DEUTSCHLANDFUNK - Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay & Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay & Diskurs Beginn einer Aufarbeitung Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (2/3) Der Historiker Devin O. Pendas im Gespräch mit Jochanan Shelliem Sprecher: Jochen Nix Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 12. Januar 2014, 09:30 - 10:00 Uhr Shelliem: Devin Pendas, seit zehn Jahren arbeiten Sie als Professor für Geschichte am Boston College mit dem Forschungsschwerpunkt deutscher Geschichte, Rechtsgeschichte und der Geschichte von Kriegen und Völkermord. 2006 haben Sie Ihre beachtete Arbeit über den Auschwitz-Prozess 1963 - 1965 vorgelegt, die 2013 auf Deutsch erschienen ist, im Untertitel Genocide, History and the Limits of the Law. Bevor wir auf die avisierten Grenzen des größten Strafrechtsverfahrens in der deutschen Nachkriegsrepublik eingehen, das am 20. Dezember 1963 in Frankfurt am Main begann, die Frage nach dem Medienecho in den USA, verglichen mit dem Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof vom 20. November 1945 in Nürnberg. Pendas: In den Vereinigten Staaten wurde der Auschwitz-Prozess als Medienereignis sicherlich vom Nürnberger Prozess überragt. Über den Auschwitz-Prozess ist auch weniger berichtet worden als über den Eichmann-Prozess, der zwei Jahre zuvor in Jerusalem stattgefunden hat. Bedeutende Zeitungen wie die New York Times, Los Angeles Times, Chicago Tribune brachten Artikel über den Auschwitz-Prozess. Einige der prominenten Intellektuellen wie Hannah Ahrendt oder Henry Miller kamen nach Frankfurt am Main und schrieben über den Prozess. Der Auschwitz-Prozess hat jedoch kein so starkes Interesse erregt, wie der Nürnberger Prozess. Shelliem: Wie hat Hannah Ahrendt auf die Verjährung des Tatbestandes Totschlag reagiert? Nach dem 8. Mai 1960 konnten die 22 Personen auf der Anklagebank nicht wegen Totschlag verklagt werden, dieser Anspruch war verjährt. Der Tatbestand des Mordes musste nachgewiesen werden, mit all den individuellen Motiven, wie "niedere Beweggründe", "Mordlust" und "Heimtücke", womit NS-Schreibtischtäter und deren von Hannah Ahrendt in Jerusalem beschriebene "Banalität des Bösen" nicht geahndet werden konnte. In Frankfurt gingen Schreibtischtäter straffrei aus. Pendas: Im Jerusalem hat Hannah Ahrendt Eichmann als einen Bürokraten angesehen, der gedankenlos im moralischen Sinn gehandelt hat. Ihre Analyse des Auschwitz-Prozesses ist interessant. Dort empfindet sie alle Angeklagten als Sadisten, es wirkt wie ein Gegenbild zu Eichmann. Meiner Ansicht nach gewährt sie Adolf Eichmann zuviel Anerkennung und missversteht die Angeklagten im Auschwitz-Prozess. Nicht alle waren jedoch Sadisten. Manche waren Schreibtischtäter, sie waren böse und ihre Beweggründe banal. Shelliem: Geben Sie mir Namen. Pendas: Jemand wie Wilhelm Boger, ein Mitglied der Lager-Gestapo, war ein notorischer Folterer. In Auschwitz führte er die so genannte "Boger-Schaukel" ein und tötete damit sehr viele Insassen. Er ist ganz eindeutig ein Sadist gewesen, der seine Arbeit auf verstörende Weise genoss. Shelliem: Und Sie hatten Victor Capesius unter den Angeklagten, den manche der in Auschwitz internierten jüdischen Ärzte als Pharmavertreter von Bayer-Leverkusen kannten. Er stand in Auschwitz an der Rampe und eröffnete mit dem in Auschwitz gestohlenen Zahngold nach dem Krieg in Göppingen die Markt-Apotheke und einen Kosmetikladen in Reutlingen. Im Auschwitz-Prozess wurde Victor Capesius nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Pendas: Das lag in der Eigenart des deutschen Strafrechts. Um einen Täter des Mordes zu überführen, mussten ihm "niedrige Beweggründe" nachgewiesen werden. Für den Auschwitz-Prozess wie für die meisten westdeutschen Holocaust-Verfahren galt in den meisten Fällen, dass Angeklagte, denen nachgewiesen werden konnte, dass sie Befehle ausgeführt hatten, auch solche, die am Massenvernichtungsprozess beteiligt waren, das Gericht davon überzeugen konnten, dass sie fremden Befehlen lediglich Gehorsam geleistet hatten. Sie leugneten die eigene Motivation und galten als "Gehilfen". Gehilfen wurden sehr viel milder bestraft. 