KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : Die Ekstase der Verzweiflung. Das paradoxe Leben des E. M. Cioran Autor : Florian Ehrich Redakteurin : Jörg Plath Sendetermin : 5.4.2011 Besetzung : Udo Schenk, Michael Rotschopf Regie : Beate Ziegs Ton: : Ralf Perz Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-5562 Die Ekstase der Verzweiflung Das paradoxe Leben des E.M. Cioran Von Florian Ehrich Musik - Firuta, nana firuta O-Ton Cioran: Der Mensch ist ein geniales Tier. Aber das ist ein Paradox in der Natur und man muss bezahlen dafür. Musik - Firuta, nana firuta (kurz hoch) Sprecher 2 - Zitat Cioran: Ich bin des Menschseins vollkommen überdrüssig oder, genauer, davon erdrückt. Wenn ich könnte, würde ich sofort darauf verzichten, was soll jedoch aus mir werden: ein Tier? Es gibt kein Zurück. Und außerdem liefe ich Gefahr, ein der Philosophiegeschichte kundiges Tier zu werden. Sprecher 1 - Autorentext: Diese Zeilen eines erst 22jährigen Rumänen erscheinen im Jahr 1933 in einem erstaunlichen Debüt, das bereits alle zentralen Fragen seines Werks aufwirft. Emil Ciorans "Auf den Gipfeln der Verzweiflung" pendelt in erschütternder Weise zwischen bitteren Sarkasmen, Ausbrüchen apokalyptischen Hasses und Verfluchungen Gottes. Der junge Autor sieht sich als "Spezialist des Todes", der in schwärzester Verzweiflung die Nachtseite der Dinge erblickt. Diese Erfahrung lässt ihn nicht mehr los. Es greift aber zu kurz, den Autor allein als Nihilisten und Weltverächter zu bezeichnen, oder in ihm nur den Apostel des Selbstmordes und des Lebensekels zu sehen. Er ist viel mehr. Emil Cioran zweifelt mit bewundernswerter Konsequenz an unseren Übereinkünften über Geschichte, Religion oder Kultur. Seine Menschenkenntnis und sein Scharfblick lassen ihn hinter die Fassaden und Masken der Menschen blicken, weshalb er auch als würdiger Nachfolger der französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts gilt. Sein Zweifel ist universal, kosmisch. Gerade in seiner vehementen Desillusionierung all unserer Überzeugungen liegt eine Vitalität, die ansteckend wirkt. Sprecher 2 - Zitat Cioran: Man denkt, man beginnt zu denken, um Bindungen zu zerreißen, um Verwandtschaften aufzulösen, um das Gerüst des "Wirklichen" zu untergraben. Sprecher 1 - Autorentext: Hier ist einer, der sich nicht einrichtet im Kompromiss, einer, der vor schmerzhafter Erkenntnis nicht zurückschreckt. Cioran richtet sich nicht nur als Intellektueller unbequem im Dasein ein. Weil er um jeden Preis frei sein will, entzieht er sich auch im Alltag allen Zwängen eines bürgerlichen Lebens. Er lebt als hoch gelehrter Aussteiger in ärmlichen Verhältnissen und lehnt jeden Broterwerb, auch literarische Preise und Ehrungen ab. Sein Denken ist stark von dem metaphysischen Pessimismus Schopenhauers und der radikalen Kulturkritik Nietzsches beeinflusst. O-Ton Cioran: Ich würde sagen, mich interessieren die Leute, die einen auswegslosen Kampf führen mit sich und mit Gott. Sprecher 1 - Autorentext Obwohl sinnenfreudig und gesellig, ist Cioran geprägt von der verstörenden Erfahrung der Einsamkeit und der Leere. Diese erfährt er in mystischem Überschwang, in dem ihn das Gefühl beschleicht, aus der Zeit gefallen zu sein. Der große Skeptiker ist paradoxerweise auch ein religiöser Denker, der nicht sicher ist, ob er Zwiesprache mit dem Nichts oder mit Gott hält. O - Ton Cioran: Gott existiert für alle Leute, die kein Dialog im Leben finden. Also, man denkt an Gott, wenn alle Sterblichen verschwinden, die ganze Menschheit und alles, und dann Gott ist der Gesprächspartner. Ob er existiert oder nicht, das ist Nebensache. Aber