COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel 02.09.2012 Der Kurier des Widerstandes Wie Radsportidol Gino Bartali hunderten Juden das Leben rettete Von Jan-Christoph Kitzler und Stefan Osterhaus Atmo: Italienische Wochenschau über die Tour de France... Reporter spricht über Bartali und die Italiener im Feld... Sprecher: Am Anfang steht eine Legende des Radsports. Gino Bartali ist bis heute eines der größten Sportidole Italiens. Vergleichbar mit Max Schmeling in Deutschland oder mit Muhammed Ali in den USA. Der Sänger und Komponist Paolo Conte hat ihm ein Lied gewidmet. Er singt von einem, der am liebsten alles stehen und liegen lassen würde - nur um Gino Bartali auf dem Rad zu sehen: Musik: Paolo Conte, "Bartali", weiter im Hintergrund. Sprecher 1 (evtl. mit Hall, überlappend, rechts-links...): Gino Bartali gewinnt zweimal die Tour de France Sprecher 2: ... im Abstand von 10 Jahren: 1938 und 1948 Sprecher 1: Dreimal gewinnt er den Giro d'Italia, Sprecher 2: viermal Mailand-Sanremo Sprecher 1: zweimal die Tour de Suisse. Sprecher 2: ...Bartali ist der beste Bergfahrer seiner Zeit. Sprecher 1: Legendär ist sein Konkurrenzkampf mit dem fünf Jahre jüngeren Fausto Coppi... Sprecher 2: ... in Italien gab es damals nur "Bartalisti" oder "Coppisti", sonst nichts. Musik: Ende Sprecher Doch in den 30er und 40er Jahren erging es Gino Bartali nicht anders als den meisten jungen Männern - der Krieg machte viele Pläne, viele Träume zunichte. Seine besten Jahre als Radrennfahrer fielen diesem Krieg zum Opfer. Und was ist ein Champion, der keine großen Rennen fahren kann, weil es keine großen Rennen gibt? Nach dem Krieg aber raffte er sich wieder auf. Und 1948 wiederholte er seinen Sieg bei der Tour. 34 war er damals schon. Und es gibt nicht wenige, die sagen, in diesem Sommer habe Bartali sein Land vor einer Revolution bewahrt. Es hatte einen Mordanschlag gegeben, in Rom, auf den Führer der italienischen Kommunisten, Palmiro Togliatti. Viele Menschen waren aufgebracht und gingen auf die Straße - es gab Tote und es drohte ein Bürgerkrieg. In Frankreich lief gerade die Tour. Bartali lag abgeschlagen 20 Minuten hinter dem Führenden, da meldete sich der italienische Regierungs-Chef, so erzählt es Andrea Bartali, Ginos Sohn: O-Ton: Andrea Bartali "... und De Gasperi sagte: "Gino, hier gibt es großes Chaos. (...) Wenn Du kannst, versuch etwas zu gewinnen, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Versuche die Tour de France zu gewinnen." Und er sagte: "Ob ich die Tour gewinne, na ja, das weiß ich nicht, aber eine oder zwei Etappen, das könnte ich schaffen." Also hat er seine Mannschaft zusammen geholt. Und am Tag darauf war eine sehr harte Etappe mit drei Bergen, sehr lang, sehr beängstigend. Und Papa hat einen Schlachtplan mit seinen Jungs gemacht und gewonnen. Und er gewann noch eine Etappe und noch eine und dann die Tour de France." Sprecher: Fast eine halbe Stunde Vorsprung hatte er am Ende. Und Italien war im Jubel vereint. Die Italiener kennen Bartali, den Sportsmann, den Helden, der fast 200 Rennen gewann und der sich mit seinem Kontrahenten Fausto Coppi das vielleicht berühmteste Duell der Radsport-Geschichte lieferte. Doch es gibt auch eine verborgene Geschichte, die