COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel am 19.08.2007 ?Schwindelfrei zwischen Himmel und Erde ? Die Industriekletterer? Von Jantje Hannover Start: (gesamte Hallenstrecken sind mit Atmo unterlegt) 1.O-Ton/Atmo: 1 (35) what`s your name? Victor Nehmet hat 20, what is your familyname? nehmet that sounds like a tchek guy, (-)? yes thank you, welcome, my name is Tamas 15 läuft als Atmo weiter Ausgabe der Startnummern für den Dritten Industriekletterercup. Victor Nehmet aus Tschechien hat die 20 gezogen. Tamás Kriszán aus Ungarn ist der nächste in der Reihe. Hinter dem Klapptisch mit den kleinen zusammengefalteten Zetteln sitzt Holger Nawrocki und verbreitet gute Laune: 2. O-Ton: 2 Ey, hau rin Alter, dat wird ne Jute, ejj, zwölf Alter, Quersumme drei, Alter, das ist ne Glücksnummer, auf jeden Fall einstecken, 10 1. Atmo 2 (weiter ab oton) Insgesamt 28 Kletterer gehen heute an den Start, etwa die Hälfte sind Deutsche, die anderen stammen aus Russland, Tschechien, Ungarn und Norwegen. Mit ihren Blaumännern und Helmen sehen sie aus wie Bauarbeiter, die für ihre Lohntüte anstehen. Um die Hüften tragen sie breite Gürtel, an denen jede Menge Haken baumeln. Zwei weitere stabile Gurte verlaufen über die Schultern und um die Oberschenkel. Es ist ein kühler Morgen, aus einem großen roten Schlauchende bläst zaghaft Warmluft in die weitläufige Halle. Holger Nawrocki trägt eine Wollmütze auf dem Kopf: 3. O-Ton: 3 you have to take one number, one lucky number for you, is this one good? you have to feel, what is it? 22, come on, my name is björn, jaques 12 1. Atmo Die 22 als Glückszahl für Björn Jaques aus Norwegen. 4. O-Ton: 3, we say Schnapszahl in germany, do you know Schnapszahl? no . ist das Zufall, dass Tino die 28 hat und damit Letzter ist? du, die Letzten werden die Ersten sein, ist die Regel oder? (-) nowstaroj Begrüßung auf russisch 17 läuft als Atmo weiter 20 s Gleich sieben Kletterer sind heute aus Moskau dabei. Sie kommen alle von der Firma Professional, die junge Menschen für die verschiedensten Handwerksberufe ausbildet. Allein 700 Industriekletterer werden dort Jahr für Jahr zertifiziert. Nicht zuviel für eine Stadt wie Moskau, sagt Alexander Philippov. Denn Moskau ist eine Stadt mit vielen hohen Häusern.: 5. O-Ton: 111 russisch 112 (10) ca 22 s Übersetzung: Ich mach das jetzt seit 10 Jahren und bin heute Abteilungsleiter und Kletterer bei der Firma Pronalpex. Wir machen Höhenarbeiten an Hauswänden, an Glaswänden, zum Beispiel Malern oder Reinigen oder schwierige Montagen 1.Atmo Alexander Philippov war schon beim letzten Kletterercup dabei gewesen. Damals erreichte er den fünften Platz. Außer ihm und den Moskauer Kollegen sind noch drei Ungarn und zwei Tschechen nach Berlin gereist. Björn Jaques und seine beiden Kollegen aus Norwegen arbeiten zuhause auf Ölplattformen im Meer. Ums Gewinnen geht es ihm nur nebenbei: 6. O-Ton: 143 (50) meet people with the same interst, learn some new tricks, and have some real fun. (verlängern, deutsche Übersetzung geht in nächsten O-Ton über) Übersetzung: Ich will hier Leute treffen, die die gleichen Interessen haben, ein paar neue Tricks lernen und vor allem Spaß haben. 7. O-Ton 5 wünsche allen einen erfolgreichen Tag. Die Absperrung wird bitte nur von den Wettkämpfern betreten, (-), in der Halle ist auch absolutes Rauchverbot, aber ansonsten ist fast alles erlaubt, 2. Atmo 33 (10) Die Skaterhalle gehört zum ehemaligen Reichsbahngelände: ein alter Industriebau, von den Wänden blättert der Putz, dazwischen prangen grellbunte Graffitti. Mit ein paar Rampen und einer Halfpipe ist die Innenausstattung auf die Bedürfnisse von Skatern zugeschnitten. Die Decke ist niedriger als man es für ein Wettklettern erwarten würde, nicht mehr als acht Meter, eine durchschnittliche Turnhalle ist höher. Auf Deckenhöhe verlaufen große rostige Metallträger quer durch den Raum. Heute hängen hier die Seile der Industriekletterer. 