14 Jahre betrug die Höchststrafe, dreieinhalb Jahre die geringste Gefängnisstrafe im Auschwitz-Prozess. Das Gericht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte lediglich als Befehlsempfänger agiert hatte, war also von eminentem Vorteil für die Verteidigung. Demgegenüber war es ein Leichtes für das Gericht, Wilhelm Boger nicht als Gehilfen, sondern als Täter zu überführen, weil er über persönliche Motive und Überzeugungen verfügte, in seinem Falle den Sadismus. Für die Gewalt seiner Aktionen war er in Auschwitz berüchtigt gewesen, auch konnte ihm nachgewiesen werden, dass er mit eigenen Händen tötete. Dies machte es möglich, Boger als Täter zu überführen und zu einem härteren Urteil zu gelangen. Es gab aber auch den Fall von Franz Hoffmann, den Führer des Schutzhaftlagers Birkenau, dem Areal des Konzentrationslagers von Auschwitz, wo der Vernichtungsprozess stattfand. Hoffmann wurde wegen seiner Rolle bei der Massenvernichtung von Juden als Täter überführt, obwohl er Befehle nicht überschritten hatte. Zwei Fakten gaben dabei den Ausschlag für das Gericht, zum einen, dass Hoffmann ein so genannter "Alter Kämpfer" war, er war der NSDAP vor der Machtübernahme Hitlers beigetreten und hatte während seiner gesamte Nazi-Karriere in Konzentrationslagern gearbeitet, von 1933 an. Insofern kam das Gericht zu dem Schluss, dass er stärker vom Nationalsozialismus überzeugt war, als andere Angeklagte - das man kann kritisieren, doch das Gericht kam zu diesem Schluss. Der zweite Tatbestand, der die Richter schließlich überzeugte, bestand darin, dass Franz Hoffmann die Befehlsgewalt des Lagers Birkenau unterstand. Er hatte die Kontrolle über das, was im Birkenau geschah, er hatte Raum für eine eigene Entscheidungsfreiheit, er hätte für die Häftlinge eine bessere medizinische Versorgung organisieren können, doch er beschloss, dies nicht zu tun. Er hätte "Selektionen" unterlassen können - wenn die Häftlinge zu erschöpft waren, wurde eine Selektion angesetzt und die Selektierten wurden in die Gaskammern geschickt - er hätte dies unterlassen können. Dass er dies trotz seiner Entscheidungsfreiheit als Führer des Lagers nicht tat, wertete das Gericht als Ausdruck seiner inneren Überzeugung, er hatte die kriminellen Grundmotive des Nationalsozialismus internalisiert. Darum wurde er als Täter überführt. Hoffmann war der Einzige, der in diesem Verfahren wegen seiner Rolle im Massenvernichtungsprozess als Täter verurteilt worden ist, was verstörend ist. Doch es ist wichtig festzuhalten, dass zumindest ein Angeklagter für seine Mitwirkung am industriell organisierten Massenmord als Täter verurteilt worden ist. Shelliem: Insofern kommen wir zu dem kritischen Punkt für das Gericht. Der in Auschwitz begangene Massenmord wurde mit einem Strafrecht geahndet, dessen Paragrafen auf den Einzeltäter ausgerichtet waren. "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", dieser Tatbestand konnte nicht angewandt werden, weil es den Strafrechtsparagrafen zur Zeit des Dritten Reiches noch nicht gab. Wie ist Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt, wie der leitende Richter Hoffmann mit diesem Widerspruch umgegangen? Pendas: Da gibt es also offensichtlich das Problem der Konzentration auf individuelle Motive in einer Situation, wo staatlich organisierte Verbrechen von Leuten kollektiv und arbeitsteilig umgesetzt worden sind. Fritz Bauer suchte das Problem dadurch zu lösen, dass er den staatlichen, organisierten Massenmord in Auschwitz als "Natürliche Handlungseinheit" sah. Eine Einheit, die von den Selektionen bei der Ankunft an der Rampe bis zur Ermordung der Deportierten als ein "einziges unteilbares Verbrechen", nicht als eine Vielzahl von individuellen Einzeltaten betrachtet werden sollte. Und das hätte bedeutet, dass einige Fragen zur Persönlichkeit der Angeklagten und die Bedeutung ihrer kriminellen Motive strafrechtlich weniger zentral gewesen wären. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es für die Argumentation, nach der die Taten in Auschwitz den rechtlichen Maßstäben des Dritten Reiches entsprechend legal gewesen seien und somit nicht durch nachfolgendes Recht geahndet werden konnten, politische Hintergründe gab. Besonders lucide Befürworter dieser ex post-facto-Argumentation gegen die Anwendung des Tatbestandes von Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren, wenn nicht Nazis, so doch rechte Nationalisten, wie Hodo von Hodenberg, damals Präsident des Oberlandesgerichts Celle, und sie fanden sich im Heidelberger Kreis, der sich für die Freilassung von Naziverbrechern eingesetzt hat. Dies waren Leute, die weniger Nationalsozialisten angeklagt sehen wollten, vielleicht auch ein Ende der Verfolgung von Naziverbrechen in der Bundesrepublik befürworteten. Ihnen diente das ex post-facto-Argument eher als zweckdienliches denn als juristisches Argument. Shelliem: Fritz Bauer hat einmal zu Helga Einsele gesagt, einer jungen Strafrechtsreformerin, die in Frankfurt am Main später die Justizvollzugsanstalten leitete, "Wenn ich mein Büro verlasse, befinde ich mich in feindlichem Ausland". Gleichzeitig sah er den Auschwitz-Prozess als einen Lernprozess, er wollte "Gerichtstag halten über uns selbst". Wozu die Referate sachverständiger Historiker im Verfahren dienten. Devin Pendas, was ist ihm aus Ihrer Sicht gelungen? Pendas: Er verpflichtete Historiker, gab Gutachten in Auftrag, vor allem aus dem Münchener Institut für Zeitgeschichte, Analysen, die später unter dem Titel Anatomie des SS-Staates veröffentlicht worden sind. Shelliem: Ein Buch, das zum Bestseller geworden ist. Pendas: Es ist, obwohl ein sehr wissenschaftliches Buch, ein Bestseller geworden. Diese Arbeit bedeutete damals einen gewaltiger Eingriff in die Geschichtsforschung. Es war ein sehr wichtiges Buch. Aber - man kann eine Vorlesung halten, doch das bedeutet nicht, dass die Studenten die Lektion auch lernen. Wenn man sich Umfragen dieser Zeit ansieht, so äußert sich eine Mehrheit, um es mild zu sagen, skeptisch über den Auschwitz-Prozess. Manche offen feindlich. Viele sagen, wir verfolgen den Prozess nicht, ich weiß weder, wo er stattfindet, noch kenne ich die Verteidiger, es ist mir auch egal. Insofern erscheint mir der Auschwitz Prozess als eine sehr wertvolle Lektion, aber eine, die vor allem von den Leuten wahrgenommen worden ist, die bereits zuvor geneigt waren, sich Fragen in dieselbe Richtung zu stellen. Bauer hatte gehofft, dass es eine derartig gewaltige Lektion werden würde, dass es die Meinungen derer verändern würde, die bis dahin einer kritischen Selbstreflexion der Nazi-Vergangenheit gegenüber feindlich gesonnen waren. Ich glaube jedoch, dass der Prozess unglücklicherweise nicht dazu imstande war, die Einstellungen vieler Menschen zu verändern, die dem Verfahren skeptisch gegenüber standen. Ich kann ein ganz besonderes Beispiel dafür geben. Der Vorsitzende Richter des Schwurgerichtsprozesses Hans Hofmeyer, dem bei der Urteilsverkündung am Ende des Verfahrens die Stimme bricht. Er weint, das ist auf dem Tonbandmitschnitt deutlich zu hören, den das Fritz Bauer Institut jetzt ins Netz gestellt hat. Es ist ein sehr bewegendes Audio-Dokument, dass deutlich macht, dass ihn der Prozess nicht unberührt gelassen hat. Kurz nach dem Ende des Verfahrens aber, sagt Hans Hofmeyer bei der Deutschen Juristentagung, dass es ein Fehler gewesen sei, ein solch komplexes Verfahren gehabt zu haben, einen derart gewaltigen Prozess mit vielen