COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel Karfreitag, 06.04.2012 Tore für Kartoffeln Warum es nach dem Krieg im kleinen Rutesheim für Schalke 04 am schönsten war Autorin: Erika Harzer MANUSKRIPT Manfred Hettler: Zunächst einmal war das für mich gar nicht glaubhaft, und ich hab gedacht, ich werd ein bisschen auf den Arm genommen als Kind, ja. Die Schalker kommen nach Rutesheim. Das war für mich absolut undenkbar ja, weil, die hat man ja angehimmelt, und die hat man nur aus der Entfernung gekannt. Das waren ja so Säulenheilige eigentlich. Und jetzt ist da plötzlich möglich, dass die nach Rutesheim kommen. Kurt Illeson: Es war ein Zirkus, es war beinahe ein Volksaufstand, weil so etwas gab es einfach noch nie in dem Bauerndorf. Da waren wir eben ein Gesprächsthema im ganzen Flecken, im ganzen Dorf. Ja, wann war das? 1946. Und da waren wir gespannt, haben wir natürlich gewartet und geguckt, und was machen die, und wie sind die angezogen, und was bringen die für einen Ball mit, weil wir haben ja keinen gescheiten Ball gehabt, die haben müssen den Ball mitbringen, gell. Autorin: Rutesheim im Sommer 1946 - Ein schwäbisches Dorf im Fußballtaumel Aus der Stuttgarter Zeitung vom 27.07.1946: Zitator: Die Nachwuchself von Schalke 04, die als beste Jugendelf Westdeutschlands und oftmaliger Turniersieger bekannt ist und die das Reservoir für die Ligamannschaft von Schalke bildet, wird eine süddeutsche Spielreise ... beginnen. Die von Szepan und Kuzorra betreuten Schalke-Jugendlichen werden sicher auf die Freunde guten Fußballs, der auch im Jugendsport aktiven Mannschaften nicht nachsteht, eine große Anziehungskraft ausüben. Werner Schellhase: Rutesheim, ja das war eine schöne Zeit, muss ich sagen. Da bekamen wir die ersten Spätzle, da gab es Spätzle mit Schweinefleisch und Gurkensalat. Da bekam jeder so eine Platte und ich muss sagen, das war sehr anständig. Autorin: Werner Schellhase, aus Gelsenkirchen. Damals 17 fuhr er mit der Schalker Jugend durch die württembergischen Städte und Dörfer. Kurt Illeson: Das bekannt worden ist, dass eben Schalke kommt - zunächst waren wir alle sprachlos. Da haben wir gesagt, so ähnlich etwa: Mit was haben wir das verdient. Und das ist ja wahnsinnig, und das war für uns eigentlich gar nicht vorstellbar, denn Schalke war eben ein Begriff vom Fußball her. Autorin: 17 war auch Kurt Illeson, der das Tor der Rutesheimer hütete in jenem Sommer 1946. Er und Werner Schellhase gehörten zu der Generation Jugendlicher, die noch vor Kriegsende eingezogen wurden, um im Reichsarbeitsdienst oder im Volkssturm noch zu retten und zu verteidigen, was längst verloren war. Beide hatten Glück. Sie überlebten. Landeten aber in Gefangenschaft. Kurt Illeson: Ja ich war in dieser Form im Krieg, als dass ich noch eingezogen wurde und zwar zum Reichsarbeitsdienst. Aber es war mit Spaten und so nichts mehr los, sondern wir hatten gleich tschechische Gewehre und wurden daran ausgebildet sind dann auf dem Rückmarsch quer durch Süddeutschland marschiert, jede Nacht, so um circa 50 km und sind letztlich dann im Allgäu bei Wertach in amerikanische Gefangenschaft geraten. Da war ich noch keine 17. Autorin: Nach 3 Monaten Gefangenschaft wurde Kurt Illeson entlassen. Der Krieg war zu Ende. Er kehrte zurück nach Rutesheim, zu seinen Eltern und den fünf Geschwistern. Das Haus der Familie war unversehrt, wie die meisten Häuser im Ort. Nur an der Pforzheimer Strasse gab es ein paar eingestürzte und abgebrannte Gebäude und Scheunen. Rutesheim war, wie so viele schwäbische Bauerndörfer, von direkten Kriegshandlungen nur am Rande betroffen. Ein paar Bombenabwürfe über dem Wald hatte es gegeben und in der Nähe der Festhalle, als dort deutsche Soldaten einquartiert waren, das war alles. 