 3 Ich denke, daß die Umstände im Objekt, seine einseitige Orientierung, auch die Nachbarschaft des Konzentrations-lagers und die Unmäßigkeiten des "Regimes" in psycho-logischer Hinsicht nicht wenig zu der Versenkung in die Arbeit beitrugen, die das Leben vieler von uns bestimmte. Wir sahen uns im Mittelpunkt einer gewaltigen Sache, für die kolossale Mittel zur Verfügung gestellt wurden und erkannten, daß unser Projekt die Menschen und das Land teuer zu stehen kam. Dies rief wohl bei vielen das Gefühl hervor, daß die Opfer und Schwierigkeiten nicht umsonst sein durften. (...) Dabei zweifelten wir nicht an der Wichtigkeit, der absoluten Lebensnotwendigkeit unserer Sache. Und es gab nichts Ablenkendes - alles andere war weit weg, hinter zwei Reihen Stacheldraht, außerhalb unserer Welt. Gewiß waren auch der sehr hohe Verdienst, die Regierungsauszeichnungen sowie andere Privilegien ein wesentliches, positives Element unserer Position. Jahre mußten vergehen, starke Erschütterungen mußten eintreten, bevor diese Haltung von neuen Einsichten durchdrungen wurde. Musik Das Wettrüsten, das keine Rücksicht auf Umwelt oder Anwohner nahm, hatte seinen Preis. Das Plutonium, mit dem die Sowjetunion ihre Waffen bestückte, wurde am Ural hergestellt - in der kerntechnischen Großanlage Mayak, rund 100 Kilometer nördlich der Millionenstadt Tscheljabinsk. Traurige Berühmtheit erlangte Mayak am 29. September 1957: an diesem Tag explodierte ein riesiger Betontank mit 80 Tonnen hochradioaktiver Flüssigkeit. Es war eine der ersten verheerenden Katastrophen in der Geschichte der Nukleartechnologie. Sie wurde über viele Jahre verschwiegen. Damals wurde bei diesem Unglück mehr Radioaktivität freigesetzt als beim GAU in Tschernobyl. Über 10.000 Menschen mussten evakuiert werden - viele starben. Bis heute sind weite Landstriche des Ural noch hochradioaktiv verseucht. Atmo Die Stadt Kyshtym (sprich: Osjorsk, zweite Silbe betont)ehr hergestellt. Doch immer noch zählt. ral - in Ier rke verarbeitet. hner ausweisen kann (sprich: Osjorsk, zweite Silbe betont)ehr hergestellt. Doch immer noch zählt. ral - in Ier rke verarbeitet. hner ausweisen kannallerdings, die der Katastrophe später ihren Namen gab, hat mit all dem nur wenig zu tun. Sie ist die nächstgelegene Stadt, die bereist werden kann. Sitz der kerntechnischen Unglücksanlage ist die 100.000- Einwohner- Stadt Ozersk. Reportage 5 ATMO KIRCHENTREPPEN RAUFSTEIGEN Der höchst gelegene Punkt von Kyshtym ist der Glockenturm der Kirche. Wenn man wie Nadjeschda Kutepova gute Kontakte zum Pfarrer hat, dann darf man hinauf. Oben zaust ein kräftiger Wind Nadjas lange Haare, und es eröffnet sich ein weiter Blick ins Land. Am Horizont, inmitten dichter Wälder, ist die Silhouette einer Stadt zu erkennen, die aussieht wie ein riesiges Industriegebiet: Ozersk, ein Hochsicherheitstrakt mit 100.000 Einwohnern. Als Ausländer darf man sich nicht einmal der Stadtgrenze nähern, denn Ozersk ist der Sitz der berühmt-berüchtigen Nuklearanlage Mayak. Nadja zeigt mit dem Finger in die Richtung: Das dort ist Ozersk, meine Heimatstadt. Von hier aus sieht sie aus wie eine Fata Morgana: Wie eine Insel liegt sie im Wald, mit einem großen See davor. Direkt am Ufer stehen drei Häuserblöcke. Und mitten drin ist mein Haus. ATMO WIND Nadja Kutepova ist eine hochgewachsene Frau Ende 30. Ihrer aufrechten Haltung ist anzusehen, dass sie früher als Fotomodell gearbeitet hat. Die Mutter von vier Kindern hat ihren Erstwohnsitz in Ozersk. Um Gäste von außerhalb empfangen zu können, hat sie eine Zweitwohnung in Kyshtym gekauft. Denn am Ural ist Nadja eine bekannte Menschenrechtlerin. In den vergangenen Jahren hat sie zahlreiche Gerichtsprozesse geführt - als Anwältin von Strahlenopfern, die nachzuweisen versuchten, dass die Ursache ihrer Erkrankungen in Mayak liegt. Und sie verteidigt die Rechte von Ozersk-Bewohnern, die sich durch die Behörden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen - durch alle Instanzen der russischen Gerichtsbarkeit hindurch, bis nach Straßburg. Auch ihre eigene Familiengeschichte ist von der Nuklearanlage geprägt. Meine Angehörigen und auch die meines Ex-Mannes haben in der Kernanlage Mayak gearbeitet. Mein Sohn hatte nach der Geburt an einer Hand den Ansatz für einen sechsten Finger. Gott sei Dank war er ohne Knochen, so dass er ohne große Probleme entfernt werden konnte. Darüber spreche ich nicht gerne. Mein Sohn hat bis heute