er ist der Gesprächspartner des einsamen Menschen. Des absolut einsamen Menschen. Und das findet man sehr oft in der Mystik und deswegen habe ich die Mystik so gerne gehabt. Sprecher 1 - Autorentext Emil Cioran wird am 8. April 1911 im siebenbürgischen Rasinari geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehört. Sein Vater ist ein orthodoxer Priester. Er lehnt den Glauben seiner Eltern bereits als Jugendlicher ab und verlässt beim Tischgebet den Raum. Der schmächtige junge Mann mit dem energischen Haarschopf beginnt mit siebzehn Jahren ein Studium der Philosophie, wendet sich aber bald enttäuscht von ihren Lehren ab. Fortan sind ihm alle Systematisierungsversuche des Lebens verhasst. Überzeugt davon, dass Begriffe untauglich sind, die "innerliche Uferlosigkeit" des Menschen auszudrücken, kommt für ihn allein ein lyrisches Weltverhältnis in Betracht. Deswegen entwirft Cioran keine logisch aufgebauten Denkgebäude, sondern wandelt auf den Pfaden Nietzsches und der zeitgenössischen Lebensphilosophie eines Georg Simmel oder Henri Bergson. Seine Schriften - Essays, Tiraden, Flüche und Aphorismen - sind höchst subjektiv, weil für ihn auch das Leben subjektiv ist: O-Ton Cioran: Ich habe bis 21 Jahre ganz ernst Philosophie studiert. Ich habe sogar eine Arbeit über Bergson gemacht und so weiter. Aber nach 21 Jahre, ich habe mich entfernt von dieser Philosophie, aus genau bestimmten Gründen: Ich habe gemerkt, dass dir diese Philosophie kann dir nichts mehr im Leben helfen. Ich begann ganz aufmerksam zu sein, auf was die Leute sagten - gebildet oder ungebildet. Aus deren Erlebnissen und so weiter... und das ist meine Neugierde für alles, was lebendig ist, was nicht systematisch ist, was nicht gelernt ist. Sprecher 1 - Autorentext: Ciorans Denken speist sich aus unterschiedlichsten geistesgeschichtlichen Quellen, aber auch aus persönlichem Erleben und Alltagsbeobachtungen. Sein thematisch weit gespanntes Werk kreist um einige zentrale Fragen. Ihn interessieren die Wege zum Absoluten, die er in der Erotik, der Mystik und der Musik ausmacht. Die prinzipielle Todesverfallenheit alles Lebendigen reflektiert er ebenso wie die Idee des Selbstmordes, die er als Lebenshilfe versteht und am liebsten auf die Lehrpläne der Schulen setzen möchte. Getreu dem Modell einer Kulturmorphologie geht er davon aus, dass alle Zivilisationen Phasen der Jugend, Blüte und des Verfalls durchlaufen. Ihn fasziniert das Stadium der Dekadenz, in welchem er die europäische Kultur des 20. Jahrhunderts verortet. Jede Idee eines Fortschritts lehnt er ab: Cioran ist Geschichtspessimist. Im biblischen Mythos des Sündenfalls sieht er die unausweichliche Verworfenheit des Menschen formuliert: O-Ton Cioran: Ich habe keinen religiösen Glauben des Sündenfalls, aber ohne die Idee des Sündenfalls ist die Reihenfolge von Ereignissen, was man Geschichte nennt, unverständlich. Wenn nicht der Mensch im Ursprung angegriffen ist, innerlich, organisch und metaphysisch, versteht man nichts von der Geschichte. Also ein optimistischer Historiker ist ein Widerspruch in sich selbst. Sprecher 1 - Autorentext: Emil Cioran erlebt seine eigene Vertreibung aus dem Paradies. Er muss die Berge der Karpaten verlassen, um in Sibiu das Gymnasium zu besuchen. Zeitlebens wird sich Cioran wehmütig an die ungebundenen Tage in seinem Heimatdorf erinnern und das gleichsam vorgeschichtliche Leben der Bauern und Schäfer dort bewundern. Den Einbruch der Reflexion erlebt er als Tragödie, sie stößt ihn in tiefste Verzweiflung. Fortan steht an den Horizonten seines Denkens immer der Freitod als Ausweg. Diese Möglichkeit lässt ihn ein