9 Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Jetzt, nach Kriegsende, wurde aufgeräumt, wurden die Strassen vom Schutt entsorgt. Man wählte neue Vertreter in den Gemeinderat und suchte den politischen Neuanfang. Erst unter französischer, dann unter amerikanischer Verwaltung. Kurt Illeson: Schule war noch nicht. Arbeit gab es keine. Zu dieser Zeit kam nahezu jeden Tag irgendeiner vom Dorf aus der Gefangenschaft zurück. Der Treffpunkt war an der Adlerecke, und wir haben uns dort immer gefreut, wenn wieder einer kam, weil der brachte meistens Tabak oder Zigaretten noch mit, weil er das entweder von der amerikanischen Gefangenschaft oder französischen oder was auch immer und dann wurde da Zigaretten gedreht und geschwätzt und gemacht und getan. Autorin: Überall herrschte Mangel. Die Menschen mussten auf engstem Raum zusammen wohnen. Man hatte ja die Familien der ausgebombten und ausgebrannten Häuser unterbringen müssen. Im Juni 1946 kamen dann die ersten Flüchtlinge aus dem Osten. Für knapp 500 weitere Menschen musste im Dorf Platz geschaffen werden. Alles war eng, alles war knapp. Gleichzeitig herrschte Hunger nach Leben, Bewegungsdrang, man wollte den Krieg vergessen. Kurt Illeson: Jeder ist gefragt worden, das erste war: Hast du einen Ball daheim noch. Ja, okay dann pumpen wir ihn auf und probieren. Und dann hat man es auseinander genommen und geflickt und gemacht und mit dem Fahrradschlauch hat man geflickt, so haben wir auch den Ball geflickt, gell und na also mit den größten Gurken, wo man sich bloß hat vorstellen können, haben wir dann gekickt. Autorin: Die Fußball Clubs kämpften schon wieder um die Nachkriegs-Meisterschaften. Der VfB und die Stuttgarter Kickers waren die ersten Stuttgarter Vereine, die im Oktober 1945 von der damaligen amerikanischen Militärregierung anerkannt wurden. Und auch in den Dörfern wollten die Jugendlichen Fußball spielen. In Rutesheim war es die SKV, die Sport- und Kulturvereinigung, die nach dem Krieg gegründet wurde. Fußballkreis-Jugendleiter war Albert Harzer. Er war es auch, der die verrückte Idee hatte, die Jugend des mehrmaligen deutschen Meisters Schalke 04 für ein Freundschaftsspiel nach Rutesheim zu holen. Hedwig Harzer: Er war Kreis-Jugendleiter dort, und da hat er halt das angeführt beim Verein, er täte die Schalker einladen, und die haben dann zugesagt, aber da hat man müssen Essensmarken sammeln, und die haben dann freie Kost gehabt. Autorin: Die 96jährige Hedwig Harzer wohnt "im Kalk" - am Stadtrand von Rutesheim - in einem Dreifamilienhaus. Die beiden Etagen über ihr gehören den Familien ihrer Söhne. Der Umbau war grad fertig vor gut 30 Jahren, da starb ihr Mann. Seither lebt sie allein. In der wohnlichen Stube stehen Bilder von den Kindern und den Enkeln, der Fernseher, ein Sofa für Gäste und der Fernsehsessel, ihr wichtigstes Möbelstück. Da kann sie sich ausruhen, kann sie die Beine hochlegen, dort liest sie und schaut aus dem Fenster. Und wenn die Enkel oder andere Leute sie fragen, erzählt sie gern Geschichten aus ihrem Leben. Manchmal steht sie dann auf und geht zu dem langen massiven Wohnzimmerschrank, wo die vielen Fotos liegen "von vor den Kriegen" und den vielen Jahren danach. Dort steht auch ein Ordner mit den Einladungen für das Schalkespiel, mit Briefen, Postkarten und Telegrammen, die ihr Mann Albert immer wie einen Schatz gehütet hat. Hedwig Harzer: Wenn Schalke, weil des war dortmals in der Zeit war Schalke überhaupt in Deutschland eine von den besten Mannschaften dortmals. Und wenn die gehört haben, dass Schalke kommt, da waren die Alle ganz begeistert. Und dann hat man müsse überall noch Kärtle sammeln, also Essensmarken