Verteidigern, bezogen auf den gesamten Tatkomplex Auschwitz. Er sagte, dass es besser gewesen wäre, einen Strauss kleiner Prozesse durchgeführt zu haben mit jeweils einem oder zwei Angeklagten zur Ermittlung der individuellen Schuld und nicht eine gewaltige Geschichtsstunde abzuhalten. Obwohl er durch seine Erfahrung im Auschwitz-Prozess emotional ergriffen war, lehnte er das Modell nach Abschluss des Verfahrens ab. Shelliem: In Ihrem Buch Der Auschwitz-Prozess - Völkermord vor Gericht gehen Sie auf die Rolle des Gerichtsverfahrens bei der Demokratisierung Westdeutschlands ein. Dem Auschwitz-Prozess vorausgegangen ist der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, der nur durch die Sturheit des SS-Oberführers Bernhard Fischer-Schweder zustande kam, der seine Verdienste als SS-Polizeidirektor Memel für Führer, Volk und Vaterland auch in der neuen Republik gewürdigt wissen wollte und auf seinen Pensionsansprüchen bestand. Ansonsten hatte man sehr wenig Interesse an der Ahndung der Verbrechen, die im Dritten Reich geschehen waren. Schließlich war der Krieg vorüber und die Kriegsverbrecherprozesse, wie Nationalisten die NS-Prozesse der Alliierten in Nürnberg nannten, empfanden viele als Siegerjustiz. Pendas: In der Periode zwischen der Gründung der Bundesrepublik 1949 und dem Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, dem die Gründung der Zentrale zur Aufklärung von NS-Verbrechen folgte, in dieser Dekade fanden einige, aber sehr wenige Prozesse zur Ahndung von Naziverbrechen statt, und diese sind durchweg auf private Initiativen von Lagerüberlebenden zurückzuführen. Oder sie werden durch die Sturheit von jemandem wie Bernhard Fischer-Schweder ausgelöst, der wiederholt vor Gericht geht, um seine Pensionsansprüche einzuklagen. Wenn er damit einfach aufgehört hätte, wäre ihm nichts passiert. Insofern verfügt dieses Verfahren über eine Zufallsqualität. Das gilt auch für die Anfänge des Auschwitz-Prozesses, der vor 1958 dadurch ermöglicht wurde, dass der ehemalige Auschwitz-Häftling Adolf Rögner in Bruchsal wegen Meineides unter Anklage stand und Wilhelm Boger als Folterer belastete. Boger wurde später zu einem der Hauptangeklagten im Auschwitz-Prozess, doch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft stand den Vorwürfen des Kriminellen Rögner zunächst sehr skeptisch gegenüber. Erst durch den Druck diverser Interventionen von Hermann Langbein, dem Sekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees auf die Stuttgarter Staatsanwaltschaft kamen die Ermittlungen in Gang. Ansonsten wäre gar nichts passiert. Der zweite Zufall ereignet sich in Frankfurt am Main, als Fritz Bauer durch einen Journalisten Dokumente aus Auschwitz überreicht bekommt. Shelliem: Thomas Gnielka, der für die Frankfurter Rundschau arbeitete Pendas: Gnielka hatte diese Dokumente selbst von einem Überlebenden erhalten. Mit diesen Dokumenten beantragte der Hessische Generalstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, die Zuständigkeit für die Ermittlungen zu den Verbrechen von Auschwitz nach Frankfurt zu ziehen. Bauer, selbst ein Remigrant, war sehr engagiert, er kämpfte für eine grundlegende, systematische Aufarbeitung des Auschwitz-Komplexes. Diese Zwillingszufälle führen zu dem Auschwitz-Prozess. Ähnliche Bedingungen galten für alle NS-Prozesse in den Fünfzigern. Das veränderte sich erst 1958 mit der Gründung der Zentralen Stelle, die zu einer systematischeren Ermittlungsarbeit führte. Weil die Zentrale Stelle aber nur eine Ermittlungsbehörde war, konnte sie Täter und Verbrechen zwar ermitteln, ihre Ermittlungsergebnisse aber übergab sie dann der zuständigen Staatsanwaltschaft, die den Fall aufnahm oder auch nicht. Das variierte sehr in der frühen deutschen Nachkriegsrepublik. Shelliem: Wie sieht es mit dem Auschwitz-Prozess im Kontext des Kalten Krieges aus? Die Deutsche Demokratische Republik