COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Länderreport 25.9.2012 Gemeinschaftliches Grünzeug - Gartenkultur in Köln und Andernach Autoren: Tim Hannes Schauen, Stefanie Müller-Frank Redaktion: Heidrun Wimmersberg / Julius Stucke NeuLand in Köln/ Tim Hannes Schauen Anmoderationsvorschlag: Die Sehnsucht der Stadtbewohner nach Naturverbundenheit manifestiert sich nicht bloss darin, dass am Wochenende bei Sonnenschein Parks und Wiesen der Städte gut besucht sind, sondern auch in kleinerem Massstab:Tomaten auf der Fensterbank, Kräuter auf dem Balkon, begrünte Dachterassen. Ausserdem gibt es Baumpatenschaften, interkulturelle Gärten. Es gibt sogar Menschen, die Bienen auf ihrem Balkon halten, und das ist nicht mal illegal. Dass Großsstädter alleine oder gemeinschaftlich Gemüse anbauen, nennt sich Urban Gardening oder auch urbane Landwirtschaft, und New York ist die Hochburg dieses Phänomens. In Deutschland haben die Prinzessinnengärten in Berlin 2009 den Anfang gemacht. Genaue Zahlen über die Verbreitung gibt es nicht, doch die Tendenz ist stark steigend. Es gibt diese neue Landlust. Und die Lust auf frisches Gemüse macht eben auch vor Stadtbewohnern nicht halt. Urban gardening-Initiativen können Städte grüner machen und Menschen zusammenbringen. _____________________________________________________________________ Atmo 1 Baumaschinen rattern, laden Schutt ab O-Ton 1 Judith Levold Kürbisse! Es wächst gerade neuer Mangold, ist auch Spinat neu gesät worden... Autor 1 Bis vor einem Jahr war es auf dem 16.500 Quadratmeter großen Grundstück im Kölner Süden ungemütlich: O-Ton 2 JL ...es wachsen Kapuzinerkresse, jede Menge Kräuter, Basilikum, Estragon, Minze, was weiß ich... Autor 2 Auf der Industriebrache an der Ecke Koblenzer und Schönhauser Strasse stand einmal eine Kölschbrauerei - die Spuren der großen Gebäude werden bis heute beseitig: Bagger schieben Erdhaufen umher, schmeissen Schutt und Stahl in große Container, es lärmt und staubt - inmitten einer Wohngegend. Atmo 1 Baumaschinen rattern, laden Schutt ab O-Ton 3 JL ...es wachsen Sonnenblumen, Zucchinis sind ziemlich abgeerntet, neue Kohlrabi und Blumenkohle sind raus, äh, Himbeeren...Andenbeere, Schlangengurke, Lauch und - ich war jetzt allerdings vier Wochen in Urlaub, also ich bin nicht so ganz upgedatet. Autor 3 Doch das wird Judith Levold sicher ganz bald ändern. Die Journalistin gehört zum Gründungsteam der Initiative NeuLand Köln - vor einem Jahr haben Bewohner aus den Stadtteilen Bayenthal und der Südstadt beschlossen, die Häßlichkeit des lange brachliegenden Industriegeländes nicht länger mitansehen zu wollen. O-Ton 4 JL Weil das hier auch so ein verlassenes fieses Brachland war, so Unorte, die es eigentlich in jeder Stadt gibt, das hat uns sehr geärgert und wir haben uns gefragt: Was passiert damit? Zum einen wenn das Gelände entwickelt wird, und zum anderen was KANN da passieren, bis das Gelände entwickelt wird, und uns war sehr daran gelegen, dass die Bürger aus den angrenzenden Vierteln eine Möglichkeit haben, sich zu beteiligen an den Prozessen. Autor 4 Und weil die Entwicklung nicht vorankam, Nutzungsmöglichkeiten gesucht und verworfen wurden, haben die Bürgerbewegten das Gelände kurzerhand okkupiert. O-Ton 5 JL Startschuss war letztes Jahr im Juli, so eine Art Flashmob, da haben wir gesagt, wir gucken mal, wie viele Leute sich so für das Gelände interessieren und machen mal so nen Aufruf über Twitter, Facebook und so, und haben uns dann auch direkt eine Internetseite gebastelt mit einer befreundeten Grafikerin, wir machen hier einfach mal eine Aktion mit einem DJ auf dem Dach und so ein bisschen Party, und jeder bringt eine Planze