KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Kostenträger : 62 300 Titel der Sendung :“Die Hölle war nicht traurig“. Schriftsteller und Literaturvermittler in Marokko AutorIn : Sigrid Brinkmann Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 2.6.2013 Regie : Clarisse Cossais Besetzung : Autorin spricht selbst, Sprecherin, Sprecher, Zitator Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur: Literatur 2. Juni 2013, 0:05 – 1:00 „Die Hölle war nicht traurig“ Schriftsteller und Literaturvermittler in Marokko Von Sigrid Brinkmann Atmo Casablanca Darauf Autorin 1: Im 14. Stock eines Hochhauses am stark befahrenen Boulevard d’Anfa in Casablanca hat der Verlag Le Fennec seine Redaktionsräume. 1987 machte Layla Chaouni den widerstandsfähigen Wüstenfuchs mit den hochgestellten langen Ohren zum Emblem für ihr Buchunternehmen. Anfangs wollte sie ausschließlich belletristische Literatur publizieren, doch weil sie schnell begriff, dass ein gesteigertes Interesse an Texten existierte, die den Zustand der marokkanischen Gesellschaft analysierten, schuf sie Reihen mit wirtschaftstheoretischer und juristischer Fachliteratur und solche, die das Verhältnis von „Frauen und Macht“ reflektierten. Seither hat Layla Chaouni über 400 Bücher herausgebracht. Take 1 (Chaouni): Je suis la seule généraliste qui édite dans les deux langues … Darauf Sprecherin: Ich bin die einzige, die ein breites allgemeines Programm anzubieten hat und das in zwei Sprachen: Französisch und Arabisch. Weil man als Verleger mit dem Verkauf von Büchern materiell nicht über die Runden kommt, muss man andere Dinge mit bedienen. Viele Verleger betreiben eigene Druckereien oder Buchhandlungen. Sie haben Vertriebssysteme aufgebaut, die ihnen Geld einbringen. Sie sind selber Buchautoren oder haben eine Stelle als Dozenten und halten sich mit ihrer Rente über Wasser. In Marokko kann gegenwärtig kein Autor allein von seinen Publikationen leben. Bücher erreichen einfach keine hohen Auflagen. Hunderttausend Exemplare drucken: Das ist absolut illusorisch. Verleger sind gezwungen, andere Tätigkeiten auszuüben, wenn sie weiter Bücher herausbringen wollen. …. continuer à faire des livres. Autorin 2: Die 1953 in Fès geborene Layla Chaouni ist Marokkos einzige Verlegerin. Eine elegante Frau mit kühler Ausstrahlung, die vom Schreibtisch aus die unermessliche Weite des atlantischen Meeres sehen kann. Im Jahr 2011 wurde sie vom französischen Kulturminister mit dem Orden „Chevalier des Arts et des Lettres“ ausgezeichnet. Verliehen wird der Orden an Persönlichkeiten, die sich für die Pflege und die Verbreitung der französischen Sprache einsetzen. Layla Chaouni besteht indes auf einem ausgeglichenen Verhältnis der Sprachen in ihrem Programm. Take 2 (Chaouni) Dès qu’il y a un livre qui se vend bien dans une langue … Darauf Sprecherin: So wie sich ein Buch gut verkauft, lasse ich es in die jeweils andere Sprache übersetzen. Wenn ich ein neues Programm plane, dann sage ich nicht, ich bringe vier Bücher auf Arabisch und vier auf Französisch heraus. Proporz interessiert mich nicht. Ich veröffentliche nur Bücher, die es in meinen Augen verdienen, gelesen zu werden. Wir wechseln ja eh sehr einfach von einer Sprache in die andere. … d’une langue à l’autre. Autorin 3: Neben Arabisch und Französisch werden in Marokko der Berberdialekt Amazigh und das marokkanische Dialektarabisch Darija gesprochen. Wer in den 1980er und -90er Jahren Amazigh sprach, setzte sich dem Verdacht des Sektierertums aus. König Hassan II. führte das Land 38 Jahre lang mit eiserner Hand, bis 1999. Der Volksmund spricht von seiner Amtszeit nur als „die bleiernen Jahre“. Nach König Hassans Tod begann eine andere Zeitrechnung. Sein Sohn Mohamed VI gründete ein Institut zur Erforschung der Amazigh-Sprache und setzte 2004 eine Wahrheitskommission ein, die Menschenrechtsvergehen zwischen 1956 und 1999 aufklären sollte. In 10.000 Fällen wurde materielle Entschädigung geleistet. Der Schriftsteller Edmond Amran Elmaleh hatte Marokko in den 50er Jahren aus politischen Gründen verlassen. Er war Kommunist. Auch Mahi Binebine und Youssouf Amine Elalamy haben viele Jahre im Ausland gelebt, bevor sie in ihr Geburtsland zurückkehrten. Alle drei schreiben auf Französisch. Elalamy hat auch Erzählungen auf Darija geschrieben. Dass sich Amazigh als literarische und als Verkehrssprache behaupten wird, hält er für unwahrscheinlich. Take 3 (Elalamy): Le choix de cet alphabet va énormément retarder le développement de la langue amazigh et sa diffusion… Darauf Sprecher: Die Tifinagh-Schreibweise, für die man sich entschieden hat, wird die Entwicklung und die Verbreitung der Amazigh-Sprache enorm verlangsamen. Sie ähnelt weder dem Arabischen noch dem Lateinischen. Viel zu wenige können sie lesen und schreiben. (Es wird eine Ewigkeit dauern, das Tifinagh-Alphabet durchzusetzen.) Man versäumte es, Synergien zu nutzen, indem man auf vorhandene Strukturen, auf bekannte Schreibweisen zurückgreift. Und die neuen Technologien sollte man auch nicht vergessen, aber ob jemals ein iphone mit Tifinagh-Tastatur auf den Markt kommt? Wohl kaum. Außerdem gibt es in Marokko noch drei Varianten der landeseigenen arabischen Sprache. Man unterscheidet die Sprachen des Rifgebirges, des Hohen Atlas und des Südens. … et du Souss dans le sud; déjà au Maroc il y a trois variantes. Autorin 4: „Das linguistische Drama Marokkos“ heißt denn auch ein Spitzentitel des Fennec-Verlags. Vielsprachigkeit bedeutet nicht, dass die Sprachen gleichrangig im Unterricht und in der Lehre eingesetzt werden. Wer nicht bereit ist, auf Französisch oder Englisch zu publizieren, koppelt sich langfristig ab aus institutionellen Netzwerken, die auf den globalen Austausch von