bis über den Tod Gino Bartalis im Jahr 2000 hinaus für viele noch immer ein Geheimnis ist. O-Ton Andrea Bartali: Mein Vater wollte nicht, dass man über diese Dinge redet. Er sagte: "Gutes tut man, aber man spricht nicht darüber." Er hat viele Dinge erzählt, mit der Bitte, das niemandem zu erzählen. Und ich habe dann gesagt: "Papa, wenn Du mir diese Dinge erzählst, wie mache ich das: sie nicht weiter zu sagen." Und da sagte er mir: "Mach Dir keine Sorgen. Es kommt der Moment, an dem Dir klar wird, dass Du darüber sprechen kannst." Und jetzt ist dieser Moment. Sprecher: Diese Dinge - das waren Aktionen eines antifaschistischen Netzwerkes während der deutschen Besatzung in Italien. Bartali war dabei, auch weil in diesem Netzwerk die Kirche eine wichtige Rolle spielte. Elia Dalla Costa, der Erzbischof von Florenz, hatte Katholiken, denen er vertraute, ermutigt, sich dem Untergrund anzuschließen. Bartali und Dalla Costa kannten sich gut: Der Radrennfahrer war Laienbruder im Karmeliterorden. Der Erzbischof hatte das Ehepaar Bartali getraut. Er selber bat das Radsportidol zu einem abendlichen Treffen. Bartali willigte ein und tat fortan das, was er am besten konnte: Er stieg aufs Rad - um gefälschte Papiere zu schmuggeln, die vor allem Juden dabei helfen sollten, unterzutauchen: O-Ton Andrea Bartali: Er war der Kurier. Er versteckte die Papiere im Sattelrohr des Fahrrades oder im Handgriff, alles schön eingerollt. Er hat viel transportiert. Er hat viele Kilometer gemacht. Allein Florenz-Assisi an einem Tag, das sind 320, 360 Kilometer. Und um das zu schaffen, musste man schon ein Champion sein. Sprecher: Von Florenz aus ging es nach Assisi. In der Stadt des Heiligen Franziskus versteckten Klarissen in ihrem Kloster viele Juden in unterirdischen Höhlen. Bartali brachte ihnen die gefälschten Papiere. Aber weil die Nonnen in Klausur lebten, durfte der Kurier das Kloster nicht betreten. Er gab die Papiere an der Pforte ab. Die langen Touren des Gino Bartali, 30, 40 Mal, nicht nur durch die Toskana und nach Umbrien, sondern auch nach Ligurien und in die Abruzzen waren halbwegs unverdächtig. Italiens Idol musste schließlich trainieren! Seine vermeintlichen Trainingsausflüge hatten nicht nur den Zweck, Dokumente zu schmuggeln. Bartali konnte als Späher auskundschaften, wo sich die Linien der Deutschen befanden und wo es Streckenposten gab. So lieferte er den Flüchtlingen und auch dem Untergrund wichtige Informationen. Doch seine Fahrten waren alles andere als ungefährlich. Nicht nur einmal wurde er kontrolliert. Mehrfach fürchtete Andrea, dass sein Vater nicht zurückkehren würde: O-Ton Andrea Bartali: Und er war mitunter auch zwei, drei Tage unterwegs. Da wurde er auch beschossen, bombardiert. Einmal hat er sich in einen Graben geworfen, der voller Gülle war. Und als er nach Hause kam, hat ihn meine Mutter nicht reingelassen. Er musste sich draußen ausziehen und sich erstmal waschen. (lachen...) Sprecher: Andrea Bartali hat sich auf die Spuren seines Vaters begeben. Er hat die Fondazione Bartali gegründet - eine kleine Stiftung, deren Ziel es ist, nicht nur das Andenken an den Radsport- Champion zu pflegen. Er kämpft auch um die Anerkennung der anderen Geschichte Gino Bartalis: der des