mit und wir pflanzen das ein, und da hatten wir zehn Tage Vorlauf, und da kamen zweihundert Leute und da haben wir gedacht: Wow, das ist schon ganz schön viel für eine Spontanaktion. Autor 5 Schnell wurde klar, dass sich viele Anwohner für das Gelände interessieren - schließlich ist es zu groß, um diesen bis dato häßlichen Fleck übersehen zu können. Ein Jahr später wachsen hier nicht nur reichlich Blumen und Gemüse - auch die Initiative mit ihren ambitionierten Zielen wächst: neben Umwelt- und Naturschutz haben sich die Kölner Volksbildung und aktive Stadt-Mit-Gestaltung auf die Gartenkittel geschrieben. Kürzlich fand ein Workshop von ähnlichen Inititativen aus ganz Deutschland statt - das Kölner Urban Gardening Camp mit an die einhundert Teilnehmern. Doch nach der Gründung des NeuLandes im Juli 2011 stand und steht bis heute die Bewältigung praktischer und bürokratischer Hindernisse: zuerst musste der schadstoffbelaste Boden mit einer Gewebeplane abdeckt werden. O-Ton 6 JL Uns hat dann ein freundlicher Mensch, der von dem Projekt gelesen hatte und hier in Köln und Umgebung die Tennisplätze abräumt, kubikmeterweise, tonnenweise, diesen Tennisand gebracht umsonst, und so kam dann eins zum andern... Autor 6 Inzwischen, ein Jahr später, stehen an die 50 Beete aus Holzpaletten und Brettern zusammengezimmert auf dem rötlichen Untergrund. Eingerahmt wird das wilde Rot- Grün von Bauzäunen, durch die man Schutthaufen und im Hintergrund arbeitende Bagger sieht. Klar ist: Diese Art der Raumbeanspruchung ist nur temporär. Wenn das Land NRW beziehungsweise dessen Bau- und Liegenschaftsbetrieb eine Nutzung für das Gelände gefunden haben, muss das Projekt hier enden. Daher - und weil der Boden belastet ist - darf nur in mobilen Beeten gepflanzt werden. Doch derzeit ist die endgültige Lösung nicht in Sicht, und die Kölner haben für ihr Gartenprojekt die "Zwischennutzungserlaubnis" beantragt. Die Stadt Köln freut sich über die gute Presse des NeuLandes und möchte das Projekt für den Nachhaltigkeitspreis der Stadt nominieren. Zu den Gründern der Initiative gehören Journalisten, ein Schreinermeister, ein Koch, ein Fahrradhändler - Kölner Menschen mit unterschiedlichem beruflichen und privatem Hintergrund. Genauso wie diejenigen, die den neuen Kölner Garten inzwischen nutzen: Wilfried ist ein schmaler, schwarzhaariger Mann mit ruhigen, bedächtigen Bewegungen. O-Ton 7 Wildfried Seit ein paar Tagen steht am Eingang eine Himbeerpflanze, die wird leicht beschädigt, und heute ist ein guter Tag um eine Fruchtpflanze umzupflanzen am Neumond und Fruchttag, und ich habe gefragt, ob ich den Eimer hier benutzen darf, ob das ein guter Platz ist, und ich habe ein Okay und hier steht die Himbeere und die pflanze ich jetzt da rein. Autor 7 So ist die Struktur im NeuLand: jeder darf und soll mitmachen, was derzeit etwa 50 Menschen zwischen 20 und Mitte 60 regelmässig tun, doch Entscheidungen werden vom Organisationsteam getroffen. Sonst herrschte hier Chaos. O-Ton 8 W Ich bin ungefähr seit knapp drei Wochen hier, habe mir das ein paar Mal angeguckt, hab mich irgendwann mal auf den Platz getraut, und dann mit einem von den Vereinsgründern gesprochen, und seitdem bin ich also ziemlich täglich hier, und wenn es nur mal eine halbe Stunde ist, aber gestern ist es von neun bis vier geworden, das war überhaupt nicht vorgesehen, und heute soll das auf jeden Fall nicht nochmal so lange werden. Autor 8 Wilfried hat viel Zeit, den Grünen Daumen hat er von der Mutter geerbt. O-Ton 9 W Hier komme ich an die frische Luft, komme unter Leute. Autor 9 Der Fünfzigjährige macht sich an die Arbeit, topft die Himbeere um, zu der er jedoch keine allzu enge