Unglück ertragen, das er hasst und gleichzeitig umarmt. Denn der Gram vermittelt Cioran auch ein Gefühl heroischen Erwähltseins, wie er im Alter eingesteht: O-Ton Cioran: Sehr wenige Leute haben den Mut zu verzweifeln. Sehr wenige, wirklich. Und die Verzweiflung an sich ist unerträglich und unaushaltbar. In meiner Jugend war ich viel unglücklicher als jetzt. Ich war wirklich unglücklich in meiner Jugend, nicht jetzt. Jetzt bin ich ein alter Mann, mehr oder weniger erledigt, aber in meiner Jugend war ich wirklich verzweifelt und es war für mich interessant zu sehen, ob ich noch aushalten kann oder nicht. Sprecher 1 - Autorentext: Aushalten, was eigentlich nicht wert ist, ausgehalten zu werden - so kann das Paradox seines Lebens beschrieben werden. Cioran leidet, berauscht sich aber auch an dem Feuer seiner Verzweiflung. Seine Ekstasen sind negativ, aber sie bleiben Ekstasen. Sprecher 2 - Zitat Cioran: Warum ich nicht Selbstmord verübe? Weil mich sowohl das Leben als auch der Tod anwidern. Ich bin ein Mensch, der in einem Flammenkessel geworfen werden müsste. Ich verstehe absolut nicht, was ich in dieser Welt zu suchen habe. Ich fühle augenblicklich das Bedürfnis zu schreien, ein Gebrüll auszustoßen, das der ganzen Welt Grausen einjagte, das alle Zittern und zucken und in einem Schauderwahn bersten ließe. Ich fühle einen schrecklichen Donner in mir schlummern und wundere mich, dass er nicht losbricht, um diese Welt zu vernichten, die ich für immer und ewig in mein Nichts verschlingen wollte. Ich fühle mich als das zerstörungswütigste Geschöpf, das jemals in der Geschichte weste, eine apokalyptische Ausgeburt voller Flammen und Finsternis, von Wucht und Verzweiflung beseelt. Ich bin ein Untier mit groteskem Lächeln, das sich bis zur Illusion in sich selbst zusammenzieht und sich ins Unermessliche ergießt, das zugleich stirbt und wächst, verzückt zwischen Fülle und Leere, taumelnd zwischen der Hoffnung des Nichts und der Verzweiflung des Alls, von Düften und Giften genährt, von Liebe und Hass durchglüht, von Lichtern und Schatten zermalmt. In mir erlischt alles, was glänzt und gleißt, um als Blitz und Donner aufzuerstehen. Und brennt nicht selbst die Düsternis in mir? Musik - J.S.Bach, Christ lag in Todesbanden BMV 4 Sprecher 2 - Zitat Cioran: Gedanke in der Nacht: Ob der Mensch nicht so lange verzweifeln muss, bis Gott selbst ihn um Verzeihung bittet... Sprecher 1 - Autorentext Ciorans frühe Texte sind dunkle Früchte durchwachter Nächte. Der von chronischer Schlaflosigkeit Geplagte schreibt nur in Momenten besonderer Anspannung, er bannt die inneren Abgründe in Worte. O -Ton Cioran: Ich habe immer an Schlaflosigkeit gelitten, manchmal mehr, manchmal weniger, eine schlaflose Nacht ist eine Wirklichkeit, wenn Sie alleine sind in der Mitte der Nacht, um vier Uhr morgens, es ist die absolute Stille, warum wollen Sie, dass ich an die Gesellschaft denke? Es geht mich nicht an, niemand existiert mehr für mich. Das ist die Originalität der Nächte. Sie sind absolut allein...ich kann nicht Poeme machen, es gibt nichts. Es ist nur die Stille und sich selbst. Diese Nächte haben mich geformt, geistig und seelisch, besonders seelisch...In solchen Nächten sieht man was los ist. Was real ist und was unreal ist. Und dieses Gefühl der Gehaltlosigkeit, der Leerheit das begleitet Sie ihr ganzes Leben. Und das ist die Erklärung meiner Lebensansicht. Sprecher 1 - Autorentext: Seine "Lebensansicht" ist die eines radikalen Skeptikers, der die Geschichte, die Moral und die Religion demaskiert. Die alles umfassende Desillusionierung nimmt den Autor nicht aus. Cioran bezeichnet sich als "zerplatzte Monade" und als "Wahlverdammten", der wünscht, als "Sohn eines Henkers" geboren worden zu sein. Musik - Invîrtita Sprecher 2 - Zitat Cioran: Ich glaube an das Heil der Menschheit, an die Zukunft des Zyankali... Sprecher 1 - Autorentext: Ciorans folgenschwerste Sackgasse ist sein politisches Engagement in den dreißiger und vierziger Jahren. Er bewundert wie eine ganze Reihe brillanter Intellektueller der jüngeren Generation Rumäniens - darunter auch Ciorans Freund, der Religionswissenschaftler und Schriftsteller Mircea Eliade - die faschistische Eiserne Garde. Die Ziele der Grünhemden bleiben im mystischen Dunkel, als Feindbilder werden die "Fremden", besonders Juden und Ungarn, ausgemacht. Im politisch und wirtschaftlich instabilen Großrumänien, das nach dem 1. Weltkrieg große Gebietszuwächse auf Kosten des aufgelösten Doppelkönigreichs Österreich-Ungarn verzeichnet hat und mit einem Mal 30 Prozent Nicht-Rumänen beherbergt, darunter die selbstbewussten Minderheiten der Deutschen, Ungarn und Juden, verspricht die Eiserne Garde die Lösung aller Probleme. Sie steigt von einer bedeutungslosen Splitterpartei zu einer gefürchteten Terrororganisation auf und übernimmt 1940 für kurze Zeit die Macht. Musik - kurz Sprecher 1 - Autorentext Ciorans Hoffnungen auf eine faschistische Diktatur stehen in offenem Widerspruch zu seinem Skeptizismus. Jahre später schildert er die eigentümliche Faszination, die die faschistische "Eiserne Garde" für ihn besaß: Sprecher 2 - Zitat Cioran: Die Eiserne Garde war mehr eine irre Sekte als eine Partei. Man sprach dort weniger vom nationalen Erwachen als von der Herrlichkeit des Todes. Die Rumänen sind im Allgemeinen skeptisch, erwarten wenig vom Schicksal. So wurde die Garde von den Intellektuellen allgemein verachtet, aber psychologisch lag die Sache anders. Es gab da so eine Art Wahnsinn in diesem tief fatalistischen Volk. Und die Intellektuellen, die sich mit ihren Diplomen in den Dörfern langweilten und verkamen, die gingen natürlich gerne dorthin. Die Eiserne Garde galt irgendwie als Remedur für alle Übel, auch die Langeweile, selbst den Tripper. Ich habe damals erfahren, was es bedeutet, ohne eine Spur von Überzeugung mitgerissen zu werden. Sprecher 1 - Autorentext: Im Oktober 1933 kommt Cioran als Stipendiat der Humboldt-Stiftung nach Berlin, angeblich um eine Promotion in Psychologie vorzubereiten. Fasziniert berichtet er für rumänische Zeitungen aus dem Land, in dem seine Heroen Bach und Beethoven geboren wurden. Ausdrücklich bejaht er die politische Ordnung des NS-Staates und lobt Hitler dafür, den Deutschen ihren kritischen Verstand geraubt zu haben: Sprecher 2 - Zitat Cioran: Es nötigt Bewunderung ab, wenn man sieht, wie ein Regime, um sein Dasein zu rechtfertigen, das Recht verändert, die Religion umwandelt, der Kunst eine andere Richtung gibt, eine andere Perspektive der Geschichte konstruiert, drei Viertel der anerkannten Werte brutal beseitigt, rasend verneint und dabei vor Enthusiasmus pulst. Wenn man mir einwenden möchte, die politische Ausrichtung von heute sei unzulässig, sie beruhe auf falschen Werten, der ganze Rassismus sei eine wissenschaftliche Illusion und die germanische Ausschließlichkeit kollektiver Größenwahnsinn, will ich entgegnen: Was bedeutet das schon, wenn Deutschland sich doch unter einem derartigen Regime wohl, frisch und vital fühlt. Sprecher 1 - Autorentext: Es ist der Irrationalismus, der Cioran anzieht. Seine Suche nach Intensitäten führt ihn gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit den christlichen Mystikern und in die gemeinschaftliche Ekstase des Totalitarismus. Es