8. O-Ton: 6 Ich glaube die ersten Starter haben es verdient, dass wir sie ein bisschen anfeuern, oder? Applaus, ( pfeifen, geklacker) 3. Atmo 6 (15) Die beiden ersten Kletterer haben sich an die Auftaktstation begeben. Startpunkt ist die sogenannte Schrägseilbahn, ein nach oben verlaufendes dickes Drahtseil. Es ist an der Hallendecke mit den Metallträgern verschnürt. 9. O-Ton: 16 Jetzt wird die Spannung natürlich höher, man weiß, man muss schnell dynamsich hochkommen, los geht?s, 3. Atmo, Applaus Auf los passiert erst einmal gar nichts ? zumindest für den Zuschauer. Denn die Kletterer müssen ihre Haken und Seilklemmen mit zwei Seilen verbinden: mit dem, an dem sie aufsteigen und dem Sicherungsseil. Während der eine dann mit kräftigen Armen und speziellen Stiefelklemmen in wenigen Sekunden oben ist, kämpft der zweite minutenlang mit der ungewohnten Schräge. Industriekletterer bewegen sich normalerweise nur von oben nach unten, erzählt Christoph Krah, einer der Wettkämpfer: 10. O-Ton 40 (30) Im industrieller bereich geht es meist ums Abseilen, um Zugang zu schaffen zu Platz, zu dem man gehen muss, meistens von oben nach unten. Es ist selten, dass man von unten aufsteigen muss. 3. Atmo Unter der Decke angekommen, müssen die Kletterer ?traversieren?: gemeint ist eine horizontale Vorwärtsbewegung über fünf Ankerpunkte. An jedem dieser Punkte müssen die Karabinerhaken neu befestigt werden. Zur Zeit kämpfen Sven Figutt aus Berlin und Dimitri Ukhin aus Moskau an den Seilen 11. O-Ton: 19 (30) Jetzt wird er das zweite Sicherungssystem einhängen, ins horizantale Seil, wird versuchen, was man bei Dimitri gut sehen kann, über die Ankerpunkte sich unter dem Träger fortzubewegen, ohne, wohlgemerkt, den Träger zu berühren, ich würd mich ja gleich festhalten, aber das ist nicht erlaubt und gibt bei den aufmerksamen Punktrichtern einen Punktabzug, 3.Atmo Nicht an der Decke festhalten, das ist nur eine von vielen Regeln beim dritten Industriekletterercup. Die wichtigste ist allerdings: das Sicherheitsseil muss zu jedem Zeitpunkt korrekt angeschlossen sein. Zwei Kampfrichter verfolgen mit in den Nacken gelegtem Kopf jede Bewegung. Atmo läuft aus Industrieklettern als Arbeitstechnik oder gar als Wettkampfsportart ist etwas relativ Neues. Vor etwa 25 Jahren begann man zum Beispiel in der DDR Gebäude und Werkhallen mit Seilen zu erklimmen. Kräne und Hebebühnen fehlten, und Not macht bekanntlich erfinderisch. Um die Ritzen an den ersten sanierungsbedürftigen Plattenbauten zu stopfen, machten sich ein paar Hobbyalpinisten ans Werk. Nicht nur in Ostdeutschland, wie Holger Nawrocki betont: 12. O-Ton: 62 (20) Auch Städte wie Prag und Warschau und Brünn sind restauriert worden, Krakau sehr stark auch durch Höhenarbeiter. Da waren dann Steinmetze, Fassadenrestauratoren, Stukkateure, haben alle aus dem Seil gearbeitet im Osten Die Industriekletterei als Errungenschaft des Sozialismus? Es ist vorstellbar, dass sich schon die Mönche im Mittelalter ins Seil geschwungen haben, um das lecke Dach ihrer Kathedrale zu flicken. Aber der aktuelle Boom bei der Fassadenkletterei hat seine Wurzeln eindeutig im Osten. In der DDR nannte man das Ganze sinnigerweise Technosport. Frank Seltenheim ist heute Geschäftsführer des Dachverbands der Industriekletterer, kurz FISAT genannt: 13. O-Ton: 145 (10) In der DDR, wo Höhenarbeiten, damals noch Technosport genannt, schon seit den 70er Jahren ausgeführt wurden, gab