Beziehung eingestehen möchte. O-Ton 10 W Sobald man hier irgendwas hinstellt, irgendetwas mitbringt oder einpflanzt, das ist dann nicht MEIN sondern ALLGEMEIN. Autor 10 Heute jedenfalls ist die Himbeere bei Wilfried in guten Händen. Judith Levold telefoniert indes mit dem Handy, es gibt viel zu organiseren, denn so temporär und mobil dieser städtische Allmende-Garten auch ist, gibt es doch Pläne: ein Café soll eingerichtet werden oder der kleine Gartenladen, wo die selbst gezogenen Produkte verkauft werden sollen. Der Ertrag wird selbstverständlich in das Projekt gesteckt. Zwischendurch kommen immer wieder neugierige Besucher. O-Ton 11 Besucherin Wir wollten einfach gucken mal, weil ich hab das gestern gesehen auf der Internetseite und dann sind wir heute morgen hierhin gefahren, wir sind aus Marburg -Biedenkopf. Hier das finde ich toll, das kann man überall einbauen, integrieren in irgendwelche Grundstücke, Hinterhöfe, Gärten, sonst irgendwas, ungenutze Flächen - find ich toll. Autor 11 Und so nimmt die Besucherin aus dem Hessischen etwas mit: eine Tomate als Wegzehrung und die Inspiration, dass auch mobile Gemeinschaftsgärten Freude bereiten können. Judith Levold blättert in Bewerbungsmappen: bislang arbeitet das ganze Organisationsteam ehrenamtlich, doch bald soll ein angestellter "Gartenkoordinator" hier präsent sein, Fragen beantworten, Arbeitsvorgänge abstimmen. Diese 2/3 Stelle wird vom "Klimakreis Köln" gefördert. Denn: ein Garten macht viel Freude, aber auch viel Arbeit. Ob hinter dem Haus oder auf einer Kölner Industriebrache. Gemüse aus dem Park in Andernach / Stefanie Müller-Frank Vorschlag Anmoderation: Nicht dass in Andernach plötzlich die Verkehrsschilder aus Lebkuchen und der Fluss aus Schokoladenguss wäre. Ansonsten aber kommt man sich in der 30.000 Einwohner-Stadt am Mittelrhein durchaus vor wie im Schlaraffenland: Mitten im Park ranken Bohnen, vor der mittelalterlichen Stadtmauer wachsen Kartoffeln und Kohl. Und die Beete sind keine Zwischennutzung von unten, keine bedrohte Pflanzaktion von Guerilla-Gärtnern, sondern von der Stadtverwaltung selbst initiiert. Überall heißt es ausdrücklich: Pflücken erlaubt. Gratis. Einige Andernacher ernten fleißig, andere können es noch immer nicht glauben, wie Stefanie Müller-Frank beim Bohnenpflücken erfahren hat. ___________________________________________________________________________ Atmo 1 Bohnen ernten Autorin Morgens halb zehn in Deutschland. Eine Frau Mitte 50 steigt vom Rad, zückt ihr Messer und streift durch die öffentliche Grünanlage zwischen Parkhaus und Stadtmauer. Angesprochen auf ihr Tun, zuckt sie zusammen. O-Ton 1 Heike Mützel Ja, man fühlt sich irgendwie als Dieb. (787, 7.24) Autorin Dabei ist es in Andernach vollkommen legal - ja explizit erlaubt, alles zu ernten, was hier auf den öffentlichen Grünflächen wächst: Den Kohl und die Kartoffeln, die Quitten, Bohnen und Knackmandeln - ja sogar die Wildblumen und Dahlien. Viele Bürger mussten sich daran erstmal gewöhnen. Auch Heike Mützel. O-Ton 2 Heike Mützel Ich habe mich anfangs auch nicht getraut, weil ich bin nicht so bedürftig. Also ich habe auch gedacht, es wäre für die Leute, die zur Tafel gehen oder so. Dann hatte ich mit den Gärtnern gesprochen und die sagten zu mir: Hier kann jeder nehmen. Und dann bin ich anfangs mit dem Fahrrad und da waren die Physalis hier unten auch und da hat eine ausländische Frau - ich kannte die nicht - die hat mir erzählt: Hier, probier mal! - Oh! Da bin ich mit dem Fahrrad immer mal schnell angehalten und habe zehn Physalis gegessen und dann bin ich weitergefahren. (787, 3.22) Atmo 2 Rathausplatz und Schritte Autorin Seit drei Jahren baut Andernach