Juden-Retters. Für Andrea beginnt das alles mit der eigenen Erinnerung: O-Ton Andrea Bartali: Ich bin 1941 geboren - mir fällt noch alles ein. Wie er wegging. Wenn er nachts weg ging, sagte er meiner Mutter: "Wenn sie mich suchen kommen, sag ihnen, ich sei losgegangen, um Medizin für Andrea zu besorgen, der krank ist." Meine Mutter wusste nichts. Und wenn sie fragte: "Wohin gehst Du?", sagte er: "Ich gehe trainieren." Atmo: Radrennen in der Toskana. Sprecher: Ein internationales Radrennen in den toskanischen Bergen, südlich von Florenz. Die Rennfahrer haben auf ihren Hightech-Maschinen heute schon 150 Kilometer in den Beinen. Am Ende, am letzten Anstieg geben sie noch einmal alles. Die Zuschauer, die bis hoch auf den Berg gepilgert sind, kommen voll auf Ihre Kosten: am Ende sind drei Italiener vorne. Am Ziel steht auch Laura Guerra. Die junge Radsportjournalistin kennt fast alle hier. Aber ihr Herz hängt auch an der Vergangenheit. Und sie hilft mit im Kampf um Anerkennung für Gino Bartalis Taten im Krieg. Das ist wie eine Spurensuche: O-Ton Laura Guerra: Das ist sehr schwer, weil schon viel Zeit vergangen ist. Und die wenigen Menschen, die wir gefunden haben, haben versucht, uns zu helfen. Inzwischen sind die 90 Jahre alt. Auf der anderen Seite ist da ein Schweigen, von denen, die sich nicht mehr erinnern wollen, die das Bedürfnis haben, das Ganze zu löschen. (...) Das ist ein riesiges Puzzle, und wir können es gar nicht erwarten, bis wir das komplett haben. Das ist ein wirklich schönes Kapitel der Geschichte eines Athleten und vor allem: eines Menschen. Sprecher: Der Mensch Bartali. Wortkarg, asketisch. Vor seinen Rennen steckte er sich eine Zigarette an und trank einen Espresso. Damit der Kreislauf in Gang kommt. Auf manche wirkte dieser Rennfahrer entrückt, wie ein Mystiker. Einsam in den Bergen, wo ihn seine Gegner meist aus den Augen verloren. Ein Eremit der Landstraße. O-Ton Noah Klieger: Der hat sich natürlich ganz anders benommen als die anderen. Er war ein Einzelgänger. Er hatte nicht viele, wahrscheinlich haben die sowieso nicht viele Freunde im Peloton. Er hat sich für die anderen gar nicht sehr interessiert. Der lebte wirklich in einer spirituellen Welt. Sprecher: Noah Klieger ist der älteste und vielleicht auch der prominenteste Journalist Israels. Immer noch zieht es den 86-Jährigen jeden Tag in die Redaktionsräume der Zeitung Yedioth Ahronoth. Klieger begann seine Laufbahn als Sportreporter. Er ist Radsport-Experte und berichtete für die L'Equipe, die berühmte französische Sportzeitung. Auch über die Tour de France, auch über Gino Bartali. Klieger stammt aus dem Elsass, aus der Nähe von Straßburg. Noch immer ist er der Israel-Korrespondent der L'Equipe. Aber Klieger ist auch eine Instanz, wenn es um die Shoa geht. Er hat das Konzentrationslager Auschwitz überlebt, er kam in Ravensbrück mit dem Leben davon. Häufig hält er Vorträge über den Holocaust, über sein Überleben und wie es dazu kam. Doch von Bartalis Taten im italienischen Untergrund hat der Radsportexperte bis jetzt noch nichts gehört: O-Ton Noah Klieger: Nein, ich habe die Geschichte von Bartali mit Juden in Italien gar nicht gekannt. Hat mir niemand erzählt. Ich habe das nirgends gelesen. Ich hatte keine