schickte ihren Staranwalt und Schriftsteller Friedrich-Karl Kaul als Prozessbeobachter an den Main. Die Vereinigten Staaten haben wenige Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches viele Nazis für sich in Dienst gestellt. Admiral Gehlen, im Dritten Reich Chef der Abteilung Fremde Heere Ost baute ab 1946 die Organisation Gehlen auf, ab 1956 wurde sie in der jungen Bundesrepublik Bundesnachrichtendienst genannt. Simon Wiesenthal, der sich durch die Ermittlung von Naziverbrechern Gerechtigkeit erhoffte, erzählte mir mit bitterem Sarkasmus, dass, wenn er einen untergetauchten Naziverbrecher ermittelt hatte, ihm seine amerikanischen Kontakt-Offizieren oft gesagt haben, "Such einen Anderen, der arbeitet bereits für uns". Wie wurde der Auschwitz-Prozess von amerikanischer Seite gesehen? Gab es ähnliche Befürchtungen wie gegenüber dem Eichmann-Prozess, an dessen individueller Ausrichtung von vielen Seiten ein großes Interesse bestanden hat? Pendas: Die amerikanische Regierung hat dem Auschwitz-Prozess gegenüber keine offizielle Position artikuliert, doch es steht außer Frage, dass die Erhaltung der starken Allianz mit der Bundesrepublik für die USA gegenüber dem Warschauer Pakt an erster Stelle stand. Mitte der 1950er hatte es die gewaltige Debatte um die Wiederbewaffnung Deutschlands gegeben, zur Zeit des Auschwitz-Prozesses ging es um den Aufbau einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft ausgehend von einem Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich, dem die Vereinigten Staaten mit gemischten Gefühlen gegenüber standen. Einerseits wollen sie ein wehrhaftes Europa, andererseits lag ihnen wenig an einem wehrhaften Europa, das von den Vereinigten Staaten unabhängig ist. In diesem Kontext ist man in Washington froh, die Deutschen in einer aktiven Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zu sehen, man möchte diese Aufarbeitung jedoch nicht als so expansiv erleben, dass sie sich zur Bedrohung für die Adenauer Regierung entwickeln kann. Einen Prozess gegen Hans Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, der Konrad Adenauer nun als Chef des Bundeskanzleramtes dient, hätte man in den USA nicht gern gesehen. Das hätte die Position von Bundeskanzler Adenauer oder zur Zeit des Auschwitz-Prozesses von Ludwig Ehrhard, beschädigt. In diesem Kontext hat man den Auschwitz-Prozess auch nicht als leise Kritik der amerikanischen Begnadigungspolitik Naziverbrechern gegenüber empfunden, die in den späten 1940ern begann und in den frühen 1950ern, als die US-Gefängnisse rasch geleert worden sind, zu Ende ging. Ich denke nicht, dass viele Amerikaner auf diese Weise zwei und zwei zusammen gezählt haben. In der Rückschau kann der Auschwitz-Prozess aber sehr wohl als eine deutliche Kritik an den Grenzen der amerikanischen Entnazifizierungspolitik und der Verfolgung von Nazi-Verbrechern angesehen werden. Ich habe jedoch weder in der deutschen noch in der amerikanischen Presse Artikel gefunden, die solche Schlüsse gezogen hatten. Ich denke, dies ist ein Bild, der sich uns aus der Rückschau erschließt. Die Menschen damals sahen diese Verbindung jedoch nicht. Shelliem: Insofern hatte man sich damals in einer Doppelmoral eingerichtet, wobei man die Demokratisierung der jungen Bundesrepublik befürwortete, deren Aufbau jedoch mit ehemaligen Nazifunktionären betrieb. Pendas: Es gab das Problem der Auswahl und Ermittlung von Naziverbrechern. Schätzungen gehen von etwa 600.000 Deutschen aus, die auf die eine oder andere Weise in den Holocaust einbezogen waren und als Kriminelle eingestuft werden konnten. Hätte man diese 600.000 Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg eingesperrt, hätte das einen sehr destabilisierenden Effekt gehabt. Auch die Umsetzung wäre äußerst schwierig gewesen. Insofern waren Mechanismen nötig, die einige Leute ins Gefängnis brachten, alle aber