es in den 80ern eine Norm, eine TGL-Norm, wie das zu funktionieren hat. Nach der Wiedervereinigung wurde die ungültig. Dann war Arbeiten am Seil erstmal verboten , weil die Arbeitssicherheit in Deutschland vorsieht, (-) dass persönliche Schutzausrüstung ? wie bei uns der Fall - nur eingesetzt werden dürfen, wenn nichts anderes geht, Im Westen hatte man sich an Gerüste, Kräne und Hebebühnen gewöhnt. Und natürlich wähnten sich die Vertreter der Berufsgenossenschaft und das Baugewerbe aus der Bundesrepublik den Fassadenkletterern aus dem Osten um Längen voraus. Eine glatte Fehleinschätzung, wie sich schon bald herausstellen sollte. Dabei kam den Pionieren am Seil eher zufällig das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude zur Hilfe, erzählt Frank Seltenheim: 14. O-Ton: 147 das Initialereignis war die Reichstagsverhüllung. Da hat ja der Bundestag entschieden, 1994 dass Christo und Jeanne-Claude den Reichstag verhüllen dürfen. Und ein Teil des Konzepts war schon immer der Einsatz von Kletterern für die Montage von dem Gewebe und den Seilen. Da konnten sich die Berufsgenossenschaft und die Gewerbeaufsicht nicht hinstellen und das untersagen. Das ging nicht mehr, weil es ein Politikum war. Damals haben wir 90 Höhenarbeiter eingesetzt und mit der Gewerbeaufsicht (-) zusammen gearbeitet. Und dann haben die halt gesehen, dass das doch nicht so gefährlich ist´und dass das keine Spinner sind, die das ausführen. Ausgerechnet am Reichstag begann also der Siegeszug der ostdeutschen Industriekletterer in den Rest der Republik. Inzwischen gibt es diverse Firmen in Berlin, außerdem in München, Bremen, Hamburg, Leipzig, im Ruhgebiet und anderswo, die seilunterstützte Höhenarbeiten anbieten. Neben Russland ist heute Deutschland das Zentrum der Industriekletterei. Auch Knut Foppe, ein Kletterer aus dem Westteil der Stadt, war dabei, als der Reichstag verhüllt wurde: 15. O-Ton: 129 (20) wir haben dann den Fachverband gegründet, und in mühevoller Kleinarbeit über die Jahre erreicht, dass es ein legales und anerkanntes Verfahren ist und auch ein sicheres. Es ist im Vergleich zu Gerüsten und anderen Methoden deutlich sicherer und flexibler. Es gibt ca 3000 Anwender in Deutschland, die ganz unterschiedliche Sachen machen. Industrieklettern darf inzwischen nur noch, wer an einer vom Dachverband FISAT zertifizierten Ausbildung teilgenommen und sie auch bestanden hat. Danach eröffnen sich ihm oder ihr zahlreiche Arbeitsplätze: Höhenarbeiter hängen zum Beispiel riesige Werbetafeln an hohe Gebäude. Oder sie putzen Fenster. Auch die Glasplatten auf dem Dach des Berliner Hauptbahnhofs wurden von Industriekletterern montiert. Eines der wichtigsten Einsatzgebiete sind Windräder. 18 500 gibt es davon zur Zeit allein in Deutschland, alle zwei Jahre müssen sie gewartet und kontrolliert werden. Knut Foppe betreibt inzwischen eine eigene Firma: 16. O-Ton: 131 (25) Wo wir schon überall waren, Riesengebäude, geplant, wunderbar, man muss heute eigentlich, wenn man ein Gebäude baut, auch Wartung und Reinigung planen, und trotzdem kommen wir zum Einsatz, weil vergessen wird, dass es Bereiche gibt, wo man nicht hinkommt, das ist so - die Feuerwehr am seil, sag ich mal. 132 viele denken, das ist eine primitiv Technik. Wir brauchen keinen Computer, keine Maschine. (-) Die Seilzugangstechnik, die Ursprünge sieht man im Segelsport, da kommen die Knoten her, man sieht es in der Bergsteigerei. Das empfinde ich als Anachronismus: ein Gebäude für viele Millionen, alles elektronisch, und dann hängen da zwei, drei Industriekletterer. aber das ist, was uns uns Spaß macht, es ist eine besondere Arbeit, nach all den Jahren, die ich das schon mache, genieße