Ahnung. Was mich sehr wundert, weil ich weiß nämlich bescheid über die Tour de France, ich habe Massen Bücher über die Tour de France. Da steht auch nichts drin. Niemandem ist das aufgefallen. Sprecher: Noah Klieger ist neugierig geworden. Und so machen wir uns zusammen auf die Suche. Nach Menschen, denen Bartali geholfen hat, die dank ihm überlebt haben. Menschen wie Giulia Donati: Atmo: Klieger im Gespräch mit Giulia Donati. Giulia Donati, eine Dame von 90 Jahren. Ursprünglich kommt sie aus Florenz. Inzwischen lebt sie in Karkur, eine Autostunde nördlich von Tel Aviv. Auch Noah Klieger will nun wissen, wie das damals war. Nein, sagt Donati, sie habe Bartali niemals mit eigenen Augen gesehen. Aber ihr wurde davon berichtet, dass Bartali jene Dokumente brachte, die ihr das Untertauchen ermöglichten. Sie war bei zwei Schwestern untergekommen, den Paccini-Schwestern, die sich um die junge Frau kümmerten. O-Ton Giulia Donati: Wir lebten in ständiger Angst. Aber wir wussten, dass wir in guten Händen waren. Diese Menschen sorgten gut für uns. Sprecher: Eines Abends klingelte es an der Tür. Ein Radfahrer stand dort. Ein kurzes Gespräch mit Isabella Paccini folgte, und dann verschwand der Mann. Sie habe geahnt, dass es um eine wichtige Sache gegangen sei, der Tonfall sei konspirativ gewesen. Doch an Bartali habe sie keine Sekunde gedacht, warum auch. Natürlich, sie kannte sein Gesicht. Aus den Wochenschauen. Aus der Zeitung. O-Ton Giulia Donati: Ich habe ihn nur auf den Bildern gesehen. A nice man - he knew how to ride bicycle. (offen) Sprecher: Bartali, ein netter Mann, ein großer Radfahrer. Und für Giulia Donati ist Bartali vor allem eines: O-Ton Giulia Donati: Ein Held, denn er riskierte sein Leben. Er bekam nichts dafür. Er tat es, weil er ein guter Mensch war. Es gibt gute Menschen und schlechte Menschen. Und er war gut. Sprecher: Leider, sagt Giulia Donati, könne sie nicht mehr sagen, als dass er ihr Leben gerettet habe. Atmo hoch: Straßenlärm in Tel Aviv Sprecher: Weiter geht's auf der Spurensuche mit Noah Klieger: in Kfar Saba, eine halbe Autostunde von Tel Aviv entfernt, soll es einen Mann geben, der sich noch gut an Bartali erinnern kann. Shlomo Pas heißt er. 80 Jahre ist er alt. Früher hieß er Giorgio Goldenberg, damals, als seine Familie noch in Italien lebte. Seinen Namen hat er ins Hebräische übersetzt, als er nach dem Krieg nach Israel auswanderte. Pas heißt im Hebräischen das Gold. Auch seine Geschichte ist ein wichtiges Puzzlestück. Aber zunähst einmal müssen wir ihn finden: O-Ton Noah Klieger: Ich habe keinen Pas. Da ist kein Pas. Ist das 15? (...) Hallo? Shalom. Atmo: (Dialog mit Shlomo Pas. Tür öffnet sich. Gang durchs Treppenhaus.) Atmo: Pas öffnet die Tür... Hund bellt. Begrüßung. O-Ton Shlomo Pas: Hier ist ein Bild, dass mir Gino Bartali gegeben hat. Hier können sie sehen, hier hat er geschrieben: Goldenberg O-Ton Mina Pas: ... während des Krieges O-Ton Shlomo Pas: 1941. Sprecher: Bartali war für die Familie Goldenberg kein Unbekannter. Armando Rizzi, Bartalis Schwager, war gut mit den Goldenbergs bekannt. Er pflegte den Kontakt auch, nachdem Italiens Juden unter Mussolini mehr und mehr diskriminiert wurden. Goldenbergs Familie kam 1941 aus Fiume, dem heutigen