Forschungsergebnissen und Analysen setzen. Die Entscheidung darüber, welche Sprachen in Marokko dringend gefördert werden müssen, um Verbindungen mit der Welt zu vertiefen, ist richtungweisend, doch für den Alltag von über 30 Prozent der Marokkaner spielt sie keine Rolle. Es sind jene neun Millionen Marokkaner von dreiundreißig können weder lesen noch schreiben. Von der schändlich hohen Analphabetenrate sind Mädchen und Frauen besonders betroffen. Atmo Darauf Autorin 5: Jamila Hassoune führt in Marrakech einen Buchladen. Er befindet sich im Universitätsviertel, inmitten von zweistöckigen, ockerfarbenen Wohnanlagen für Studenten. Zu Beginn der 90er Jahre beobachtete Jamila Hassoune, dass Studenten immer seltener die Schwelle zu ihrem Laden übertraten, dass sie zwar lange in den Kästen mit preiswerteren Büchern vor dem Schaufenster kramten, sich dann aber doch still entfernten, ohne etwas gekauft zu haben. Take 4 (Hassoune): La plupart des étudiants, ils viennent de loin … Darauf Sprecherin: Die meisten jungen Studenten kommen aus weit entfernt gelegenen Regionen, aus der Wüste oder dem Hohen Atlas. Ich begriff, dass ihnen etwas fehlte. Ich selbst hatte das große Glück, inmitten von Büchern aufzuwachsen. Als ich mich umsah, entdeckte ich schnell, dass es so etwas bei den Nachbarn nicht gab. Da standen nirgends Regale im Raum. Ich habe angefangen, mich mit den jungen Studenten zu unterhalten und bin in ihre Dörfer gefahren, um zu verstehen, wie sie aufwuchsen. Es gibt keine Bücher in den Dörfern, keine kulturelle Infrastruktur in den Schulen. Ich dachte: das ist ja die reinste Science-fiction! …mais c’est de la science-fiction! Autorin 6: 1996 bepackte Jamila Hassoune zum ersten Mal einen großen Kombi mit Buchkisten und steuerte die Dörfer des Hohen Atlas an. In den unwegsamen Gebieten gibt es Schulen, aber keine Bibliotheken. Die Analphabetenrate in der Atlas-Region schätzt die reisende Buchhändlerin entgegen offizieller Berichte sogar auf 70 Prozent. Unterstützt wurde Hassounes Expedition auch von der international bekannten Soziologin Fatema Mernissi, die wiederum zu den festen Autorinnen der Editions Le Fennec gehört und dort ihre bahnbrechenden Bücher „Die Sultanin“ und „Die Angst vor der Moderne“ veröffentlichte hatte. Aus der „Bücherkarawane“ wurde 2006 eine „caravane civique“, eine „Bürgerkarawane“. Maler und Graphiker, Schriftsteller und Pädagogen brechen seither gemeinsam zu Fahrten in Wüstenoasen oder Bergdörfer auf. Sie errichten Malateliers und laden junge Leute zu Schreibwerkstätten ein. Bücher gibt es in den abgelegenen Orten kaum, Handys und Computer schon. Take 5 (Hassoune): Au Maroc on a passé d’une tradition orale … Darauf Sprecherin: In Marokko sind wir von der mündlichen Tradition direkt zur Internet-Nutzung übergegangen. Das Buch spielt kaum noch eine Rolle. Unser Schulsystem hat arge Mängel. In meiner Schulzeit hatten wir das Glück, dass die Lehrer uns immerzu ermutigten. Wenn ich heute ein Oasendorf besuche, erreiche ich zwei, drei Leute; vielleicht fünf. Und ich kann mich glücklich schätzen, denn sie werden zu Multiplikatoren. (…) Man muss den Kindern und Jugendlichen so viel wie möglich anbieten – Sport, Musik und Poesie -, damit sie Zutrauen fassen und lernen, sich auszudrücken. In vielen Familien haben Kinder nichts zu melden. In Anwesenheit von Erwachsenen sitzen sie still herum. In gebildeten Kreisen ist das natürlich anders. Ich bin wirklich immer zu Tränen gerührt, wenn ich erlebe, wie Kinder und Jugendliche auftauen, so wie man ihnen eine Gelegenheit dazu gibt. … on donne la possibilité. Autorin 7: Jamila Hassoune organisiert Poesie-Festivals und bringt interessierte Ausländer mit einheimischen Interessengruppen zusammen, vornehmlich Juristinnen, die für einen umfassenderen Schutz lediger Mütter und geschiedener Frauen streiten. 2007 hat sie die Stiftung Ain Agadem mit Sitz in Marrakech gegründet und dafür Unterstützung in München gefunden. Take 6 (Hasssoune) Dans le projet avec les Allemands, c’est ca: On va essayer de rehabiliter … Darauf Sprecherin: Mit den deutschen Partnern werden wir eine Schule bauen und so einrichten, dass Kinder sich in ihr einfach wohlfühlen. Die Räume müssen gut geheizt sein, wenn es draußen kalt ist. In vielen Dörfern gibt es weder Toiletten noch fließendes Wasser in den Häusern. Die Schule wird das bieten. Und natürlich brauchen wir gut ausgebildete Lehrer. Es gibt noch viel zu tun. … Il y a encore beaucoup de choses à faire. Autorin 8: Und die Lehrer müssen auf Fachliteratur zurückgreifen können. Buchhändlern und Verlegern bleibt nichts anderes übrig, als in eigener Initiative für das Buch und um Publikum zu werben. Die marokkanischen Buchausgaben kosten etwa ein Viertel dessen, was man für denselben Text in anderer Aufmachung in Frankreich bezahlen muss. Aber selbst 50 Dirham für einen Roman – umgerechnet etwa 5 Euro – können viele Leser nicht nebenbei aufbringen. Layla Chaouni: Take 7 (Chaouni): Dans un pays comme le nôtre … Darauf Sprecherin: In einem Land wie dem unsrigen, einem Dritte-Welt-Land, wo die Kultur keinen festen Platz hat und institutionell nicht gefördert wird und wo den Leuten außerdem das Bewusstsein fehlt, dass Kultur etwas Lebenswichtiges ist, da wird das geistige Leben halt vernachlässigt. Wir sind in einem solchen Klima aber auf Unterstützung angewiesen. Die komplette Werbung für Bücher und ihre Autoren können wir nicht auch noch übernehmen. Das ist einfach nicht zu schaffen bei den ohnehin niedrigen Buchpreisen. Es ist unmöglich. … C‘est impossible. Autorin 9: Dass der bis 2012 als Kulturminister amtierende Bensalem Himmich keinerlei Strategie ersann, um Literatur gezielter zu vermitteln, enttäuschte die Kulturschaffenden in Marokko