ich es immer noch, auf die Stadt runterzugucken, (-) es macht einfach Spaß Deutsche Industriekletterer sind international gefragt. Holger Nawrocki sendet mit seiner Firma Fachkräfte in alle Länder der Erde: 17. O-Ton: 91 (20) wir waren letzten Dezember in Dubai und haben für den Scheich dort ein Gebäude verhüllt, wir haben (-) 10 000 qm Plane um das Haus gewickelt (-) unter schwierigen Witterungsbedingungen innerhalb von drei Tagen verpackt (-) Wir machen nicht nur Außenwerbung, sondern auch viele Kunstprojekte, haben für Olaf Eliason einen Lichtvorhang an den Pallazzo Grassi gehängt, in Venedig, über dem Canale Grande. (-) Wir haben im letzten Jahr die Kuppel des Fernsehturms zu einem Fußball umgestaltet, in 260 Höhenmetern mit tausenden von Einzelteilen, Klebeteilen, Architektenleistung usw. Zur Zeit profitieren die Industriekletterer noch davon, dass es nicht so viele von ihnen gibt. Die Löhne sind deutlich höher, als der Tariflohn in den meisten Handwerksberufen. Für selbstständige Kletterer mit handwerklicher Ausbildung beginnen sie bei 19 Euro in der Stunde. Bei besonderen Einsätzen können gute Leute bis zu 40 Euro verdienen. Für den Kunden ist es trotzdem in den meisten Fällen billiger als der Tagessatz für einen Kran. Die erste Industriekletterergeneration der Nachwendezeit ist inzwischen um die 40 Jahre alt. Viele sind heute Firmenchefs, sie hängen nur noch selten im Seil, stattdessen leiten sie Baustellen und koordinieren und planen Aufträge. 3.Atmo Zum Beispiel Christoph Krah aus München, der sich auf den Verkauf von Seiltechnik spezialisiert hat. Es ist mutig, dass er beim Cup dabei ist, obwohl er nicht mehr viel Praxis hat. 18 O-Ton: 18 Christoph ist oben bei der 1b, ist umgestiegen in die vertikale Seilstrecke, man sieht es gut, es sind zwei Sicherungsgeräte, zwei Seilverbindungen, das bezeichnen wir mit Redundanz, damit, falls ein Tragsystem versagt, man immer ins andere fallen kann. Das macht das seilunterstützte Höhenarbeiten zu einem sehr sicheren Arbeitsverfahren, das sicherste, das es im Höhenzugang gibt in Deutschland. 4. Atmo 18 (25) Musik und Ansage Die hohen Sicherheitsanforderungen, die auch auf dem Cup ständig gewährleistet sein müssen, gehen auf Kosten von Geschwindigkeit. Der Seilparcours für die erste Station umfasst ein eher kleines Areal, etwa von der Größe eines Wohnzimmers, bloß in der Höhe sind es ein paar Meter mehr. Die besten Kletterer durchlaufen diese Strecke in etwa fünf Minuten, die langsameren brauchen bis zu einer halben Stunde und mehr. Es fehlt ein bisschen die sonst im Sport übliche Spannung, das Kopf-an-Kopf-Rennen, das Zittern um die letzten Zentimeter vor dem Ziel. 19. O-Ton: 21 (1.10) Während Christof noch ein bisschen kämpfen muss, bleibt für mich Zeit mal ein paar Zwischenstände durchzugeben, damit ihr wisst, wie lange die Kletterer alle brauchen. 22 Die Startnummer eins war Sergej Kutzjetznow aus Moskau hat gebraucht 9min, 55 Sekunden, Alexander Philipov, auch aus Moskau hat gebraucht 5.17, hallo hallo, das ist eine ganz super Zeit. Dann Sven Vigutt aus Berlin von den Airworkern hat 14 Minuten 57 gebraucht Ohne die Erklärungen des Moderators können die Zuschauer kaum nachvollziehen, was genau geschieht. Da hängen zwei Leute in unterschiedlicher Höhe unter der Decke. Beide haben einen Wust von Karabinerhaken um die Hüfte geschnallt, die sie nun an unterschiedlichen Seilen zu platzieren suchen. Vorwärts geht es nur langsam, die meisten sitzen irgendwo fest und schrauben. 