Rijeka in Kroatien, in die Toskana. O-Ton Shlomo Pas: Als wir in Fiesole waren, kam Armando Rizzi einige Male, um uns zu besuchen. Einmal kam er zusammen mit Gino Bartali. Jeder in der Strasse erkannte ihn. Er kam in einem Auto. In der Zeit, 1941, 42, hatte nicht jeder ein Auto. Falls jemand mit einem Auto kam, war er eine wichtige Person - vielleicht ein faschistischer Kommandeur. Die Leute erkannten Bartali, bald kamen immer mehr. Dann holte er ein kleines Fahrrad hervor und gab es mir als Geschenk. Für die Dorfbewohner war das etwas Unvorstellbares, das war für sie wie nicht von dieser Welt. Es war etwas Außergewöhnliches, Phänomenales. Sprecher: Damals, in Fiesole, hatte der kleine Giorgio noch keine Ahnung davon, was ihnen bevorstehen würde. Doch alles änderte sich, als 1943 die Wehrmacht einmarschierte. Giorgio Goldenberg kam in einem Kloster unter. Giorgio fiel nicht auf. Nach außen hin war er ein vorbildlicher Klosterschüler. Immer wieder kamen Offiziere der Wehrmacht. Sie waren bei den Gebeten dabei - um zu hören, ob die Litaneien auch von allen beherrscht wurden. Doch Giorgio hatte keine Angst: Ihn quälten ganz andere Dinge. O-Ton Shlomo Pas: Mir war ja gar nicht bewusst, dass mein Leben in Gefahr war, ich war ein Kind, nur neun Jahre alt. Ich war gut darin, zu lügen, darin, zu behaupten, dass ich kein Jude war, sondern ein Katholik mit einem anderen Namen. Ich spürte keine Todesgefahr. Ich war ja ein Kind. Aber ich hatte Hunger, ich hatte niemals genug zu essen, auch nicht im Kloster, ich aß über zwei Jahre fast nur Humus. Ich wusste nicht, woher sie diese Unmengen von Humus hatten. Zwei Jahre nur Humus! Sprecher: Die Situation verschärfte sich noch einmal, als die Deutschen immer mehr Truppen in der Toskana stationierten. Das Kloster war jetzt ein gefährlicher Ort für Giorgio. Doch die Familie hatte einen neuen Unterschlupf gefunden - dank Gino Bartali. O-Ton Shlomo Pas: Meine Mutter kam und holte mich aus dem Kloster. Sie kam und brachte mich zu einem Kellerraum im Haus in Florenz, wo wir uns versteckten. Ich glaube, für mehr als ein Jahr... Bartali brachte Essen, denn wir waren in diesem Keller und hatten Angst, herauszugehen. Die deutsche Armee marschierte ein und eroberte praktisch das Land. Es war gefährlich, in den Strassen herumzulaufen. Sie suchten nach Juden, und sie sperrten jeden ein und sandten sie in Arbeitslager. (...) Bartali kam selten, um Essen zu bringen, oder seine Frau kam zu uns. Daran erinnere ich mich, ich war ein Kind von neun Jahren. (...) Sieben, acht Mal, zehn mal insgesamt kam er. Sprecher: Vier Menschen in einem Raum: Giorgio, die Schwester Tea, die Mutter und der Vater. Doch sie blieben nicht zu viert in dem Keller. Bald mussten sie noch enger zusammenrücken: O-Ton Shlomo Pas: Ich habe einen Cousin, Aurelio, der in Florenz lebt. Er war auch von Bartali versteckt worden im selben Keller für ein paar Monate. Sein Vater, seine Mutter und sein Bruder wurden verhaftet und schließlich nach Auschwitz gebracht. Jetzt waren wir in demselben Keller fünf Personen. Dann verließ er uns, nach vier oder fünf Monaten und schloss sich den italienischen Partisanen an. Er sagte, er könne nicht bleiben. Er müsse kämpfen. Sprecher: Aurelio Klein kämpfte für