sammeln. Ich hab da eine Liste gehabt, aber ich weiß nicht, wo die hin gekommen ist und da ist alles verzeichnet gewesen, wer alles Essensmärkle gestiftet hat, dass man die frei essen lassen hat können. Autorin: Die Liste mit den Namen all derer, die damals Essensmarken spendeten, ging im Laufe der Jahre verloren, nicht aber die Erinnerung. Hedwig Harzer hatte nach Ende des Krieges selbst zwei kleine Kinder zu versorgen, ihr jüngstes war noch keine zwei Jahre alt. Über diese Zeit spricht sie nicht gern. Allzu oft hatte sie die Kinder hungrig ins Bett schicken müssen, weil die Kartoffelschalensuppe zu dünn war, und das Brot nicht reichte. Aber an den Sommer 1946 und die Vorbereitungen für dieses eine Fußballspiel denkt sie gerne zurück. Schließlich war es ihr Mann gewesen, der damals in Rutesheim das "Schalke Fieber" ausgelöst hatte. Natürlich gab es viel Skepsis. Die Herausforderung war groß. Da musste eine komplette Fußballmannschaft samt Betreuer für eine Nacht untergebracht und verköstigt werden. Das hieß: 20 Betten suchen und drei Mahlzeiten organisieren. Lebensmittel gab es damals nur auf Zuteilung und der Wohnraum war beengt. Wie nur sollte man das Ganze stemmen? Manfred Hettler: Keiner hatte Geld, oder Wohnraumnot war da, Rutesheim war zerbombt zum Teil. Und es war nicht selten, dass in einer kleinen Wohnung oft zwei Großfamilien gewohnt haben, also in 2, 3 Zimmer sieben bis acht Personen war gar keine Seltenheit. ... .es war also Wohnraum knapp und dann kamen ja noch Hunderte von Vertriebenen dazu und diese Schalker sind trotzdem prima untergebracht worden. Es war zumindest ein gewaltiges Gemeinschaftsprogramm oder eine Gemeinschaftsleistung eine ganze Mannschaft trotz allem sehr gut unterzubringen, dass sie zufrieden waren. Also, wie das geschafft worden ist, grenzt für mich heute noch im nach hinein an ein Wunder. Autorin: Manfred Hettler war ein 8-jähriger Bub damals. Sein Vater der Wirt vom "Hirsch", dem Lokal, in dem die Spieler der SKV ihre Vereinssitzungen abhielten und in dem noch Jahre später von "unseren Schalkern" geredet wurde. Auch Kurt Illeson erinnert sich. Der Torwart von Schalke war bei ihm untergebracht. Die meisten Spieler nahmen ihre Gegenspieler mit zu sich, rückten für diese eine Nacht noch enger zusammen. Und wo es zu eng war, da fanden sich Nachbarn, die ein Nachtlager anboten. Obwohl man vor lauter Aufregung kaum zum Schlafen kam. Kurt Illeson: Schalke, da sind wir ja in der kommenden Nacht gar nicht ins Bett, wir haben ja durchgefeiert, mit diesen Jungs zusammen Autorin: Aber es galt ja auch das Essen für die Fußballmannschaft zu organisieren. Seit Mai 1945 wurden von den alliierten Besatzungsmächten Lebensmittelkarten ausgegeben. Die Waren waren rationiert. Hedwig Harzer: Essensmärkle hat es bloß gegeben, weil sonst nichts gekriegt hättest, die hat man zahlen müssen, wie sonst auch. Wenn du kein Märkle gehabt hast, hast du halt nichts gekriegt. Die Essensmärkle hat man gekriegt, weil alles eingeteilt worden ist, es ist alles zugeteilt worden dortmals. Autorin: Es gab Karten für Brot, für Kartoffeln, für Salz, Fleisch, Zucker und Fett, für Kaffee und Tee. Das alles musste natürlich auch bezahlt werden, man bekam aber in den Geschäften oder Gaststätten eben nur die Menge, für die man Lebensmittel "Märkle" hatte. Diese Marken wurden nach Schwere der Arbeit zugeteilt. Für Kinder und Jugendliche gab es andere Rationen als für ältere Menschen oder für Kranke. So knapp diese Rationen auch waren, für viele war es dennoch unmöglich, die ihnen zugeteilten Marken aufzubrauchen, weil das für die Bezahlung nötige Geld fehlte. Kurt Illeson: Und wir haben das Glück gehabt, dass wir jetzt 5 Kinder waren, bzw. nachher