20. O-Ton: 34 Das ist wie bei der Formel 1 , auf den geraden Strecken kann man ein bisschen Zeit gutmachen und dann in der Kurve, wo sie sich gerade befinden, muss man natürlich schalten, Kupplung treten und weiterfahren, musik bleibt stehen Es bedarf schon ein wenig guten Willen, um Parallelen zur Formel Eins auszumachen. Auf dem Cup erweisen sich die Industriekletterer doch mehr als gute Mechaniker denn als Sportler. Knut Foppe: 21. O-Ton Foppe: 63 (30) Der eine bringt gute körperliche Voraussetzungen mit oder hat technisch viel Erfahrung, da geht irgendwann die Schere auf, das ist klar. Aber jeder, der hier heute durchkommt, hat Respekt verdient. Auf der Baustelle ist das nicht so schwer. (-) Meistens haben wir Situationen, wo wir uns abseilen, dann haben wir horizontale Fortbewegung. Und hier ist das eine Kombination aus allem. Wir haben Schrägseil, horizontal, wir haben abseilen, aufsteigen, Punkt zu Punkt traversieren, Knoten überfahren ? also das ist so das Horrorszenario Diesem ?Horrorszenario? zum Trotz ? wer als Zuschauer Sport und Spannung sucht, kommt bei einem echten Arbeitseinsatz unter Umständen eher auf seine Kosten. Zum Beispiel, wenn ein Kletterer in atemberaubender Höhe mit den Füßen auf der Hauswand waagerecht in der Luft steht, und sich dann mit federnden Sprüngen nach unten seilt. Gute Industriekletterer sind sportliche Typen, findet Holger Nawrocki. Er selbst spielt neben dem Klettern auch Fußball und Beachvolleyball: 22. O-Ton: 78 Jemand, der einfach nur ins Seil plumpst, unsportlich, undynamisch, ist kein guter Industriekletterer. Jemand, der sich gut bewegen kann, der eine gute Körperbeherrschung hat, der weiß wie er seinen Körper einsetzen kann, wie er ihn drehen kann, um an einen Punkt zu kommen, ist als Industriekletterer viel fähiger, neben dem Fachgewerk, das er braucht, (-) als jemand der nie Sport gemacht hat. (50) Wenn man über die Dachkante geht, 79 kann man sich taub rüberrutschen lassen, aber man kann auch drüber steigen. Man kann in einem dynamischem Prozess die Füße dynamisch an die Wand legen und damit auch sehr wenig Schäden verursachen. (-) Und man ist auch schneller, wesentlich schneller. 5. Atmo 7 (30) lkw raus Das kann Holger Nawrocki auf einer Baustelle am Auswärtige Amt in Berlin unter Beweis stellen. Als Chef der Firma Nawrocki Alpin hängt er heute selbst im Seil. Eine große blaue Schleife mit zwei Schärpen, auf denen die EU-Flagge und die Fahnen der einzelnen Mitgliedsstaaten prangen, muss abgebaut werden. Denn die deutsche EU- Ratspräsidentschaft ist abgelaufen. Um vier Uhr morgens haben Holger und zwei weitere Kletterer begonnen, die Baustelle für ihre Seiltechnik zu erschließen. Dabei müssen zuerst die Seile platziert werden: 23 O-Ton: 16 (50) Aufs Dach sind wir mit dem Fahrstuhl gekommen, (1.05) da sind Sekuranten oben druff, (-) die sind extra gebaut, dass die Leute bei den Dacharbeiten sich sichern können. (40) das dauert halt alles da oben, das ist ja nicht wie auf dem Erdboden, du musst dich ja von A nach B bewegen, immer auf den Trägern lang, immer doppelt sichern. 16 (10) Wir haben erst die Schleife oben abgebaut, die war mit tausend Stricken befestigt, damit der Wind die nicht wegnimmt. 5. Atmo Das Auswärtigen Amt hat eine Glasfassade, die nach innen versetzt ist. Das Dach wird von drei steinernen Säulen getragen und steht etwa zwei Meter über. Die Kletterer können sich nicht von oben runterlassen, sondern müssen von unten aufsteigen. Aufsteigen kostet Kraft. Die Industriekletterer klemmen dafür eine Fußschlaufe ins Seil, die sie nach jedem Schritt weiter oben positionieren müssen. 5. Atmo hoch Die blaue EU-Schleife war auf ein Stahlgerüst montiert, das mit Manschetten an den drei Säulen vor der Glasfassade befestigt war. Holger und Thilo sitzen jetzt knapp 15 Meter über dem Erdboden auf der Stahlkonstruktion. Die Schleife ist schon runter, bloß die Schärpen hängen noch. Thilo lässt sich jetzt langsam nach unten gleiten und trennt den Klettverschluss der Schärpe, bis sie herunterfällt. 