seine Freiheit. Er konnte es, denn er war zehn Jahre älter als Giorgio. Ein junger Erwachsener, der nicht zusehen wollte. Viele hofften zu lange, anderen gelang die Flucht nicht mehr. Mina, Shlomos Ehefrau, blättert im Familienalbum. Sie reicht ein Foto über den Tisch: O-Ton Mina Pas: Das ist meine Familie. O-Ton Shlomo Pas: ...die Familie meiner Frau in Polen. Atmo: Stimmengewirr. O-Ton: Shlomo Pas: Niemand von ihnen kam zurück. Sie wurden alle von der Gestapo in den Todeslagern umgebracht. Sprecher: Und wäre Bartali nicht gewesen, dann wäre er nicht hier, dann hätte er wohl niemals die Freiheit erlebt. Nichts, sagt Shlomo Pas, sei ihm noch so gut in Erinnerung wie jene Begegnung, die für ihn das Ende der Zeit im Versteck bedeutete. O-Ton Shlomo Pas: Eines Morgens hörten wir Kinder draußen schreien: "Die Engländer sind da!" Ich ging raus, ich hatte keine Angst. Ich sah eine Karawane von englischen Fahrzeugen. Und ich sah einen Soldaten, auf dessen Uniform Palästina stand, und ich sah den Davidstern. Nach fünf Jahren Krieg war mir jeder verdächtig. Ich wusste nicht, was es ist. Ich bin nicht zu ihm gerannt. Aber ich ging in seine Nähe und begann die Hatikva zu pfeifen. Um zu sehen, ob da eine Reaktion kommt. Jeder Jude kennt die Melodie der Hatikva. Wenn sie den Beginn der Moldau von Smetana kennen, dann kennen sie auch den Beginn der Hatikva: Atmo: summt... Sprecher: Für Shlomo Pas ist Bartali schlicht ein Held. Auch er wünscht sich, dass Bartalis Taten Anerkennung finden. Aber wo? Atmo hoch: Yad Vashem, Eingangshalle Es gibt einen Ort in Jerusalem, an dem an Menschen wie Bartali erinnert wird, Menschen, die ohne Eigennutz und unter Gefahr Juden das Leben gerettet haben. Yad Vashem, die Gedenkstätte der Shoa. "Gerechter Unter den Völkern" - so wird der Ehrentitel genannt, den Yad Vashem verleiht. Im Talmud werden so Nichtjuden bezeichnet, die im Sinne Gottes handeln - und denen so ein Platz in der kommenden Welt gewiss ist, wenn der Messias gekommen ist. Mehr als 24.000 sind hier geehrt worden. Menschen wie Raoul Wallenberg oder Oskar Schindler, Miep Gies, die Anne Frank versteckt hielt, oder der Krupp-Manager Bertold Beitz. Doch meist sind es Unbekannte. An all diese Helden erinnern die Bäume entlang der Allee im Garten der Gerechten. Es ist nicht schwer, sich in Yad Vashem zu verlieren. An diesem Nachmittag haben sich viele Gruppen hier eingefunden, viele Soldaten sind da. Am Eingang haben sie ihre Maschinenpistolen abgelegt. Sie bilden einen Haufen, wie Holzscheite an einem Lagerfeuer. Dieser Ort ist entwaffnend. In Yad Vashem liegt auch eine Akte Bartali - eine Akte, die noch nicht geschlossen ist, denn die Kommission ist sich uneins, wie Irena Steinfeldt erklärt. Sie leitet die Kommission "Gerechter unter den Völkern." Und sie erklärt die Kriterien, die erfüllt sein müssen, um dort aufgenommen zu werden. O-Ton Irena Steinfeldt: Die erste Regel ist: Dass es sich um Rettung unter Gefahr handelt. Dass es sich um Rettung von Juden handelt, also eine bewusste Rettung von Juden. Das heißt, jemand, der nicht allgemein in einem Widerstand arbeitete, sondern jemand, der bewusst Juden retten wollte. Und natürlich muss das bewiesen werden. Wir verlangen Zeugenaussagen von der Seite der