zutiefst - zumal Himmich selber Schriftsteller ist und Universitätsdozent war. Take 8 (Chaouni): La télé est le meilleur support … Darauf Sprecherin: Im Fernsehen wäre wirkungsvolle Werbung möglich, aber die Programme rühren keinen Finger für die Verlage. Es gab in den vergangenen Jahren das eine oder andere Kulturmagazin im Fernsehen, aber diese Sendungen sind alle eingestellt worden. Es ist eine Schande. Für das Kino wird jetzt eine Menge getan. Jedes Mal, wenn ein marokkanischer Film in den Kinos startet, werden eine Woche lang Trailer im Fernsehen gesendet. So etwas bräuchten wir zur Unterstützung der marokkanischen Buchkultur. … pour les livres marocains. Autorin 10: Viele marokkanische Autoren versuchen, Verleger in Frankreich zu finden, nicht, weil sie unbedingt möchten, dass ihre Bücher in französischer Sprache herauskommen, sondern weil sie auf dem marokkanischen Markt untergehen. Die Bücher, spottet Chaouni, kämen ja fast unbemerkt heraus. Sie selbst hat nie gezögert, Zeichen zu setzen:1989 veröffentlichte sie als Erste einen Band mit Erzählungen des damals inhaftierten Abdelkader Chaoui über die Repression während der „bleiernen Jahre“ unter König Hassan II. Chaoui wurde als Marxist von 1974 – 1989 im Gefängnis festgehalten. Dazu Youssouf Amine Elalamy, Schriftsteller, Universitätsdozent und stellvertretender Generalsekretär des marokkanischen PEN. Take 9 (Elalamy): Sous l’ancien règne il y avait beaucoup de prisons … Darauf Sprecher: Unter der Herrschaft von Hassan II gab es viele Gefängnisse. Die Schriftsteller Abdellatif Laâbi und Abdelkader Chaoui saßen ein. Heute - das ist doch symbolisch - ist Chaoui Botschafter in Chile …Man kann schon sagen: Die Zeiten haben sich geändert. …. Autant dire les temps ont changes depuis. Autorin 11: Knapp kommentiert Elalamy die erstaunliche Wende in Chaouis Leben. Die Chilenen haben 1988 die Chance ergriffen, ihren Diktator in einem Referendum abzuwählen. Die Marokkaner warteten, bis Hassan II starb und sein liberaler Sohn die Nachfolge antrat. Edmond Edmond Amran El Maleh ging 1956 als Kommunist ins französische Exil. Er kehrte erst 1999, nach dem Tod von Hassan II., nach Marokko zurück. Auch El Maleh, dessen Manuskripte heute stolz in der Nationalbibliothek von Rabat präsentiert werden, ist ein Autor des Verlages Le Fennec. Ebenso der Lyriker Abdellatif Laâbi. Er hat sich nach seiner Haftentlassung für ein Leben außerhalb Marokkos entschieden. Laâbi arbeitet in Frankreich – so wie Tahar Ben Jelloun. Ben Jelloun hat seine schriftstellerische Karriere vollständig in Frankreich aufgebaut, und trotzdem gilt er – durchaus zum Ärger marokkanischer Autoren – als eine gewichtige Stimme Marokkos. Dass Ben Jelloun nur drei Monate nach Ausbruch der Revolution in Tunis seine Notizen als Analyse des „arabischen Frühlings“ verkaufte, empfindet ein zurückhaltender Autor wie Elalamy als grobe Anmaßung. Elalamy hat von 1991 bis 1994 in New York gelebt. Er hat Medienwissenschaft studiert und sich auf Urheberrechtsfragen spezialisiert. Als jemand, der fließend Arabisch, Französisch und Englisch spricht und in New York Erfahrungen in der Werbebranche gesammelt hat, erhielt er etliche Arbeitsangebote in den USA. Take 10 (Elalamy): J’ai décliné toutes ces offres … Darauf Sprecher: Ich habe sie abgelehnt, denn ich wollte unbedingt zurück nach Marokko und mir hier ein Leben aufbauen. Nach meiner Rückkehr habe ich 1998 das episodenhafte Buch „Ein Marokkaner in New York“ geschrieben. Ich hatte damals das Gefühl, eine Bringschuld begleichen zu müssen. Ich habe in Marokko studiert, ohne jede Studiengebühr. Ich dachte, das Mindeste, was du tun kannst, ist, dein erworbenes Wissen weiterzugeben und auf diese Weise etwas beizutragen zum Aufbau meines Landes. Marokko braucht ganz sicher mehr Unterstützung als die Weltmacht Amerika. … que la première puissance mondiale. Autorin 12: Elalamy, 52 Jahre alt, lehrt Medienkunde am Fachbereich Anglistik der Universität von Kenitra, unweit von Rabat. In nur wenigen Jahren, sagt er lachend, hätten er und seine Kollegen es geschafft, dass sich die Zahl der Anglistik-Studenten verdoppelte; bei den Arabisten gebe es deutlich weniger Einschreibungen. Die jungen Marokkaner, meint er, sähen sich bereits als Teil einer globalisierten Welt. Der Romancier, Maler und Bildhauer Mahi Binebine lebt seit elf Jahren wieder in Marokko, aber er fliegt häufig zu Lesungen und Ausstellungen seiner Werke nach Europa und Amerika. Sein Lebensgefühl ist ein globales. Er und Youssouf Elalamy gehen in ihrer Literatur aber gezielt brisante gesellschaftliche Probleme an: die hohe Arbeitslosigkeit und das Verlangen, um jeden Preis zu emigrieren und dafür ein Leben in der Illegalität in Kauf zu nehmen, sowie Anwerbestrategien terroristischer Gruppierungen und die Aufarbeitung der „bleiernen Jahre“ unter der Regentschaft von Hassan II. Binebine hat in Paris Mathematik studiert und das Fach acht Jahre lang unterrichtet, bevor er einen ersten Roman veröffentlichte und dann auch noch zu malen anfing. Sein sarkastischer Humor ist bestechend. Nach mehr als zwei Jahrzehnten in Frankreich und den USA zog der Künstler mit seiner Familie 2002 nach Marrakech. Take 11 (Binebine): J’ai deux filles nées à New York et une à Paris … Darauf Sprecher: Zwei meiner Töchter wurden in New York geboren, eine in Paris. Ich dachte wirklich daran, mich in Paris niederzulassen, aber dann schaffte es 2002 ein Faschist in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen: Jean-Marie Le Pen! Und ich habe binnen einer Woche entschieden, wieder nach Hause zurückzuziehen. Take aufblenden: … et j’ai décidé dans la semaine de rentrer chez moi. Je me suis dit: Je vais aller gérér mes extrémistes à moi (Lachen), je vais