sechs mit der Heide, dass wir viel Karten, Lebensmittelkarten gehabt haben, sogar soviel Fleisch, dass man, weil wir kein Geld gehabt haben, das wir oft gar nicht haben kaufen können. Und dann haben wir eine Oma gehabt in Stuttgart, die haben eine Bäckerei gehabt und denen hab ich immer, Öl hab ich mitgebracht, schwarz gehandelt, lebende Hasen. Rauchermarken, ich hab Rauchermarken gekriegt, weil ich Kriegsgefangener war. Ich bin also als Mann behandelt worden, aber geraucht hab ich nicht. Also hat man Rauchermarken, Fleischmarken, Wurstmarken, hat meine Mutter mir mitgegeben, dann bin ich nach Stuttgart zur Oma und hab die alle umgetauscht gegen Brotmarken. Die Ware hast du zahlen müssen, ganz normal, aber du hast nicht mehr bekommen, wie du Marken gehabt hast. Autorin: Um die Schalker Mannschaft angemessen zu bewirten, brauchte man also genügend Fleisch-, Wurst-, Brot- und all die anderen Marken, und man brauchte Bauern und Metzger, die bereit waren, mit Marken aber ohne Geld, oder womöglich auch ganz ohne Marken und ohne Geld Lebensmittel abzugeben. Die Schalker bekamen gut zu essen, weil so viele Rutesheimer bereit waren, ihre "Märkle" für das große Spiel abzugeben, und auch die Bewohner der Nachbarorte, als sie hörten, für wen da gesammelt wurde. Kurt Illeson: Die Bauern damals, die haben schon auf uns einen gewissen Stolz gehabt, weil wir irgendwie in das Dorf Leben reingebracht haben. Und die Bauern sind auch auf den Sportplatz, ob das der Konrads Karl war, oder wer auch immer, und sind nachher im Ochsen, haben die dann die Spiele auseinander genommen, wie heute noch. Deswegen hat uns nicht ein Bauer fort geschickt und hat gesagt: "Ich geb nichts." Zu den Bauern, zu denen wir gekommen sind oder die Freunde gekommen sind, und wenn einer ein kleiner Bauer war, und der hat nur zwei Büchsle gegeben, dann hat er es mit einer Begeisterung gegeben und mit einer Überzeugung, gell. Autorin: Dass Konrads Karl etliche Wurstbüchsen gab, ist in Erinnerung geblieben, oder die Geschichte von "Balla". Auch er gehörte zu den Organisatoren. Mit richtigem Namen hieß er Karl Philippin. "Balla" war selbst leidenschaftlicher Fußballer gewesen, aber der Krieg hatte ihn nicht unversehrt gelassen. Er kam mit steifem Bein zurück. Fußball konnte er nicht mehr spielen, aber die Leidenschaft blieb. Ehekrach hatte er damals, weil er sich mehr um die Vorbereitungen für das Spiel kümmerte, als um das gerade geborene Töchterchen. Es gab ja so unendlich viel zu organisieren. Zum Beispiel auch: Wie die Schalker Jungs überhaupt nach Rutesheim holen? Es fuhren nur wenige Züge, und die waren meist hoffnungslos überfüllt. Außerdem war das Reisen durch die verschiedenen Besatzungszonen nicht einfach. Dass das Unternehmen dennoch gelang, war wohl vor allem dem Geschick des Schalker Jugendleiters Julius Eckmann zu verdanken. Werner Schellhase erinnert sich: Werner Schellhase: Wir sind hingefahren mit dem Zug. Und der hatte sogar in die Wege geleitet, denn es wurde noch gehamstert, es waren Hamsterzüge, dass er sogar zwei Abteile für uns reservieren konnte, das war Wahnsinn, war das zu der Zeit. Er war immer dafür zu haben, wenn so etwas war, wir haben ja kaum etwas zu essen gehabt, da zu der Zeit 1946. Da war ja gar nichts. Trotzdem hat er das auf die Beine gestellt das wir alle Wurstpakete bekamen. Dauerwürste wurden dann verteilt und so weiter und Brot dazu und so was. Autorin: Die Reise war anstrengend, ging sie doch durch verschiedene württembergische Städte und Dörfer mit insgesamt 6 Spielen. Sie erfüllte für die Gelsenkirchner Jungs aber ihren Zweck: Werner Schellhase: Wir sind wohl satt geworden da unten, das ist schon richtig, ja. Autorin: Hunger war auch noch im