Leute, denen geholfen wurde, oder Dokumente... Sprecher: Hohe Hürden, bevor ein solcher Antrag bewilligt wird. In mehreren Unter-Kommissionen arbeiten ausschließlich Muttersprachler. Denn jede Übersetzung, sagt Steinfeld, stelle immer eine Verfremdung dar. Doch wie steht es im Fall Bartali? Genügen die Berichte der Zeugen nicht? O-Ton Irena Steinfeldt: Mit Bartali ist das Problem, wie es mit vielen anderen sind, die angeblich Dokumente von einem Ort zum anderen brachten, oder sogar Leute von eine Ort zum anderen schmuggelten. Sehr oft wurden, konnten die nicht identifiziert werden von den Leuten, denen sie am Ende geholfen haben. Weil natürlich stellte man sich nicht vor und sagte: "Freut mich sehr Herr Soundso - ich bin der und der und ich werde ihnen jetzt gefälschte Dokumente geben oder ich nehme sie jetzt mit über die Alpen in die Schweiz..." Sprecher: So war das bei Giulia Donati, die durch Bartalis Hilfe gerettet wurde, ohne ihm je in die Augen geschaut zu haben. Anders als Shlomo Pas, der ihm doch mehrfach im Keller begegnete - als Bartali Essen brachte, als er sich um die Familie Goldenberg kümmerte. Deshalb überrascht Irena Steinfeldt mit einer Erklärung: O-Ton Irena Steinfeldt: Wir haben inzwischen keine Zeugenaussage, dass Bartali nicht nur im Widerstand war, sondern dass er auch bewusst Juden retten wollte. Dort steht im Moment die Geschichte. Sprecher: Die Geschichte. Es klingt ein wenig nach Legende, wenn sie das sagt. Und bei Legenden gilt es immer, genau zu trennen, was ist Wahrheit, was ist Mythos? Und wo könnte sich die Erinnerung der Zeugen trügen? Es geht um klare Indizien - wie in einem Gerichtsverfahren: O-Ton Steinfeldt: Wenn die Polizei morgen kommt und Juden in dem Keller findet, an wen geht sie? An den, dem der Keller gehört. Wohnte er dort? Gehörte es seiner Tante? Diese Einzelheiten, das ist genau das, was uns fehlt. Wir haben viele Fälle, wo Person A jemanden zu Person B schickt. Wer ist verantwortlich? Wer hat das Risiko? Sagt die Kommission: Person B. Sprecher: Shlomo Pas zuckt mit den Schultern. Auch er hat lange nicht über diese Geschichte gesprochen. Doch der 80-Jährige erinnert sich noch an viele Details. Aber wem dieser Keller gehört, das zu fragen war das Letzte, was ihm damals in den Sinn gekommen sei. O-Ton Shlomo Pas: Ich muss gestehen, ich weiß nicht genau, ob Bartali selbst der Besitzer des Kellers war oder sein Schwager, oder ob sie ihn beide besaßen. Ganz sicher einer von den beiden. Aber ich weiß nicht, was das soll? Warum ist das wichtig? Warum ist das wichtig zu wissen, wer der Besitzer des Kellers ist? Sprecher: Erinnerungen an die Zeit in einem Kellerloch - fünf Menschen bei feuchter Luft. Kühl war es auch im Sommer. Erst in den Abendstunden konnte Giorgio manchmal den Keller verlassen, erst im Schutze der Dunkelheit kam Bartali, um die Familie zu versorgen. O-Ton Shlomo Pas: Er war in Todesgefahr, weil er Juden schützte. Er brachte die Juden in diesen Keller, und er sorgte für sie. Er ist wahrscheinlich der Grund, dass ich noch am Leben bin. Warum ist es wichtig, ob er der Besitzer war? Wichtig war, dass er mich und meine Familie in diesen Keller brachte und unser Leben rettete und für uns sorgte und uns Essen brachte. Und