6. Atmo Schärpe fällt 10 (20) Jetzt muss das Stahlgerüst demontiert werden, das ist der wirklich schwierige Teil des Auftrags. Weil die einzelen Stahlträger bis zu 400 Kilo wiegen, ist heute ein Kran mit auf der Baustelle. Die Kletterer lösen die Schrauben und Vertäuungen. Dabei kommt auch die Flex zum Einsatz, in 20 Metern Höhe sprühen die Funken. Am Boden diskutieren derweil Kranführer und Bauleiter, wie man die einzelen Teile herunterlässt, ohne dass eines in die Glasfassade donnert: 24 O-Ton: 25 (klackern) (15) immer hinter Dinger einhängen, hast du so lange Schlüpfe, ja, ich kann ja noch ne Kette zwischen hängen, wär mir am liebsten, 7. Atmo 43 (25) Kran Endlich ist der letzte Stahlträger gelöst und mit dem Haken des Krans vertäut. Majestätisch schwingend gleitet das schwere Teil zum Boden. 8. Atmo Dach 2 ende, 3 20s Ein paar Kilometer weiter westlich. Lüer Witt von der Firma Seilpartner montiert zur Zeit mit seinem Partner ein Netz auf der direkt unter dem Dach gelegenen Außenbrüstung des Hotels Sylter Hof. Das Gebäude hat 17 Stockwerke, das Dach ist flach und durch eine Tür leicht zu erreichen: 25 O-Ton: 11 Wir sind jetzt oben auf den Dach des Hotels, hier sind die eigentlichen Anschlagpunkte, hier unten haben wir Sekuranten, (-) die haben eine Mindestbruchlast von einer Tonne. (-) Weiter oben ist eine Stahlkonstruktion, wo die Hotelwerbung drauf ist, die ist so massiv, da kann ich davon ausgehen, das ist ein Erfahrungswert, dass die mehrere Tonnen hält, deswegen hab ich da noch mal (-) meine Seile angeschlagen. 2 klackern, Das wichtigste ist immer, zuerst das Sicherheitssystem einzubauen, (-) mal kurz getestet ob alle Karabiner zu sind, Zigarette aus. (-) Und das Schöne an dem Job eigentlich ist, man hat seine Ruhe, weil wir dorthin gehen, wo sich keiner hintraut, atmo weiterlaufen Lüer Witt steigt über die Kante 26 O-Ton: 13 Das ist der geilste Arbeitsplatz den es gibt in Berlin, also überhaupt 5 (15) wenn man hier draußen hängt, normalerweise konzentriert man sich auf seine Arbeit, aber man sieht die Stadt aus einer Perspektive, die sonst keiner hat, Auch wenn das Arbeiten an hohen Wänden an Regen- oder stürmischen Tagen kein reines Vergnügen ist, scheinen die meisten Industriekletterer ihren Job zu lieben. Dabei ist es extrem hart ist, eine Bohrmaschine in eine Außenwand zu treiben, während man frei im Seil hängt und immer wieder nach hinten weggleitet. Höhenarbeitsplätze am Seil sehen spektakulär und gefährlich aus. In Wirklichkeit arbeitet man hier aber deutlich sicherer als beispielsweise auf einem Gerüst, wo es immer wieder zu tödlichen Unfällen kommt. Seilarbeiter haben keine Angst, sagt Frank Seltenheim. 27 O-Ton: 158 (10) Angst hat nur was beim Sport zu suche, beim Arbeiten gibt es keine Angst. (-) Man macht den Job ja für Geld und nicht, um sich einen Kick zu holen. 160 (20) Seilunterstützte Zugangs- und Positionierungsverfahren richten sich nach strengen Regeln, da gibt?s Regeln für Ausbildung, da gibt?s die Baustellenverordnung, (-) da muss im Vorfeld jedes erkennbare Risiko ausgeschlossenwerden. 