keine Ahnung davon. Mein anderer Sohn leidet unter einer schweren Hautkrankheit. Darum will ich nicht, dass meine Kinder noch lange in Ozersk wohnen, und am Ende womöglich auch jemanden aus der Belegschaft von Mayak heiraten. Dann wären meine Enkel von allen Seiten genetisch vorbelastet. Und ihre Gesundheit wäre dann wohl noch schlechter als die meiner Kinder. Nadjas Großmutter, eine studierte Radiochemikerin, war 1949 mit ihrer Familie nach Ozersk gezogen. In der Nuklearanlage Mayak stellte sie Waffenplutonium für die sowjetischen Atombombenprogramme her. 16 Jahre später starb sie an Krebs. Als 1957 in Mayak ein Container mit Atommüll explodierte, verseuchte die radioaktive Wolke weite Landstriche des Ural. Nadjas Vater wurde für die Aufräumarbeiten eingeteilt. Auch er starb an Krebs. Seine Tochter, Nadjas Halbschwester, litt an einer Nervenkrankheit, auch sie starb jung. Solche Geschichten, sagt Nadja, können viele Einwohner von Ozersk erzählen - und trotzdem wohnen sie bis heute dort. Leute, die ein bestimmtes Gehaltsniveau erreicht haben, sorgen dafür, dass ihre Kinder aus Ozersk wegkommen. Aber viele andere verschließen die Augen und gehen in Deckung. Sie hoffen, dass alles Schlimme an ihnen vorübergeht, dass sie selbst keinen Krebs bekommen, dass die eigenen Kinder nicht krank werden. Und die ideologische Staatsmaschine sagt ihnen, was für Helden sie sind - dabei leben sie auf einer radioaktiven Müllhalde, und sie sterben wie die Fliegen. Ozersk ist ein Ort, an dem man die Leute nur festhalten kann, wenn man ihnen dauernd sagt: "Du bist ein Held, ein Held, ein Held!" ATMO AUTOTÜR / AUTOFAHRT Als Pendlerin verbringt Nadja viel Zeit in Bussen und Autos. Der Weg von Kyshtym nach Ozersk führt 13 Kilometer durch den Wald. Er endet vor einem blickdichten Zaun, vor dem Soldaten patrouillieren, erzählt Nadja. Doch bevor die Einwohner von Ozersk den Kontrollpunkt in ihre Heimatstadt im Auto oder Bus passieren dürfen, müssen sie aufwendige Zutrittskontrollen über sich ergehen lassen. Nicht selten kommt es vor, dass die Sicherheitsbeamten die Leute auffordern aus ihren Fahrzeugen auszusteigen. Sie müssen dann den Kontrollpunkt zu Fuß überqueren, und einzeln ihr Dokument vorzeigen, das sie als registrierte Ozersk-Einwohner ausweist. Das Absurde dabei ist, dass niemand weiß, wer aussteigen muss, und wer sitzen bleiben darf. Nun sind aber viele Leute müde und gereizt von einem langen Arbeitstag, deshalb kommt es immer wieder zu Konflikten. Gestern zum Beispiel kam der Kontrolleur in den Bus und sagte: "Wer keinen Sitzplatz hat: Aussteigen!" Zwei Fahrgäste weigerten sich. Da sagte der etwas übergewichtige Sicherheitsmann: "Solange nicht alle ausgestiegen sind, lasse ich den Bus nicht weiterfahren!". Die Leute regten sich maßlos auf, und schimpften: "Du Fettsack! Da haben sie dir gerade das Gehalt verdoppelt, und du machst immer noch solchen Quatsch". Das mit dem Gehalt ist bei uns aber ein wunder Punkt. Deshalb schrie der Kontrolleur zurück: "Wer ist hier an meinem Gehalt interessiert?". Nadja presst sich die Hände vor den Mund, und prustet durch die Finger. Das Kräfte zehrende Kontrollritual, das die Einwohner über sich ergehen lassen müssen, nur um in ihre Heimatstadt hineingelassen zu werden, zeigt hin und wieder auch seine komischen Seiten. Ich selbst saß mit meinen Kindern hinten im Bus: Ich stand auf und sagte: "Bitte herhören: Herr Kontrolleur! Ich bin die Menschenrechtsbeauftragte des Gebiets Tscheljabinsk. Wenn Sie von uns Bürgern verlangen, dass wir aussteigen sollen, dann sollten uns wenigstens den Gesetzesparagrafen nennen, der Sie dazu berechtigt." Im ganzen Bus war es plötzlich Mucksmäuschen still. Der Kontrolleur war so irritiert, dass er noch nicht einmal meinen Ausweis sehen wollte. Er machte sich davon, und die Fahrt konnte weitergehen. Im Bus fingen alle an zu reden und waren sichtlich erstaunt: "Der kennt die Rechtslage ja selbst nicht", murmelten sie. Und genau das ist der Trick: Sobald die Leute ihre Rechte erst einmal kennen, fordern sie sie auch ein. Musik Sie hörten Gesichter Europas: Hinterm Zaun - Russlands verbotene Städte. Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. Musik und Regie: Babette Michel. Die Literaturauszüge, aus Andrej Sacharows Biografie Mein Leben las Hans-Gerd Kilbinger. Ton und Technik: Anna D'hein und Christoph Rieseberg. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber. Musik ------- 1