aller les gérér chez moi! Darauf Sprecher: Ich habe mir gesagt, dann kümmere ich mich doch lieber um die Extremisten bei mir zuhause, dann schau ich mal, wie ich mit denen fertig werde! Ich habe drei Töchter und wollte ihnen unter keinen Umständen zumuten, dass man sie schief ansieht oder gemeine Bemerkungen über sie macht. Ich kann überall leben, denn meine Bilder werden weltweit in Galerien ausgestellt, und für meine Bücher gibt es ebenso viele ausländische Verleger. Für was sollte ich mich in einem Land abmühen, in dem ich nicht willkommen bin? (Lachen) Also ging‘s zurück nach Marokko. Und ich bin sehr, sehr zufrieden, den Weg zurück zu Al Quaida gefunden zu haben. … et je suis très, très content d’être revenue envers Al Quaida. Autorin 13: Diese Art Humor, der sich aus Selbstironie speist, ist typisch für den 54-jährigen. Mahi Binebine macht sich über seine damalige Naivität lustig, denn als er Frankreich mit Frau und Kindern verließ, konnte er nicht ahnen, dass nur ein Jahr später terroristische Anschläge die marokkanische Gesellschaft zutiefst erschüttern sollten. Am 16. Mai 2003 sprengte sich eine Gruppe von Jugendlichen an fünf verschiedenen Plätzen in Casablanca in die Luft. Mahi Binebine fuhr nach Casablanca, um das Umfeld, aus dem die Täter kamen, mit eigenen Augen zu sehen. Fünf Jahre lang durchstreifte er immer wieder die Barackenstadt Sidi Moumen, sprach mit Bewohnern und beobachtete das Leben in dem labyrinthischen Geflecht. Take 12 (Mahi Binebine): Jusque-là on pensait qu’on était immunisé contre le terrorisme … Darauf Sprecher: Wir dachten, der Terrorismus hätte bei uns nicht die geringste Chance. Die Marokkaner sind nicht gewalttätig, sie sind sympathisch, sie haben nichts Böses (Lachen). Und plötzlich explodierten in Casablanca Bomben. Es gab 45 Tote und ein paar hundert Verletzte. Das war ein furchtbares Gemetzel! Man nahm an, dass die Attentäter alle aus Sidi Moumen kamen. Ich bin dort hingefahren. Slums gibt es in überall in Marokko, in Marrakech, in Rabat, überall …aber so etwas wie Sidi Moumen hatte ich nie zuvor gesehen. Dort leben 100.000 Leute in Wellblechhütten; das ist eine eigene Stadt, die obendrein direkt an die reichen Viertel von Casablanca grenzt. Ich sah eine Handvoll Jungen auf einem riesigen Müllberg Fußball spielen und wusste, das werden die Helden meines nächsten Romans sein! Nach zwei Jahren Arbeit an dem Buch „Die Engel von Sidi Moumen“ musste ich das Manuskript eine Weile weglegen, denn ich war kurz davor, die Attentate zu rechtfertigen. Ich dulde keinen Terrorismus, wollte die Selbstmordattentäter aber auch nicht als reine Monster darstellen – so wie man das in westlichen Filmproduktionen erlebt -, sondern eher als Opfer. … mais plutôt comme des victimes. Autorin 14: 2008 schloss Mahi Binebine den Roman „Die Engel von Sidi Moumen“ ab. Die deutsche Fassung erschien 2011 im Lenos Verlag. Binebine erzählt, wie es dazu kommen kann, dass ein 18-jähriger Junge bereit ist, zu sterben und andere mit in den Tod zu reißen. Er rollt das Geschehen aus der Perspektive eines zum „Geistwesen“ gewordenen – also getöteten - Attentäters auf, der in die Fänge einer „religiösen Mafia“ geraten war. Eingangs schildert Binebine die ganze Härte des Lebens in der Baracken-Stadt. Hâmid, der ältere Bruder des Erzählers, gab Jungen ein Handgeld dafür, dass sie für ihn, den auch erst Zwölfjährigen, auf der Mülldeponie nach Hörnern von Schafböcken suchten. Im Suk wurden Kämme daraus gemacht. Sie lösten Gummimantel von elektrischen Kabeln, um Kupfer zu gewinnen, sie sammelten Glas und reparierten gefundene Gegenstände. Eines Tages schlug Hâmid einen Freund des Erzählers beim Spiel der beiden Jungen heimtückisch nieder. Zitator 1: Ich wusste, dass er auch mich nicht verschonen würde. Mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln, die er auf der Deponie gefunden hatte, trat er mir in den Hintern, nannte mich eine Schwuchtel und noch vieles mehr, was ich nicht zu wiederholen wage. Ich sagte, wir hätten nur gespielt, wir hätten niemandem etwas zuleide getan. (…) Seit damals bin ich nie mehr zu den Ziehbrunnen gegangen. Mit Murâd war es zu Ende, er hatte die Schläge meines Bruders nicht überlebt. Sie haben ihn auf der Deponie begraben. (aus: Mahi Binebine, Die Engel von Sidi Moumen, Aus dem Französischen von Regula Renschler, Lenos Verlag, Basel 2011) Autorin 15: … verscharrt in tausendmal durchgekämmtem Müll. In Sidi Moumen reicht es, zu verbreiten, der Vermisste habe sich wie so viele andere Jugendliche in die Stadt durchgeschlagen, um jeder weiteren Frage zu entgehen. Elterliche Gewalt, so der Autor, verrohe Kinder von klein auf. Sich damit abzufinden, dass Gewalt den Alltag beherrscht, bedeutet die Hölle. Doch die Hölle, das zeigt Binebine mit seinen Schilderungen aus Sidi Moumen, ist nicht zwingend traurig: Die Kinder in den Slums spielen genauso gern wie jene, die keinen Mangel leiden. Sie verlieben sich, sie freuen sich über Fundstücke oder über eine Extraportion Essen – so wie jeder andere jenseits der Straßen, die die Wellblechhütten und Müllberge umschließen. Dass islamistische Attentäter nicht nur unter jungen Leuten aus prekären Lebensverhältnissen rekrutiert werden, hat die jüngere Geschichte längst gezeigt. Dennoch kommt die Mehrzahl derer, die die Schmach aller Gedemütigten in der muslimischen Welt mit explosiven „Paradiesgürteln“ tilgen wollen, aus bedürftigen Verhältnissen. Mahi Binebine porträtiert die zu Gotteskriegern rekrutierten Jungen aus Sidi Moumen – so Ali, den Sohn des einzigen Kohlehändlers in der Siedlung. Zitator 2: Schweigend schuftete Ali von früh bis spät, hob zwanzig Kilo schwere Säcke, brachte das Essen nach Hause, wusch das Geschirr ab, besprengte den Boden