auf seinen öffentlichen Grünflächen nicht nur die üblichen Ziersträucher und immergrünen Bodendecker an, sondern vor allem Nutzpflanzen - also Salat, Gemüse und Wildkräuter. Sogar am Rathaus rankt wilder Wein empor. Tomaten statt Tulpen? Kohl im Stiefmütterchenbeet? Dafür erntet die Stadt am Mittelrhein viel Erstaunen, erzählt der Landespfleger Lutz Kosack auf dem Weg von seinem Büro im Rathaus zu den Kartoffelbeeten vor der Stadtmauer. O-Ton 3 Lutz Kosack Das ist schön zu beobachten, wenn Besucher kommen, die es nicht kennen. Die so ganz zögerlich erstmal herangehen und so ein bisschen gucken: Das sieht ja aus wie Kohl, das ist Kohl! Wie kommt denn Kohl hierher? (773, 3.50) Autorin Was nach dem Krieg aus schlichter Not heraus durchaus üblich war - also jede freie Fläche für den Anbau von Obst und Gemüse zu nutzen - das ist längst aus dem Stadtbild und dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. O-Ton 4 Lutz Kosack Es gibt Fotos vom Potsdamer Platz, der flächendeckend mit Gemüsebeeten bepflanzt war. Jede Verkehrsinsel war mit Kohl bepflanzt, weil man einfach die Pflanzen brauchte. (774, 6.27) Autorin Stattdessen herrscht heute in vielen Städten die gleiche Einfallslosigkeit, was die Grünflächenbepflanzung betrifft, sagt Lutz Kosack. Der Diplom-Geoökologe arbeitet seit 11 Jahren bei der Stadtverwaltung Andernach. Er zeigt auf ein mit Steinen eingefasstes Rechteck am Rand der Fußgängerzone, das noch nicht zum Gemüsebeet umgewandelt wurde: Dunkelgrüne Berberitzensträucher, Kirschlorbeer und Liguster bedecken den Boden - Grünpflanzen, die weder attraktiv, noch ökologisch wertvoll sind. Und doch so üblich, dass man vorbeigeht, ohne hinzuschauen. O-Ton 5 Lutz Kosack Das hier ist ökologisch sinnfrei allerdings. (lacht) 775, 4.05) Ich nenne es immer Friedhofsgrün. (775, 3.27) Diese Bodendecker kennt man ja in jeder Stadt. Das sind diese klassischen Bodendecker, die heute einfach so üblich sind. Die machen eine Stadt nicht lebendig. (775, 4.05) Atmo 3 Glocken Autorin Dennoch gab es große Bedenken in der Stadt, als Lutz Kosack und seine Mitstreiter damit anfingen, die Stadtmauer mit Tomatenstauden zu bepflanzen und im Flutgraben Rhabarber, Kapuzinerkresse und Kürbisse zu ziehen. Dessen kelchförmige Blüten leuchten gelb zwischen all dem Grün in der Tiefe. Früher funkelten hier vor allem die grünen Scherben von zerschmetterten Bierflaschen zwischen Müll und Brennnesseln. O-Ton 6 Lutz Kosack Wir haben ganz gezielt Flächen gewählt, die dem Baubetriebshof viel Arbeit machen. Also gerade so Flächen, wie wir sie eben gesehen haben, die früher gerne vermüllt wurden, so Pinkelecken. Die mussten auch entmüllt, die mussten auch gemäht werden. Das heißt, das sind Flächen, die sind für den Bürger unattraktiv und trotzdem verursachen sie für die Stadt Kosten. (776, 6.05) Autorin Steuergelder für Vandalismus - das prognostizierte man auch den öffentlich zugänglichen Gemüsebeeten, erzählt Lutz Kosack. O-Ton 7 Lutz Kosack Ich hatte hier hundert verschiedene Tomatenpflanzen gesetzt: Eine Pflanze kostet nämlich 1,50 Euro. Wir haben also in Andernach über Vandalismus in öffentlichen Grünflächen diskutiert, es ging um einen Betrag von 150 Euro. Gleichzeitig wurde hinten in den Rheinanlagen eine Parkbank zerlegt und wieder aufgebaut - das kostete 500 Euro. Das hat nicht mal einen Dreizeiler in der Zeitung gegeben. Weil das quasi normal ist. (774, 11.05) Insofern ist es auch ganz gut, mal darüber zu diskutieren: Was passiert so an Vandalismus im öffentlichem Raum? Wer bezahlt da? Und wer ist dafür verantwortlich? Und wie gehen wir damit um? (774, 1.32) Autorin Die befürchtete Zerstörungswut ist nicht eingetreten, die Andernacher