Sommer 1946 ein großes Problem. Der Mythos Schalke - bis dahin sechs Mal Deutscher Meister - war für die Spieler hilfreich. Viele Fußballvereine in den ländlichen Gegenden, die, was Lebensmittel angeht, besser versorgt waren als die Städte, wollten unbedingt wenigstens einmal gegen Schalke spielen und luden die Mannschaft ein. Werner Schellhase: In Bünde bekamen wir zum Beispiel Tabak. Oder wir kamen nach Bad Salzuflen, da bekamen wir auch schon mal Kartoffeln, oder und so weiter. Also das waren so die Vitaminspiele, in dem Fall, um richtig satt zu werden. Wir sahen ja auch nicht alle, dass wir schon so kernig waren. Autorin: Als Werner Schellhase aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, war er schwach und abgemagert. Wie Kurt Illeson war auch er noch im Januar 1945 als 17-Jähriger zum Arbeitsdienst eingezogen und gleich Richtung Osten an die Front geschickt worden. Er landete dann im amerikanischen Kriegsgefangenenlager und bekam die Ruhr, wäre beinahe daran gestorben. Zurück in Gelsenkirchen meldete er sich sofort bei Schalke an. Das war sein Glück. Die sogenannten Vitaminspiele stärkten ihn, bauten ihn wieder auf. Werner Schellhase: Obst gab es zu der Zeit, also wir haben sehr viel Obst gegessen, muss ich sagen, aber immer wieder diese Spätzle. Na ja, also die tauchten dann auf, zu jeder Mahlzeit gab es ja Spätzle. In aller Form haben wir die dann gegessen, und seitdem ess' ich die heute noch gerne. Kurt Illeson: Für die Schalker, die ja im Kohlenpott waren, für die waren das Fressfahrten. Das sind ja junge, im Prinzip junge Leute gewesen wie wir auch, und die hatten genau so Hunger wie wir, und dass die sich haben mal den Bauch voll schlagen können und auch trinken, da hat's natürlich kein Wein und kein Bier, sondern nur Schnaps und Most und die Bauern haben den Most Kübelweise in denen Botten Most gebracht. Und die Buben haben natürlich dann Räusch gehabt morgens und auch en der Nacht, weil sie nichts vertragen hen können und auch nichts auf den Rippen gehabt haben. Für die waren es Fressfahrten, für uns war es ein Stolz gegen solche Mannschaften spielen zu dürfen. Autorin: Die Sache mit dem Most ist auch Werner Schellhase und seiner Frau noch nachhaltig in Erinnerung. Werner Schellhase: Da wurde dann gemeinschaftlich gegessen mit der Mannschaft und dann waren wir da oder da eingeladen. Jetzt weiß ich nicht mehr ganz genau, in welchem Weinkeller wir landeten, da haben wir das erste Mal in unserem Leben, da haben wir da Most getrunken, und das war natürlich eine harte Sache, war das, das kannten wir nicht. Das war süffig, das Zeug. Autorin: Zu den anfänglichen Zweifeln schreibt Albert Harzer später in seinem Spielbericht: Zitator: Doch solche wurden gegenstandslos, als markante Werbeplakate den zauberhaft klingenden Namen Schalke 04 lebendig machten; eine zweifelsfreie Gewissheit griff mehr und mehr Platz, bis die Schalker Jugendelf in ihrem schmucken Königsblau letzten Samstag ins Rutesheimer Spielfeld sprang. Hedwig Harzer: Der Vorstand vom SKV war ein bisschen skeptisch, ob das klappt und dann sind da so ein Haufen Zuschauer gekommen... und hat alles prima geklappt Werner Hettler: Und für mich war das natürlich als Kind ein Highlight, würde man heute sagen, eine große Sache. Und ich weiß noch, als mein Vater dann in Aussicht gestellt hat, dass er einen Stammgast anspricht, um mich zu chauffieren auf den Sportplatz und mich dann abzustellen hinterm Tor, da ist ein Weg vorbeigelaufen, konnte ich also vor lauter Aufregung dann nächtelang nicht schlafen. Schon die Fahrt zum Sportplatz war ich voll freudiger Erregung natürlich und dann die vielen Leut, das hab ich ja noch gar nie gesehen, dass so viele Leut dann auf einem