vor der Bude und erledigte eine Menge anderer mühseliger Geschäfte. Eine Pause einlegen konnte er nur, wenn zum Gebet gerufen wurde und sein Vater in die Moschee ging; er nutzte diese halbe Stunde, um mit einem bißchen Handel sein Taschengeld aufzubessern. (…) Hegte der Vater auch nur den leisesten Verdacht auf Diebstahl, wurde die Lage dramatisch: Er packte den Ochsenschwanz, der ihm als Peitsche diente, tauchte ihn in den Wasserkessel, ließ ihn knallen, um Ali, der, sein Gesicht mit den Händen schützend, am Boden kauerte, noch mehr in Schrecken zu versetzen, und schlug mit voller Kraft auf ihn ein, bis Blut floss. (…) Wie viele von uns hatte er die Schläge einigermaßen unter Kontrolle. Sie waren ein selbstverständlicher Teil seines Lebens geworden, genauso wie das bittere Gefühl der Demütigung, wie das Hässliche, das uns überall umgab, wie das verdammte Schicksal, das uns wehrlos dieser namenlosen Verwahrlosung auslieferte. (aus: Mahi Binebine, Die Engel von Sidi Moumen, Aus dem Französischen von Regula Renschler, Lenos Verlag, Basel 2011) Musikakzent Darauf Autorin 16: Mahi Binebines Roman „Die Engel von Sidi Moumen“ wurde von Nabil Ayouch als Vorlage für seinen Film „Les chevaux de Dieu“ – Die Pferde Gottes – benutzt. 2012 gewann der junge marokkanisch-französische Regisseur damit bei den Filmfestspielen in Cannes den Ersten Preis in der Reihe „Un Certain regard“. Ayouch hat noch während der Dreharbeiten im Slum eine Stiftung gegründet, die er nach einem obdachlosen Jungen benannt hat: Ali Zaoua. Dieser Junge ist der Held eines anderen Film von Nabil Ayouch, der junge Marokkaner ermutigen möchte, eine eigene Filmsprache zu entwickeln. Musik aufblenden Autorin 17: Wie Mahi Binebine, so hat auch Youssouf Amine Elalamy nach Erklärungen für die Anschläge vom 16. Mai 2003 gesucht.   Take 13 (Elalamy): Alors moi, je suis apolitique ce qui ne veut pas dire … Darauf Sprecher: Also, ich bin apolitisch, was nicht heißt, dass ich mich nicht für Politik interessiere, im Gegenteil, aber ich gehöre keiner Partei an, weil ich meine Unabhängigkeit wahren möchte. Ich habe auf das Ereignis mit acht Texten reagiert. Es sind keine journalistischen Texte, sondern Reflexionen. Die Presse war damals gespalten. Ein Teil verdammte die Attentate und griff alles und jeden an, der den islamischen Glauben als Motiv der Täter ins Spiel brachte. Take aufblenden: ... en prétendant que c’était à cause de cela. Il y avait des manifestations. Il était impossible d’avoir les deux groupes … Darauf Sprecher: Es kam zu Demonstrationen, und es war nicht möglich, die beiden Gruppierungen zusammen demonstrieren zu lassen. Die Regierung erlaubte eine Demonstration in Casablanca und eine in Rabat. Ich wollte meine Texte auf keinen Fall der Presse zum Druck anbieten, und darüber kam ich mit einem Redakteur ins Gespräch. Er hatte die Idee, eine einzige Nummer herauszugeben, nur mit meinen Texten. Im Zeitungsformat. Die Ausgabe hieß „Journal YAE“ – das sind meine Initialien. Ich konnte mir also Gehör verschaffen und bekam meine eigenes Sprachrohr. … dans ma propre tribune. Autorin 18: Literarisch verarbeitete Elalamy den Schock von Casablanca in seinem Roman „Oussama mon amour“. Er erschien im April 2011, zwei Wochen, bevor der Geheimdienst der USA Oussama Bin Laden in seinem pakistanischen Versteck exekutierte und im Touristen-Café Argana, mitten in Marrakechs Altstadt, eine Bombe 16 Menschen tötete. Take 14 (Elalamy): Dans mon roman on est dans la tête d’un kamikaze … Darauf Sprecher: In meinem Roman nimmt man von der ersten bis zur letzten Seite alles aus der Sicht eines Selbstmordattentäters wahr. Mich hat die innere Reise eines Mannes interessiert, der etwas Unverzeihliches begehen wird. Eingestreute Flash-backs helfen dem Leser, sich die Lebensgeschichte, die Komplexe und die Ängste des Protagonisten zu erschließen. Der Aspekt der Gehirnwäsche, den Mahi Binebine in „Die Engel von Sidi Moumen“ beschreibt und attackiert, hat mich überhaupt nicht interessiert. Ich habe bewusst einen anderen Zugang gesucht. … j’ai volontairement choisi autre chose. Autorin 19: Den verhassten Vornamen eines Mannes, der zur Symbolfigur für den globalen islamischen Terrorismus wurde, mit dem Wort Liebe zu verknüpfen, versteht Elalamy als Referenz an Marguerite Duras‘ Roman „Hiroshima mon amour“. Man tauscht ein Wort aus und schon ersetzt ein tödlicher Schrecken einen anderen. Vier Personen stehen im Zentrum des Romans „Oussama mon amour“. Take 15 (Elalamy): Mustafa, le kamikaze, et une victime rescapé qui a perdu sa femme … Darauf Sprecher: Da sind Mustafa, der Selbstmordattentäter, ein Überlebender des Anschlags, der seine Frau verloren hat, und der Vater des Attentäters. Die Stimme der Mutter nehmen wir nur durch den Vater vermittelt wahr. Es war mir wichtig den Eltern eine Stimme zu geben. Was geht in Menschen vor, wenn sie erfahren, dass ihr Kind ein terroristisches Verbrechen begangen hat? Letztlich wirft man ihnen doch vor, sie hätten den Teufel geboren. Aber sind wir tatsächlich verantwortlich für unsere Kinder? Die vierte Stimme ist die der Prostituierten Mina. Sie fühlt sich körperlich ungemein angezogen von einem gewissen Oussama. Und sie ist überzeugt davon, dass alles, was im Fernsehen über ihn verbreitet wird, falsch ist und dass er keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Ich hatte Lust, eine Gegenposition zu beziehen. Das ist doch schließlich die Rolle der Literatur. …. Qui ne pouurait pas faire mal à une mouche. J’ai eu envie de prendre le contre-pied. C’est le rôle de la littérature. Autorin 20: Der Name Oussama ruft in jeder der vier Figuren andere Emotionen wach: sehnsuchtsvolles Begehren, Verzweiflung, Trauer und Hass. Terroristisches Denken