158 (40) Wer da Angst hat, hat irgendwas falsch gemacht. Wer Windräder wartet oder Kirchturmdächer flickt, will sich dabei konzentrieren können. Die Höhe und das Klettern an sich sind nur Mittel zum Zweck. Trotzdem kommen die meisten Industriekletterer aus dem Sport. Dass sie mit ihrem liebsten Hobby auch Geld verdienen können, dämmerte den meisten erst später. Wie Frank Seltenheim und Holger Nawrocki, die das Klettern als Jugendliche im Elbsandsteingebirge gelernt haben. Aber auch damals ging es ihnen nicht nur um den Sport: 28 O-Ton: 65 (25) Für mich war das eine Nische, (-) wo man eine gewisse Freiheit hatte, die die Gesellschaft so nicht gewährleistet hat. Im Wald und in der Höhle, wo man geschlafen hat, gab es keine Pionierversamlung, und keine FDJ- Versammlung und kein Partielehrjahr. Da hat man sich getroffen mit Freunden, war ein bisschen der Outlaw, logischerweise, wenn man nach drei Tagen verdreckt aus dem Wald rausgekommen ist, haben die (-) in der HO-gaststätte auch komisch geguckt. (-) Wir waren auch alle ein bisschen Hippies, haben die Haare nicht geschnitten und waren auf Rebellion eingestimmt. Und Rebellion macht man nach Robin Hood besser im Wald als auf der Hauptstraße. Der freiheitsliebende, unabhängige Geist zieht sich wie ein roter Faden durch die Industriekletterszene von heute. Aus den selbsternannten Rebellen wurden Menschen, die 100 Meter über der Stadt schweben und auf die Goldelse oder Westminster Abbey herabblicken. Die Felsen in der sächsischen Schweiz waren seinerzeit gute Lehrmeister. 29 O-Ton: 85 Das ist Sandstein, wie der Name schon sagt, und damit ist es sehr brüchig und krisselig, man hat nicht eine klare Fläche. Man darf auch bestimmte Hilfsmittel nicht benutzen, wie Friends, Keile, Magnesia, um die Hände trocken zu kriegen. (-), wenn du also kurz unter den Ringen nicht mehr weiter weißt und einen Fehler machst, dann fallst du nach unten, kann sein, dass du dich schwer verletzt oder sogar schon tot bist. (-) viele, die im Granit klettern, wo alles sehr fest ist und sie ihre Regeln kennen, kriegen im Sandstein Panikattacken. Im Vergleich dazu scheint es für einen angeseilten Industriekletterer auf der Gondel am Fernsehturm geradezu gemütlich zuzugehen. Um so mehr, weil Industriekletterer immer nur zu zweit auf einer Baustellen arbeiten dürfen. Sollte einer sich verletzen oder ohnmächtig werden, kann der andere ihn retten, auch das gehört zur Ausbildung. Inzwischen entdecken auch immer mehr Gärtner die Seiltechnik zum Arbeiten an Bäumen. Olaf Sukrow ist Fachagrarwirt für Baumpflege: 30 O-Ton: 105 man muss, um gute Baumpflege zu machen, sogar sehr gut klettern können. Jemand der nicht gut klettert, der im stammnahen Bereich bleibt und mit einer Stangensäge arbeitet, kann nur unpräzise Schnitte machen. Der kann zum Beispiel nicht eine Krone oder langen Ast auf seine Bruchsicherheit beurteilen, dazu muss man die Fähigkeit haben, weit rauszuklettern, unterstützt mit dem Seil. 9. Atmo sägen 95 Olaf Sukrow hat die Seiltechnik schon vor der Wende in England gelernt und später seine eigene Firma gegründet. Heute steht er im Garten einer schönen Gründerzeitvilla in Berlin-Zehlendorf und legt den Kopf in den Nacken. Seine Kollegen arbeiten bereits in den kleineren Bäumen. Mit fachmännischem Blick prüft der Chef die Tragfähigkeit der Äste einer etwa 20 Meter hohen Kiefer. Dann rollt er eine Wäscheleine von einer kleinen Kabeltrommel: 31 O-Ton: 110 Der Aufstieg in den Baum beginnt damit, dass ich erstmal eine Wurfschnur ausrolle und mit einem bleigefüllten Säckchen in den Baum hochschleudere, durch eine Astgabel meines Vertrauens und damit mein Aufstiegsseil einbaue. atmo weiterlaufen Die untersten Äste der Kiefer liegen in 12 ? 15 Metern Höhe: 32 O-Ton: 111 (20) Da ist für Leute, die die Wurftechnik nicht kennen oder nicht können, ziemlich schwierig da hochzukommen 112 (1.10) Manchmal klappt es beim ersten mal, manchmal braucht es einige Versuche (Atmo Säge bei 111 (0)) 9. Atmo Zehn Versuche später ist das Bleisäckchen über die richtige Astgabel geflogen und hat dabei die Wäscheleine mitgenommen. Jetzt kann Olaf Sukrow sein Seil an der Wäscheleine befestigen und hochziehen. Der Aufstieg kann beginnen. Ein zweites kürzeres Seil wird um den Stamm gebunden, wenn er oben ist. Während Olaf Sukrow auf den dicken Ästen entlangbalanciert und tote Äste heraussägt, nährt sich der Industriekletterer ?Wettbewerb in der Skaterhalle in Berlin-Friedrichshain einem neuen Höhepunkt. 