ist, als ob er mit der Hinwendung zum Faschismus einen Sprung vollziehen will: aus dem radikalen Skeptizismus in die ekstatische Bejahung der Tat. Das Ergebnis ist offene Menschenverachtung. So schreibt er über die von Hitler angeordneten Morde an dem SA-Führer Ernst Röhm und seinen Gefolgsleuten im Sommer 1934: Sprecher 2 - Zitat Cioran: Es widert mich unendlich an, wenn ich von allen Seiten die immergleichen weinerlichen und sinnlosen Betrachtungen über das menschliche Leben lese oder höre. Da heißt es: Niemand hat das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen, niemand hat das Recht Blut zu vergießen, niemand darf über das Leben eines anderen verfügen usw. usf.... Aber ich will jedermann fragen: Was hat die Menschheit verloren, wenn einigen Schwachsinnigen das Leben genommen wurde? Sprecher 1 - Autorentext: Ciorans Berichte aus Deutschland lesen sich umso bestürzender, als neben solch zynischen Ergüssen und schwärmerischen Elogen auf Hitler originelle Betrachtungen über Albrecht Dürer, Karl Jaspers und Oskar Kokoschka stehen. Musik - kurz Sprecher 1 - Autorentext Es ist unklar, wann der Rumäne Distanz zum Faschismus sucht. 1944 erschüttert ihn, dass ein jüdischer Freund, der Schriftsteller Benjamin Fondane, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wird. Cioran revidiert später in Essays über das Judentum seine antisemitische Haltung. An seine Eltern schreibt er 1946: Sprecher 2 - Zitat Cioran: Alle Ideen sind absurd und falsch, real sind nur die Menschen, unabhängig ihrer Herkunft oder Religion. Ich habe mich in dieser Hinsicht sehr verändert. Ich glaube, ich werde nie wieder irgendeine Ideologie annehmen. Sprecher 1 - Autorentext: Im Tagebuch gesteht Cioran "geistige Scham" über sein Versagen ein. Er entfremdet sich zusehends von Rumänien und schreibt fortan nur noch auf Französisch, was er als bewusste Abkehr von der Vergangenheit versteht. Aus Emil Cioran ((bitte sprechen: Tschoran)) wird E. M. Cioran ((bitte französisch aussprechen)). Das gewählte Sprachexil stellt ihn vor beträchtliche Schwierigkeiten, denn der Rumäne empfindet die französische Sprache als streng und wenig beweglich. "Die Lehre vom Zerfall", sein französisches Debüt, das Paul Celan ins Deutsche überträgt, schreibt der Stilfetischist viermal, bevor er mit dem Ergebnis zufrieden ist. Das Buch erscheint 1949 und markiert eine Zäsur. Cioran äußert sich nicht mehr zu aktuellen politischen Fragen, unterwirft sein Schreiben aber weiterhin keinen moralischen Kategorien. In seinen späteren Werken nimmt die Raserei ab, er formuliert seine düstere Weltsicht mit zunehmend grimmigem Humor. Am Anfang der "Lehre vom Zerfall" steht mit der "Genealogie des Fanatismus" eine scharfe Absage an alle Beglücker der Menschheit und ihre Ideologien: Sprecher 2 - Zitat Cioran: Wir sind ungerecht gegen einen Nero oder Tiberius: sie haben nicht den Begriff der Ketzerei geprägt; sie waren nur entartete Träumer, die sich durch den Anblick von Massakern zu zerstreuen suchten. Die wahren Verbrecher sind diejenigen, die eine religiöse oder politische Orthodoxie stiften, diejenigen, die zwischen Rechtgläubigkeit und Schismatikern unterscheiden. Wird die Auswechselbarkeit der Ideen untereinander bestritten, so beginnt Blut zu fließen. Was ist der Sündenfall denn weiter als die Jagd nach einer Wahrheit, als die Gewissheit, sie erreicht zu haben, als die Gier nach Dogmen, in denen man sesshaft wird? So entsteht der Fanatismus, jener Kapitalfehler, der den Menschen Geschmack finden lässt an Tatkraft, Prophetentum und Terror; so bildet sich jener Begeisterungsaussatz, mit dem der Mensch die Seelen verseucht, sie