gehen sorgsam mit ihren Bohnenranken, Zucchinipflanzen und Mandelbäumchen um. Geht jemand mit seinem Hund durch die Anlagen spazieren, wird er auch schon mal darauf angesprochen, dass andere noch essen wollen, was hier wächst. Bedenken Nummer 2: Abgeerntete Kartoffeläcker und verblühte Wildblumenwiesen könnten zu unordentlich aussehen. O-Ton 8 Lutz Kosack Wir haben zum Beispiel Trittrasenflächen in den Rheinanlagen unten, so die klassischen Trittrasenflächen, die man in jeder Stadt sieht. Und wir haben teilweise Kleinstflächen aus der Maat herausgenommen. Und dann kommt der Bürger und sagt; Ihr pflegt die Flächen nicht, das sieht wild aus. Wir haben dann an den Seiten herum jeweils einen Meter breiten Maatstreifen angelegt, der dem Bürger zeigt: Das hier ist gewollte Wildnis. Und plötzlich ist das ästhetische Denken total umgeschlagen, plötzlich hieß es; Das ist ja toll, ganz viel Schafgabe hier, wo habt ihr denn die schöne Saatgutmischung her? (775, 7.40) Autorin Bedenken Nummer 3: Der Kostenfaktor. Tatsächlich ist es aufwändig, Gemüsebeete zu pflegen und zu bewässern. Die Stadt hat dafür sechs Bürgerarbeiter, also Langzeitarbeitslose, eingestellt. Das kann man kritisieren. Aber die Stadt kann es sich nicht leisten, einen Gärtner anzustellen, sagt der Landespfleger Lutz Kosack. Und Bohnenranken in der Fußgängerzone sind eben (noch) keine originär kommunale Aufgabe. Weitaus kostengünstiger kommen die Stadt da die Wildblumenwiesen. Denn Stauden und Gräser brauchen - wenn gemulcht - nicht mehr gewässert zu werden und blühen das ganze Jahr über. Vor allem aber kommen sie jedes Jahr wieder, müssen also nicht - wie die klassischen Wechselbeete - ständig erneuert werden. O-Ton 9 Lutz Kosack Im Frühjahr sind da die Tulpen drin, dann kommt der Baubetriebshof und schmeißt die ganzen Tulpen auf den Müll, dann kommen de Sommerblumen rein, die fliegen dann wiederum Ende des Sommers auch raus, dann kommen die Stiefmütterchen über den Winter rein. Alle Sachen immer wieder direkt auf den Müll - das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. (776, 8.28) Autorin Und während ein Quadratmeter Wechselbeet mit 60 Euro pro Jahr veranschlagt werden muss, kostet ein Staudenbeet gerade mal 10 Euro. Bedenken Nummer 4 kann Lutz Kosack nicht ganz ausräumen: Es kommt vor, erzählt er, dass eifrige Andernacher auch mal vorschnell ernten. Deshalb bespricht der Landespfleger mit Gerhard Eberlein, dem Leiter der Gartenbauarbeiten, was sich auch im Spätsommer noch anpflanzen ließe, um die Beete wieder aufzufüllen. Atmo 4 harken O-Ton 10 Lutz Kosack und Gerhard Eberlein Hier vorne standen die Kartoffeln, das sah total schön aus mit den Kartoffelblüten. Die waren aber auch relativ schnell dann weg. Wurden die en bloque abgeerntet? - Wir hatten die Vogelschutznetze drüber gemacht, damit das länger hält. Und haben die so nach und nach abgerollt und so wurden sie dann auch geerntet. Also sobald ein Netz weg war, waren auch die Kartoffeln weg. Viele Leute, die warten drauf, damit das Zeug fertig wird und sie ernten können. Manchmal schon zu früh. (773, 15.30) Autorin Susanne Fuchs nickt. Die 49-Jährige harkt die Erde vor der Stadtmauer. Sie ist eine der sechs Bürgerarbeiterinnen, die sich um die Pflege des öffentlichen Gemüses kümmern. O-Ton 11 Susanne Fuchs Das war so ein bisschen als Schutz, weil wirklich viele einfach mal dran gezogen haben. Die haben ja auch toll geblüht. Sind aber viele hingegangen und haben einfach mal daran gezogen. Waren sogar vereinzelt mal Leute, die gedacht haben, das wären Tomaten und einfach mal geguckt haben, was das so ist. Nur wachsen sie dann nicht mehr weiter. (782, 4.28) Autorin Susanne Fuchs