höchstwahrscheinlich war seine gesamte Familie in großer Gefahr. O-Ton Mina Pas: Warum ist das denn wichtig wo er gelebt hat? Die Sache ist doch: Er hat Juden gerettet. O-Ton Shlomo Pas: Sie regt sich auf... O-Ton Shlomo Pas: Sie ärgert sich. Sprecher: Noch einmal verweist Steinfeldt auf die Kriterien, die im Fall Bartali nicht erfüllt seien. Und sie verweist auf die Bedeutung des Titels "Gerechter unter den Völkern": O-Ton Irena Steinfeldt: Viele vergleichen es als Nobelpreis für Menschlichkeit. Weil er nicht politisch ist. Weil er nicht gegeben wird, weil jemand berühmt ist. Sondern er wird dem einfachen polnischen Bauern gegeben, den keiner kennt, für den sich kein Journalist interessiert. Sprecher: Der Bauer - er ist die Lieblingsfigur von Irena Steinfeld. Mehrfach erwähnt sie ihn im Interview. Viele Bauern aus Polen und Russland halfen Juden dabei, zu entkommen, zu überleben: O-Ton Irena Steinfeldt: Interessieren sie sich für einen kleinen Bauern in Polen, der Juden gerettet hat in der gleichen Art? Nein! O-Ton Shlomo Pas: Was hat ein polnischer Bauer damit zu tun? O-Ton Mina Pas: Es ist eine Schande. O-Ton Shlomo Pas: Meiner Meinung nach ist das eine Schande, dass sie diesen Fall weiterhin offen halten. Meiner Meinung nach ist die ganze Verzögerung eine bürokratische Geschichte. Sprecher: Fragen stellte Bartali nie. Fragen stellen sich Shlomo Pas und seine Frau. Und vor allem eine Frage beschäftigt sie: O-Ton Mina Pas: Ich habe die Frau von Bartali gefragt: Warum hat er das getan? Und sie schaute mich ziemlich überrascht an und sagte: Weil er es tun musste. O-Ton Shlomo Pas: Er konnte es nicht nicht tun. Sprecher: Es einfach tun müssen, ohne zu fragen, ohne die Konsequenzen abzuwägen, das Risiko einfach auf sich nehmen. Das fasziniert Menschen in Israel und in Italien. Laura Guerrra, die junge Radsportjournalistin, ist beeindruckt von der Zivilcourage Bartalis. Für sie sind seine Kurierfahrten und sein Comeback als "Vecchio", als der "Alte", der nach dem Krieg die Tour de France gewann, nichts weiter als zwei Seiten der gleichen Medaille, zwei Komponenten, die den Mythos Bartali erst so richtig begreifbar machen. O-Ton Laura Guerra: Das ist wunderschön! Das zeigt uns, wie sehr Bartali sein Herz in diese Beine gelegt hat. Der Krieg hat ihm natürlich seine besten Jahre genommen. Aber dadurch haben wir einen ganz anderen Bartali kennenlernen können. Und so haben wir auch verstanden, warum Bartali das werden konnte, was er als Rennfahrer war. Wenn man darüber nachdenkt, dass er morgens mit dem Rad losfuhr um Leben zu retten und ohne zuhause davon etwas zu erzählen, da versteht man, was für einen Charakter, was für einen Biss er haben konnte. Sprecher: Menschen, die vom Sportsmann und vom Helden Gino Bartali fasziniert sind, und nicht zuletzt die, die Ihm sein Leben verdanken, sie wünschen sich, dass er einen Platz unter den Gerechten in Yad Vashem bekommt. Der Sohn des früheren Radstars, Andrea Bartali, hat die Hoffnung jedenfalls noch nicht aufgegeben. O-Ton Andrea Bartali: Das wäre eine große Genugtuung. Das hätte er angenommen. Weil er sich für einen gerechten Menschen gehalten hat, für einen Menschen voller Respekt. Diese Ehre hätte er von ganzem Herzen angenommen. Absage 2 1