zum Gegenstand von Literatur zu machen – ebenso wie die brennenden Themen der illegalen Fluchtversuche und das Scheitern der Sozialpolitik anzugehen – ist in Marokko erst in jüngerer Zeit möglich geworden. Elalamy kennt als Gründungsmitglied und Generalsekretär des PEN Fälle von Zensur. Er selbst wird nicht behelligt. Take 16 (Elalamy): J’ai écrit plus récemment “Oussama mon amour” …. Darauf Sprecher: Als ich „Oussama mon amour“ veröffentlichte, ging das Manuskript ohne Streichungen oder die Bitte durch, einzelne Stellen zu überarbeiten. Aber man muss schon wach bleiben – aus Prinzip. Die Freiheit wird Tag für Tag aufs Neue erprobt, und einbüßen kann man sie schnell. Sie ist nie etwas ein für allemal Erreichtes. … Ce n’est jamais un acquis. Musik Autorin 21: Die „rote Linie“ überschreitet auch heute noch, wer die Person des Königs, dessen Familie, die Zugehörigkeit der Westsahara zum Staatsgebiet von Marokko und den Islam als Staatsreligion in Frage stellt. Mahi Binebine verließ Marokko im Alter von 21 Jahren. Sein ältester Bruder saß da bereits acht Jahre im Gefängnis. Die Familie wusste bis zur Haftentlassung nicht, ob er noch am Leben war. Mahi hat sechs Geschwister. Seine Mutter hat die Kinder allein groß gezogen, nachdem ihr Mann – ein Korangelehrter – an den Hof von König Hassan II gerufen wurde. Sie arbeitete als Sekretärin, holte ihre Abiturprüfung nach und nahm ein Studium auf – so wie drei ihrer Töchter, die Universitätsdozentinnen wurden. Take 17 (Binebine): Quand je suis arrivé à Paris je faisais des études de mathématiques … Darauf Sprecher: Ich bin zum Mathematikstudium nach Paris gekommen und habe das Fach danach acht Jahre lang unterrichtet. Während dieser Zeit habe ich den spanischen Schriftsteller Agustin Gomez-Arcos kennen gelernt. Er lebte sechs Monate in Paris und die andere Hälfte des Jahres in Madrid. Wir schrieben uns Briefe. Eines Tages sagte er mir: Du bist ausdrucksstark, Du solltest Literatur schreiben. Ein Jahr später gab ich ihm 150 Seiten zu lesen: Ich habe von einer Sklavin erzählt, die bei uns im Haus lebte. Die Sklaverei wurde mindestens fünfzig Mal abgeschafft, aber die Sklaven blieben bei ihren Herrn wohnen. Sie wurden wie Großväter oder Großmütter behandelt. Als ich ganz klein war, schlief ich in der Gandoura meiner Dada - die Sklavinnen wurden Dada gerufen -, sie steckte mich immer in ihren Umhang. Ich habe ihr Leben erzählt, von dem Tag an, als sie aus ihrem Dorf von Menschenhändlern entführt wurde, bis zu ihrem Tod. Take aufblenden: … de son village natal jusqu’à sa mort. Quand Agustin est arrive je lui ai donné ce texte … Sprecher: Als Agustin nach Paris zurück kam, gab ich ihm meinen schlecht geschriebenen Text zu lesen, und er hat sofort gesagt: Lass uns arbeiten. Monatelang haben wir uns jeden nachmittag in einem Restaurant in Saint-Germain-des-Prés getroffen und Satz für Satz korrigiert. Inzwischen verdirbt mir seine Großzügigkeit das Leben, denn wenn mir ein junger Autor ein Manuskript schickt, lese ich es und gebe Rat, ganz einfach, weil mir selber einmal geholfen wurde. … on a fait ca pour moi. Autorin 22: Seinen zweiten Roman “La funéraille du lait“ - auf Deutsch „Mamayas letzte Reise“ - schrieb Binebine schon im Vertrauen auf sein eigenes schriftstellerisches Können. Er erzählt die Geschichte einer Frau, deren Brust nach einer Krebserkrankung amputiert wurde. Sie kann sich nicht von ihr trennen, verschließt sie in einem Beutel, versteckt sie unter ihrem Bett und überredet schließlich eine Hausangestellte, mit ihr und dem amputierten, verfaulenden Organ auf eine beschwerliche Reise zu gehen. In einem fern gelegenen Ort will sie die Brust im Familiengrab bestatten. Die Brust verkörpert das Kind, das ihr die Justizbehörden geraubt haben. In phantasierten Reden schleudert Mamaya einem Pulk von Männern entgegen: Take 18 (Binebine) : …voilà, vous m’avez volé la vie de mon enfant, vous ne volerez pas … Darauf Sprecher: Ihr habt mir das Leben meines Kindes geraubt, aber Ihr werdet mir nicht seinen Tod rauben! Dieses Kind hat existiert, es hat gelebt! Mamaya führt einen Kampf um die Erinnerung. Sie schreit: Keiner soll mir sagen, dass es ihn nicht gegeben hat. Er ist verschwunden, ja, aber seinen Tod könnt Ihr mir nicht auch noch nehmen! … Vous ne me volerez pas sa mort! Autorin 23: Mamayas Kind, das ist Binebines Bruder Aziz, der am 10. Juli 1971 als Unterleutnant der königlichen Armee in einen gescheiterten Putsch gegen Hassan II verwickelt wurde. Bei dem Anschlag in der königlichen Residenz von Skhirat gab es viele Tote. Man bezichtigte Aziz Binebine, von dem Komplott gewusst zu haben. Dies hat er immer bestritten. Von seiner Unschuld überzeugt, stellte er sich nach den Schießereien sogar der Polizei. Er kam zunächst mit anderen festgenommenen Offizieren in ein reguläres Gefängnis. Dann wurden die Häftlinge in das berüchtigte Straflager Taszmamart verlegt. Taszmamart, das hieß in niedrigen, engen Zellen unter der Erde zu hocken: kein natürliches Licht zu sehen, keine frische Luft zu atmen, keine Waschgelegenheit zu besitzen. Das Königshaus verleugnete die Existenz der festungsgleichen Kerkeranlage. Nachdem der französische Journalist Gilles Perrault 1990 das Buch „Mon ami le Roi“ – Mein Freund der König – publizierte hatte, konnten der Hof und die Regierung nicht länger verschweigen, dass in Taszmamart Menschen dahinvegetierten, starben und verscharrt wurden. Internationale Menschenrechtsgruppen erreichten, dass das Verlies in der Wüste 1991 geschlossen und die letzten Überlebenden entlassen wurden. Take 19 (Binebine): Il est sorti de Taszmamart vivant après 20 ans … Darauf Sprecher: Nach 20 Jahren ist mein Bruder aus Taszmamart frei gekommen. Zwei Jahre hat er in einem