unterwirft, aufreibt und verzückt ... Nur die Skeptiker, die Müßiggänger und die Ästheten entgehen ihm, weil sie nicht anbieten, weil sie - wahre Wohltäter der Menschheit - die vorgefassten Meinungen der Fanatiker zerstören, weil sie den Wahn analysieren. Musik - I. Strawinsky, Le Sacre du Printemps Sprecher 2 - Zitat Cioran: Eine unablässig durch das Scheitern verklärte Existenz. Sprecher 1 - Autorentext: Cioran kommt Ende 1937 als Stipendiat des französischen Kulturinstituts nach Paris. Wieder gibt er vor, eine Promotion verfassen zu wollen, doch statt die Hörsäle der Sorbonne zu besuchen, bereist er mit einem Rennrad ganz Frankreich. In Paris lebt er bis zu seinem Tod im Jahre 1995 in bescheidenen Verhältnissen, zunächst in einfachen Hotelzimmern, ab 1960 in einer im fünften Stock gelegenen Mansardenwohnung in Montparnasse. Eine akademische Karriere oder ein sonst wie gearteter Brotberuf kommt für ihn weiterhin nicht in Betracht. Ein einziges Jahr seines Lebens ist er angestellt - und eine grandiose Fehlbesetzung. Als Gymnasiallehrer in Brasov, kurz vor seiner Übersiedlung nach Frankreich, reagiert er im Unterricht auf Schüleräußerungen, die ihm idiotisch erscheinen, mit dem ostentativen Verspeisen von Zitronenscheiben. Zudem weigert er sich, mit Kollegen zu sprechen, weil er überhaupt nur noch mit einem einzigen Menschen reden will: mit William Shakespeare. O-Ton Cioran: Ich muss sagen, ich habe nie gearbeitet, ich habe das Glück gehabt, nichts im Leben gemacht zu haben. Ich war ein Jahr Studienrat in Kronstadt in Siebenbürgen, das ist das einzige was ich gemacht habe, ich habe nie gearbeitet. Ich habe das Glück gehabt, ich wollte nicht auch. Es war ein Entschluss: Ich will frei sein, besser sterben, sich töten als nicht frei zu sein. Sprecher 1 - Autorentext: Der Pessimist stellt sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ist fasziniert von den Existenzen an ihrem Rand. Auf nächtlichen Spaziergängen in Paris spricht er gern mit Clochards und Prostituierten, deren Verkommenheit und Illusionslosigkeit er bewundert. Dass er auch schreibt und veröffentlicht, empfindet Cioran als inkonsequent: Sprecher 2 - Zitat Cioran: Bücherschreiben hat immer etwas mit der Erbsünde zu tun. Denn was ist ein Buch, wenn nicht Verlust einer Unschuld, Aggressionsakt, Wiederholung unseres Sündenfalls? Die eigenen Schändlichkeiten publizieren, um zu amüsieren oder zu provozieren! Brutalisierung unserer Intimität, Profanierung, Beschmutzung. Unsere Versuchung. Ich spreche in eigener Sache. Wenigstens habe ich die Entschuldigung, dass ich meine Taten hasse, dass ich sie ausführe, ohne an sie zu glauben. Sprecher 1 -Autorentext: Das Schreiben als Kunstausübung ist hier nicht im Sinne Nietzsches als eine letzte metaphysische Tätigkeit zu verstehen, die dem Menschen noch bleibt. Es ist vielmehr ein Ausweg, die Alternative zum Selbstmord. O-Ton Cioran: Meine Theorie ist nämlich, dass wenn alle Leute, die zur Neurose verdammt sind, sie müssen schreiben, die Neurose ist durch das Schreiben geschwächt. Es ist wie eine Therapie, man muss auch Dummheiten schreiben, das ist sehr wichtig. Musik - kurz Sprecher 2 - Zitat Cioran: In einer Welt ohne Melancholie würden die Nachtigallen anfangen zu rülpsen Sprecher 1 - Autorentext: Der Rumäne gilt bald als einer der besten Stilisten der französischen Sprache, doch seine Bücher "Syllogismen der Bitterkeit", "Dasein als Versuchung" oder "Die verfehlte Schöpfung" verkaufen sich schlecht. Ciorans Lebensgefährtin, die Anglistin Simone Boué, sorgt für das Nötigste, weshalb sich Cioran freimütig als "Zuhälter" bezeichnet. Er, der viel