Sportplatz sind wie Rutesheim. Autorin: Manfred Hettler hatte als kleiner Junge ein Hüftleiden und war bis unter die Arme eingegipst im Sommer 1946. Hinterm Tor postiert verfolgte er das Spiel. Es war ein Volksfest für die Menschen in Rutesheim und Umgebung. Alle kamen zum Sportplatz. Kurt Illeson: Also es waren weit über Tausend, ich schätze dass es 1.500 waren. Also es waren wahnsinnig viele Leute und natürlich nicht nur Rutesheimer. Da sind sie von Weissach, von Flacht, von den ganzen umliegenden Ortschaften ist das also ein Strom gewesen und die sind alle meistens mit dem Fahrrad gekommen, gell, weil es noch keine Autos gab und keine Motorrädle, jaja. Autorin: Einzelne Spielzüge sind Kurt Illeson nicht mehr präsent. Aber die Stimmung, die damals herrschte, die wird er nie vergessen. Kurt Illeson: Es war nicht so, dass dies ein "Hefewetz" war, sondern, da ist Fußball gespielt worden. Wir waren nervös, wie gesagt, wir waren ja noch jugendlich praktisch. Wir haben Angst gehabt, hoch zu verlieren. Autorin: Sie verloren nicht, spielten unentschieden 2:2 und überraschten damit sich selbst und die Zuschauer. Kurt Illeson: Und da waren wir natürlich stolz wie die Weltmeister, gell. Autorin: Allein die Ausstattung der Spieler ist für heutige Verhältnisse unvorstellbar Kurt Illeson: Links Billi Jenkins, rechts Tom Broks, hat auf jeden Fall soviel genützt, dass wenn du einen auf die Socken drauf gekriegt hast, dass, die haben dann schon ein bisschen was abgefangen. Autorin: Die Abenteuerhefte von damals dienten nicht nur zum Lesen, sie steckten als Schienbeinschützer in den Stutzen. Und auf die Sohlen der Schuhe ... Kurt Illeson: ... da haben wir Lederriemel quer drüber genagelt und festgemacht und auch am Absatz 2 Stück und das waren am Anfang unsere Kickstiefel. Und dann hat man ja die Nägel innen krumm geschlagen, und wir haben doch geblutet da innen, weil wir auf diesen Nägeln gelaufen sind. Autorin: Der Platz - ein Acker. Ohne Gras und entsprechend schlammig bei Regen. Für die jungen Sportler war er ein kleines Stück Paradies. Aus dem Spielbericht von Albert Harzer: Zitator: Wer viel erwartete, wurde angenehm überrascht! Das muss diejenigen ärgern, die das prächtige Spiel versäumten. Gute Jugendmannschaften vermögen bekanntlich einen guten Fußball zu zeigen, rein und unverfälscht. Und da der gut aufgelegten, technisch brillierenden Schalke-Elf eine äußerst forsche, unerschrocken kämpfende und sich gut verstehende Rutesheimer Mannschaft gegenüberstand, steigerte sich der szenenreiche Kampf bis zum Begriff Klassefußball! Manfred Hettler: Für mich war es im Rückblick nach dem Krieg, so das erste richtige Highlight, wo die ganze Gemeinde dann wieder vereint war eigentlich, wo Politik, wo alles andere gar keine Rolle gespielt hat. Ob Vertriebener oder Einheimischer oder so, da waren wir alle Rutesheimer, die unsere Mannschaften da, die Schalker bewundert haben, und das hat wirklich zur Integration aller auch neu zugekommener Rutesheimer sicherlich beigetragen. Autorin: Eine der besten Fußballmannschaften jener Zeit schickt ihre Spieler auf Reisen, damit die wieder zu Kräften kommen - das sprach sich herum unter den großen Vereinen. Im November 1946 erhielt Albert Harzer vom Jugendleiter des 1. FC Nürnberg einen Brief. Es war die Bestätigung für ein Freundschaftsspiel der A- Jugend in Rutesheim. Zitator: Obwohl wir für Ostern '47 schon eine Einladung für ein Turnier in Heidelberg vorliegen haben, geben wir Ihrem Verein den Vorzug, weil er uns wärmstens empfohlen wurde und Schalke kalorienmäßig und in jeder Weise dort ganz hervorragend aufgenommen gewesen sein soll. Und die armen Jungen aus unserer zerstörten Stadt haben das mal dringend nötig. 1