33 O-Ton: 56 So jetzt mal Applaus für die erste angekommene Frau an der Station eins, das ist Anna Dudek, Super Respekt, (-) 3. Atmo in 34. Ton übergehen Zwei Frauen sind heute beim Cup mit dabei, unter insgesamt 28 Startern. Am Seil ist die 22jährige mit den braunen Locken nicht als Frau zu erkennen. Wie alle anderen auch trägt sie einen weitgeschnittenen Arbeitsanzug, Helm und einen stabilen Gürtel um die Hüften, an dem diverse Karabinerhaken baumeln. Anna Dudek ist noch neu im Geschäft und hat den ersten Seilparcours in etwas mehr als zehn Minuten geschafft. Nicht schlecht für eine Anfängerin. Trotzdem ist sie unzufrieden mit ihrer Leistung : 34 O-Ton: 57 In der Aufregung hab ich mich natürlich verbaut, - aber du warst doch superschnell - ich glaub gerade deswegen, wenn man aufgeregt ist, dann macht man Fehler, die man sonst nicht machen würde. Ich hatte einen offenen Karabiner (-) hier hab ich mich einmal verbaut. Ich hatte halt die kurze Verbindung hergestellt zur Handsteigklemme, um über den Knoten rüberzukommen, und dann hing ich da halt drin und kam nicht raus, dann musste ich mich erst mal noch in die Bruststeigklemme zwischenhängen und dann so : Hilfe, Hilfe, was hab ich denn jetzt gemacht. weiterlaufen Für den offenen Karabiner an ihrem zweiten Seil wurden ihr zwei Strafminuten auf ihre Zeit draufgeschlagen. Anna läuft zur Zeit mit einer Krücke herum. Ein Hund hat sie vor ein paar Tagen in den Oberschenkel gebissen, da hatte sie sich schon zum Cup angemeldet. Klettern kann sie trotzdem. Anna Dudek hat im Bühnenbau für Festivals gearbeitet, bevor sie sich als Industriekletterin weitergebildet hat: 35 O-Ton: 70 (20) wenn ich in der Höhe arbeite, hat kein Gedanke außerhalb dessen, was ich gerade tue oder was ich als nächstes tue, Platz in meinem Kopf. 71 (30) weil man auch weiß, wenn man da oben einen fehler macht, tut es halt mehr weh als auf einem Bürostuhl, auch wenn die meisten Unfälle im Haushalt passieren 70 (25) Ich bin voll da, wo ich jetzt gerade bin und ich finde, das ist ein schöner geistiger Zustand. 36 O-Ton; 133 (10) Wie üblich, ladies first, (-)die wollen wir noch mal extra würdigen 134 trotz später Anmeldung und noch späterer Verletzung hat sich sehr wacker geschlagen und bei den Damen gewonnen: die Anna Dudek, klatschen weiterlaufen 10. Atmo 137 Es ist nachmittag geworden in der Skaterhalle in Berlin. Alle Kletterer haben sich zur Siegerehrung neben dem Parcours aufgestellt. Zwei Ungarn sind unter den ersten fünf, außerdem Björn Jaques aus Norwegen. 38 O-Ton: 143 I got the 5th place, I am very happy Obwohl heute fast jeder zweite Teilnehmer aus Deutschland kommt, befindet sich unter den besten nur ein Deutscher. Mit einer Gesamtzeit von knapp über acht Minuten und damit mehr als drei Minuten vor Knut Foppe, dem Zweitplatzierten, geht der erste Platz an Alexander Philippov aus Moskau. 40 O-Ton: 137 (40) Alexander Philippov aus Moskau, richtig lauter applaus Knut Foppe, der Sieger vom letzten Jahr, hat mit dem zweiten Platz immerhin die deutsche Ehre gerettet. Aber nächstes Jahr wollen er und die anderen Berliner sich besser vorbereiten: 39 O-Ton: 119 (30) das war deutlich zu sehen, die haben trainiert. (-) Da werden wir fürs nächste Jahr drüber nachdenken, weil wir hätten den Pokal natürlich schon gern in Deutschland, oder in Berlin. 17