normalen Gefängnis gesessen und 18 Jahre in dem unterirdischen Verlies, im Dunklen. Von 29 Gefangenen haben vier überlebt. Er gehört dazu. Die anderen sind allmählich zugrunde gegangen. Man hat sie eingehen lassen. Hassan II. wollte sie ganz langsam sterben lassen. Die Generäle hat man erschossen und damit war die Sache erledigt. Mein Bruder war 26 Jahre alt, als er in diese Geschichte verwickelt wurde. Er wusste nicht, was da vor sich ging. … même pas ce qu’ils faisaient. Autorin 24: Mahi Binebines erste Romane tragen deutlich autobiographische Spuren. „Mamayas letzte Reise“ ist eine Liebeserklärung an seine Mutter, die den vermissten Sohn nicht einen Tag vergaß, während der Vater sich als Vertrauter des Königs gezwungen sah, sich öffentlich von seinem Sohn loszusagen. Mit literarischen Absichten mochte Mahi Binebine nie an die erlittenen Qualen seines Bruders Aziz rühren. Take 20 (Binebine): Je n’ai pas raconté Taszmamart où était incarcéré mon frère … Darauf Sprecher: Die Geschichte von Taszmamart, wo mein Bruder 18 Jahre lang im Dunklen eingeschlossen war, konnte ich nicht erzählen. Aber ich habe vom Warten meiner Mutter gesprochen und von der Abwesenheit des Bruders, von dem wir zwei Jahrzehnte lang nicht wussten, ob er noch lebt. Zuhause wurde jeden Tag ein Teller für ihn mitgedeckt und eine Portion Essen aufgelegt. Zwanzig Jahre lang! Meine Geschwister und ich, wir haben uns immer gleich über das Essen für den Abwesenden hergemacht, wenn wir nachmittags um fünf aus der Schule kamen. Take aufblenden: … On pouvait le manger. (Lachen) J’ai vécu avec cette absence. Elle était une presence incroyable parce qu’il était là avec nous … Darauf Sprecher: Ich habe mit dieser Abwesenheit gelebt. Letztlich war Aziz unglaublich gegenwärtig, denn es wurde jeden Tag an ihn erinnert. Dadurch, dass mein Vater uns ziemlich früh verlassen hat, hatte der große Bruder seine Stelle eingenommen. Er ist in jeder meiner Arbeiten anwesend, auch in der Malerei. … dans la peinture. Autorin 24: Mahi Binebine hat in Paris Mathematik unterrichtet, in den Editions Stock erste Romane publiziert und dann zu malen begonnen. In den 90er Jahren lebte er mit seiner Familie in New York und konzentrierte sich ganz auf die Malerei. 2013 kann er zurückblicken auf ein umfassendes Oeuvre: neun Bücher, Ausstellungen zwischen New York und Moskau, eine Teilnahme an der Biennale von Venedig und gute Kontakte zum Guggenheim Museum, das Bilder von ihm sammelt. Ein Jahr, bevor Mahi Binebine sich wieder fest in Marrakech niederließ, kam es zwischen ihm und dem Bestseller-Autor Tahar Ben Jelloun zum Bruch. Ben Jelloun, der immer noch als bedeutendster Autor des Maghreb betrachtet wird, lebt seit 1971 in Frankreich. Take 21 (Binebine): Il avait une tribune dans le journal… Darauf Sprecher: Tahar Ben Jelloun hatte eine feste Kolumne in der größten französischen Tageszeitung „Le Monde“, und während all der Jahre, in denen die Leute in Taszmamart eingekerkert waren, hat er keinen Finger für sie gerührt. Er wartete, bis Hassan II gestorben war, um sich kritisch über diese Zeit zu äußern. Er riskierte wirklich gar nichts. Na gut, er ist kein mutiger Mann. Zur Wahrheit gehört, dass ich in jener Zeit noch mit Tahar Ben Jelloun befreundet war. Als mein Buch „Kannibalen“ herauskam, rezensierte er es ausführlich. Er wollte meinen Bruder Aziz kennen lernen, aber der war nicht dazu bereit. Aufblenden: Mon frère ne voulait pas vraiment, il ne voulait pas. J’ai présenté Tahar Ben Jelloun à mon frère mais ca s’est mal passé, très mal passé. Quand mon frère a accepté de faire … Darauf Sprecher: Ich habe meinen Bruder mit Tahar Ben Jelloun bekannt gemacht, aber das ist wirklich sehr schlecht gelaufen. Aziz hat dem Buchvorhaben schließlich zugestimmt und eingewilligt, sein ganzes Wissen und seine Erinnerungen offenzulegen – unter der Bedingung, dass er später mit der Presse absolut nichts zu tun haben müsste. Er wollte in dieser Angelegenheit gesichtslos bleiben, er wollte verschwinden. Tahar Ben Jelloun hat sich nicht an diese Abmachung gehalten. Als er 2001 das Buch „Cette aveuglante absence de lumière“ herausbrachte, ahnte er, dass man ihm anlasten würde, nicht früher über das geheime Straflager geschrieben zu haben. Aber er sagte nur: Monsieur Aziz Binebine hat mich darum gebeten, dieses Buch zu verfassen. Ich habe ihm nur die Feder geliehen … Das ist doch zutiefst unehrlich. Ja, so war‘s. … c’est une chose malhonnête. Voilà. Autorin 26: In Frankreich löste Ben Jellouns Roman einen Skandal aus. Auch in Deutschland wurde „Das Schweigen des Lichts“ in der Presse als „unzumutbare, rhetorisch aufgeblasene Kerkerschnulze“ verrissen. Man warf dem Autor vor, dass er ständig Zivilcourage predige, die politischen Missstände in Marokko aber nie kritisiert habe, als dies nötig gewesen wäre. Ben Jelloun wollte 50% seines Buchhonorars einer marokkanischen Menschenrechtsorganisation spenden, doch diese lehnte ab. Musikakzent Zitator 3: In meinem Dorf hatten uns die Alten endlose Male vom Meer erzählt, und auf tausenderlei verschiedene Arten. Autorin 27: So beginnt Mahi Binebine seinen Roman „Kannibalen“. Zitator 4: Manche verglichen das Meer mit der Unermesslichkeit des Himmels; eines Himmels aus Wasser, der über unendlichen Wäldern schäumt, undurchdringlich, bewohnt von Gespenstern und wilden Ungeheuern. Andere behaupteten, es sei noch riesiger als die Flüsse, Seen, Teiche und alle Bäche der Erde zusammen. Die „Weisen des Großen Platzes“ ihrerseits waren sich in dieser Frage einig und versicherten, dass Gott dieses Wasser zurückhielt, um die Erde am Tag des Jüngsten Gerichtes von ihren Sündern reinzuwaschen. (aus: Mahi Binebine, Kannibalen, Aus dem Französischen von Patricia A. Hladschik, Haymon Verlag, Innsbruck 2003) Autorin 28: Den jungen Maghrebinern und den im Maghreb gelandeten Afrikanern ist die Meeresmythologie egal. Für sie ist die Straße von Gibraltar nichts weiter als das letzte Hindernis auf dem beschwerlichen Weg nach Europa. Binebine schildert die Lebensläufe und Ängste, die hoffnungsfrohen Träume und fixen Ideen einer Handvoll Menschen, die bereit sind, notfalls gemeinsam unterzugehen. Er hat Flüchtlinge in ihren Verstecken aufgespürt und erinnert sich an einen, den auch zwei Schiffbrüche nicht abhielten, sein Schicksal erneut in die Hände krimineller Schleuser zu legen. „Wenn ich sterbe“, sagte der Mann, „werde ich ein Märtyrer der Wirtschaft sein!