lieber liest als schreibt, beschäftigt sich intensiv mit englischer Lyrik, fernöstlicher und christlicher Mystik, mit utopischer Literatur und den französischen Moralisten. Mehrfach liest er den ganzen Dostojewski durch, kehrt immer wieder zum geliebten Shakespeare zurück und vertieft sich jahrelang in Biografien. Cioran lebt nach eigenem Bekunden zwar in "antiker Enttäuschung", dabei aber keineswegs freudlos: O-Ton Cioran: Mein Leben war öfters sehr glücklich, es ist kein trauriges Leben, ich habe die Landschaften sehr gern, Landschaft fasziniert mich und so weiter. Ich lache sehr gerne, selbstverständlich, ich amüsiere mich ungeheuer im Leben, aber ich muss doch anerkennen, dass ich einen einzigen Tag in meinem Leben gekannt hätte, in dem nicht einige Augenblicke von Intimität mit dem Nichts. Sprecher 1 - Autorentext: In seinen letzten Lebensjahren schreibt Cioran nicht mehr, sondern hört nur noch Musik. Zu ihr allein hat der große Verneiner ein positives Verhältnis. O - Ton Cioran: Ich kann mir nicht in der Zukunft etwas (vorstellen), das so großartig wie die Musik, ich stelle Musik sehr hoch, über die Metaphysik und so weiter. Ich kann mir in der Zukunft nicht einen anderen Bach vorstellen oder einen Beethoven. Es gibt zwei große Phänomene für mich, in der Geschichte, die ich am höchsten stelle: das ist die indische Metaphysik und die deutsche Musik. Es ist für mich das größte, das der Mensch geleistet hat. Es kann nichts Tieferes und Ausdrucksvolleres geben. Musik: J. S. Bach, Fuge C Moll Sprecher 2 - Zitat Cioran: Wo die Paradoxie aufscheint, erlischt das System und obsiegt das Leben Sprecher 1 - Autorentext In Emil Cioran begegnet uns ein Denker, der in der Hochzeit politischer Ideologien und Heilsversprechen eine radikale Skepsis lebt. Seine Abscheu vor dem Leben ist gepaart mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Ekstase, die ihn in die Nähe religiöser Mystiker führte - und in die Arme der Faschisten. In dieser Ambivalenz ist Cioran ein Kronzeuge des apokalyptischen 20. Jahrhunderts - auch wenn er sich der Tradition einer Strömung in der antiken Philosophie sieht, die von der Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens ausgeht. Cioran ist kein Kulturkritiker, er ist ein Kritiker der Existenz. Sein Denken ist ein beständiger Widerspruch gegen das Dasein und gewollt widersprüchlich in sich selbst. Die sich niemals um Political correctness bemühenden Schriften des Rumänen sind unbequem und zuweilen eine Zumutung. Aber in seiner Empörung, die weder vor sich selbst noch vor Gott halt macht, liegt eine große Kraft. Das lässt Ciorans Werk zu einer unerschöpflichen Quelle für all jene werden, die sich am Widerspruch erfrischen können. Als antimoderner Denker unternimmt er das Wagnis, den Menschen ohne das Gesellschaftliche zu denken. In unserer untragischen und schicksalslosen Zeit, die das Leid und den Tod in Randbezirke abdrängt, wirft er uns auf uns selbst zurück. Emil Ciroan beharrt auf dem unabweisbaren Leid des Einzelnen und betont wenn nicht dessen Wert, so doch die Erfahrungstiefe desselben. Dabei betont der Meister des Paradoxons, dass auch in der tiefsten Verzweiflung sich das Leben behauptet: O - Ton Cioran: Die Hoffnung ist mehr als das Leben. Ist die Essenz des Lebens. Deswegen ist es so schwer, absolut verzweifelt zu sein. Die Hoffnung ist etwas mysteriöses. Das ist das Geheimnis des Lebens. Ich habe mich sehr oft im Leben gefragt, wie können die Leute hoffen, aber ich habe gedacht: ,Du selbst, du hast unbewusste Hoffnungen!' Die Hoffnung ist wirklich eine Provokation ohnegleichen, und das Geheimnis des Lebens dadurch. 13