und ihre Kollegen fangen morgens um halb acht an. Wer regelmäßig zum Ernten kommt, ist da schon längst wieder weg, erzählt sie. O-Ton 12 Susane Fuchs Also die, die wirklich interessiert sind - das sind aber wirklich so die Stammkunden - die kommen dann eher so um sieben, weil sie sich vielleicht schämen, gesehen zu werden. Oder auch, weil sie arbeiten gehen. (782, 9.55) Autorin Heute früh hat sie schon zwei Rotkohl und einen Blumenkohl für Andernacher abgeschnitten, die keine Messer dabei hatten. Für sich selbst erntet die Bürgerarbeiterin aber nicht. O-Ton 13 Susanne Fuchs Weil es mir immer leid tut. Ich will es immer dran hängen lassen, wenn dann einer kommt und noch ein bisschen Spaß hat, weil da noch ein paar Bohnen hängen. Ich hole nichts mit, ich würde es aber mitholen. (782, 11.20) Autorin Sogar die Stauden, die auf der Wildblumenwiese für die Schmetterlinge blühen, dürfen gepflückt werden. Vor allem ältere Andernacher freuen sich darüber, dass sie sich hier Wildblumensträußchen aus Kornblumen, Mohn, Malven, Borretsch, Mandelröschen und Ringelblumen schneiden dürfen. Viele von ihnen hatten früher einen eigenen Garten, konnten die Pflege aber nicht mehr bewältigen und fragen jetzt in der Stadtverwaltung an, ob sie nicht ab und zu mal mitgärtnern könnten. Generell herrscht in Lutz Kosacks Büro im Rathaus neuerdings viel Publikumsverkehr. Atmo 5 Rathausplatz O-Ton 14 Lutz Kosack Bürger kommen auch viel mehr und äußern Wünsche und sagen: Also ich habe in meinem Garten ganz viele Kohlsorten und das war früher ganz typisch für Andernach, dass Kohl angepflanzt wurde, warum macht ihr nicht mehr mit Kohl? Ich habe zu Hause einen Kopf stehen, der wird riesig, ich gebe euch mal von dem Material, damit ihr das auch mal pflanzen könnt. Und das ist natürlich eine ganz tolle Situation, dass der Bürger auch in die Pflege und Gestaltung von Grünanlagen eingebunden wird. (773,9.54) Autorin Was auf den ersten Blick nur nach einem gelungenen Marketinggag klingt, erfüllt tatsächlich viele wichtige Funktionen in einer Stadt: Die Menschen fühlen sich mit einem Mal verantwortlich für ihre Grünanlagen, freuen sich an buntem Mangold und kommen miteinander ins Gespräch über alte Gemüsesorten aus der Region, nehmen sich Saatgut mit für ihren eigenen Garten. Kinder lernen, wie viele Sorten Tomaten es gibt und wie man sie erntet. Und auch für Bienen und Schmetterlinge sind Stauden- oder Gemüsebeete attraktiver als immergrüne Bodendecker. Artenvielfalt statt Einheitsgrün - das lädt offenbar zum Mitgestalten ein. O-Ton 15 Lutz Kosack Wir haben jetzt mehrere Anfragen von Bürgern, die würden gerne ein Beet vor ihrer Haustür übernehmen: Ich will da in dieses öffentliche Beet jetzt Gemüse pflanzen, ist das in Ordnung, könnt ihr mir das Saatgut zur Verfügung stellen? Ich kümmere mich den Rest des Jahres darum. Und das ist eine Rechnung, die in der Summe für die Stadt sehr positiv ist. (776, 17.05) Autorin Ein Andernacher, dessen Haus an den Rathausplatz angrenzt, hat die Stadtverwaltung sogar gebeten, die öffentlichen Pflastersteine zu entfernen. Jetzt wachsen dort Sonnenblumen und Rosmarin. Atmo 6 Bohnen ernten Autorin Heike Mützel will zu der Tüte mit geernteten Bohnen noch eine Dahlie für ihren Balkon pflücken. Prall leuchten überall die Blüten in rot und gelb. Da könnte sie doch auch einen ganzen Strauß mitnehmen. Heike Mützel schüttelt entrüstet den Kopf. Eine reicht. Aber die Schönste soll es schon sein. O-Ton 16 Heike Mützel Können wir nochmal schnell da gucken? Vielleicht ist da noch eine schönere... Ja, die! Da ist die Schere zu schwach. Aber wir hätten ja auch ein Messer. Ach, die riechen auch noch. Wunderschön! (787, 7.54)