“ Afrikaner, die illegal über das Meer nach Europa fliehen, werden in Marokko allgemein als „Klandestine“ bezeichnet. Youssouf Amine Elalamy stört die gängige Verwendung des Wortes „klandestin“ in Bezug auf Flüchtlinge, denn schon vor ihrer Flucht leben sie im Verborgenen und im Zustand der Rechtslosigkeit. Take 22 (Elalamy): Ils le font pour sortir de leur clandestinité! … Darauf Sprecher: Die Flüchtlinge gehen ein hohes Risiko ein, um endlich ein Leben in der Illegalität, ein Leben im Versteck, hinter sich zu lassen. Paradoxerweise ist das Leben in der Illegalität nichts, was sie erst auf der anderen Seite des Mittelmeeres erwartet. Sie erfahren es ja längst dort, wo sie sind. Deshalb heißt mein Roman auch „Die Klandestinen“ und nicht „Die klandestinen Emigranten“. Man sieht doch, dass jene, die es über das Meer geschafft haben, oft ganz schnell zurück kehren wollen, um zu zeigen, dass sie imstande sind, etwas aufzubauen. Sie kommen mit völlig überladenen Autos und Geschenken für die Familie zurück. Diese Fülle vorzuführen ist eine Weise, sich selbst und den anderen zu beweisen, dass man es zu etwas bringen kann. … qu’on est capable de s’en sortir. Autorin 29: In Youssouf Amine Elalamys Roman überlebt niemand die Fahrt übers Mittelmeer. In fragmentarisch gehaltenen Texten gibt er den Toten ihre Stimme wieder. Berührend ist auch das Schicksal des Jungen, der die angeschwemmten Leichen als erster entdeckte. Es ist Omar, das uneheliche Kind einer Marokkanerin, der die Flucht über die Meerenge einst gelungen war. Darauf, dass sie als Prostituierte in Algeciras ein elendes Dasein fristen musste, war die Sechzehnjährige nicht gefasst. Sie kehrte nach Marokko zurück, gebar ihren Sohn und starb. Zitator 5: Omar hatte ganz weiße Haut und ganz blaue Augen. Er war, sagten die Leute von Bnidar, bleich wie Milch, seltsam wie der Mond mit aus dem Blau des Himmels geschnittenen Augen. Die Augen eines Spaniers, sagten die einen, die Augen eines Christen, sagten die anderen, das ist doch dasselbe, sagte Ayoub. Jeden Morgen verließ er in aller Frühe das Dorf, umrundete die Sandbänke, durchquerte die Cannabisfelder, machte Halt, um Tee zu trinken, beobachtete die Zöllner, bestach die einen, mied die andern und schlich dann in die kleine spanische Enklave hinein. Dort feilschte und handelte er, kaufte Schmugglerware und machte sich noch an demselben Morgen auf den Heimweg (…) Zweimal wöchentlich begab er sich auf den Markt in der Stadt, um seine Ware feil zu bieten. Die übrige Zeit marschierte er am Strand entlang und folgte mit den Augen den Fußspuren im Sand. Manchmal hielt er an und ließ sich wie ein verletztes Tier in den Sand fallen. So konnte er stundenlang, mit Tränen in den Augen, liegen bleiben, um den Wellen beim Sterben zu zusehen. „Er ist seltsam“, sagten die Leute. „Die Leute sind seltsam“, sagte Omar. (aus: Youssouf Amine Elalamy, Gestrandet, Aus dem Französischen von Barbara Gantner, Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 2008) Autorin 30: Ahnt man, was für Entscheidungen das heranwachsende Kind, das einsam bleibt inmitten einer Dorfgemeinschaft, einmal treffen wird? Einsam sind auch jene, die sehen, was das Meer zurückgibt und die begreifen, dass die Medien im Zusammenspiel mit der Politik die Flüchtlingsdramen einfach leugnen. Zitator 6: Schon bald war das ganze Dorf am Strand, um diese Männer aus der Nähe zu betrachten, mit den Händen zu berühren, langsam, sie über die Algen gleiten zu lassen, sanft, und dabei zu vermeiden, sich von den Krabben zwicken zu lassen und anschließend zu sagen, und zusammen zu sagen und im Chor zu sagen: „SIE SIND ERTRUNKEN!“ Diesmal wurde es so laut geschrien, dass der Wind in weniger als einer Stunde die Neuigkeit bis in die Hauptstadt getragen und sie noch vor Ende des Tages die Runde im Land gemacht hatte. Das ganze Land mit den Nordprovinzen und darin das Dorf Bnidar und darin Hammadis Haus und darin Hammadis Zimmer und darin Hammadis Radio und darin eine Männerstimme, die sagte: „Zwei unvorsichtige Badegäste sind in der Nähe der kleinen Ortschaft Bnidar ertrunken.“ Das war alles. „Zwei unvorsichtige Badegäste“. So war’s. (aus: Youssouf Amine Elalamy, Gestrandet, Aus dem Französischen von Barbara Gantner, Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 2008) Autorin 31: Wie viele Flüchtlinge tot an die marokkanischen Küsten gespült werden, wird offiziell geheim gehalten. Die rigorose Todesverachtung, mit der Afrikaner immer wieder in seeuntaugliche Boote steigen, nachdem sie zuvor durch das Verbrennen ihrer Papiere ihre Identität ausgelöscht haben, bleibt für Youssouf Amine Elalamy und Mahi Binebine ein Rätsel. Sie selber sind freiwillig in ihr Ursprungsland zurückgekehrt und bejahen diesen Schritt noch immer. Ihre Imaginationskraft nutzen die Schriftsteller, um fluchtwilligen Nomaden und in die Slums Gedrängten eine Stimme zu geben. Ihre Literatur weckt schlicht Bewunderung für den Selbsterhaltungswillen derer, die mitten im Elend fähig bleiben zu Scherzen und mitmenschlichen Gesten. 1