konnte man nicht einsperren. Auch die Entnazifizierung erwies sich als ein sehr wenig taugliches Instrument. Heutzutage setzt man auf Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, um mit begangenem Unrecht umzugehen. Niemand wird eingesperrt, man spricht über die Vergangenheit. Dies Modell hat seine eigenen Grenzen und für die Opfer ist es ganz offensichtlich äußerst schmerzhaft. Für die Aufarbeitung von Völkermord gibt es kein wirklich gutes Modell. Völkermord ist ein so grauenhaftes und erschreckendes Problem, eine derartige Vergewaltigung aller möglichen Normen menschlicher Interaktion, dass die Neugestaltung einer friedlichen Gesellschaft unter den Spätfolgen eines derartigen Einbruchs nur in einem komplizierten, langen und frustrierenden Prozess zu erreichen ist. Shelliem: Als Fritz Bauer den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main vorbereitete, befand sich Deutschland mitten im Kalten Krieg. Welchen Spannungen war der Auschwitz-Prozess dadurch ausgesetzt? Die Berliner Mauer war zur Zeit der Prozesseröffnung gerade mal zwei Jahre alt. Pendas: Der Auschwitz-Prozess fand in einem schlüpfrigen politischen Klima statt. Über den Widerstand der Westdeutschen Bevölkerung sprachen wir bereits, sowohl über das Klima in der Öffentlichkeit, wie die Einstellung von Funktionären an der Macht. Der Kalte Krieg komplizierte aber auch die Verhandlungen innerhalb des Schwurgerichtsverfahrens. Er erleichterte es der Verteidigung, den Prozess als "kommunistisch inspirierte Hexenjagd" zu sehen. Fritz Bauer, der Mitglied der SPD gewesen ist, der hessische Generalstaatsanwalt galt als linker Sozialdemokrat, Fritz Bauer wurde als "kommunistischer Sympathisant" beschimpft. Derartige Vorwürfe spielten auch während der Verhandlungen eine Rolle, wenn versucht wurde, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu untergraben. Die meisten Zeugen waren aus dem Ostblock angereist, viele kamen aus Polen. Und die Verteidiger argumentierten, "diesen Menschen können wir nicht glauben, sie sind selbst Kommunisten, der polnische Geheimdienst hat sie geschult". Mit diesen Argumentationen kam die Verteidigung nicht immer durch, zuweilen aber doch. Grundsätzlich wurden diese Argumentationsketten vom Gericht nicht zurückgewiesen. Das Gericht berücksichtigte bei der Bewertung der Zeugenaussagen die Herkunft der Zeugen und nahm sie mit Skepsis auf. Das ist ein anderer Aspekt des Kalten Krieges und seines Einflusses auf das Gericht. Dazu kommt die Zurückweisung des Auschwitz-Prozesses vor allem durch die extreme Rechte, die CDU drückte sich moderater aus. Die Rechte nutzte den Kalten Krieg für ihre Argumentation und kleidete ihr Sympathisantentum für die NS-Täter in eine Kosten-Nutzen Rechnung. Mitte der 1960er Jahre konnte man niemanden mehr davon überzeugen, dass man für angeklagte Nationalsozialisten eintrat. Also wurde behauptet, dass die Haft der Angeklagten den Kommunismus stärke. Der Auschwitz-Prozess wurde als ein Versuch zur Unterminierung der nationalen Kraft gesehen, als "Fünfte Kolonne" apostrophiert, als ein Versuch der Zersetzung von Demokratie. Diese Argumente erhielten durch den Kalten Krieg jenen Hauch von Plausibilität, der ihnen ohne die politischen Spannungen nicht zugeflossen wäre. Shelliem: Wie sieht ihr Fazit aus, nach gut fünfhundert Seiten Arbeit über den Auschwitz-Prozess? Pendas: Mein Resumeé ist, dass allen legalen Systemen harte Zeiten bevorstehen, um einen Völkermord, ein derart groß angelegtes staatlich organisiertes Verbrechen, zu verarbeiten. Das deutsche Strafrecht führte jedoch zu besondere Schwierigkeiten, die es erschwerten dies vor einem deutschen Gericht zu verhandeln, weil sich die deutschen Strafrechtsgesetze auf die individuelle Schuld und individuelle Motive konzentrieren. Eine meiner Ansicht nach irreführende Sicht, die bei staatlich organisierten Verbrechen wenig hilfreich ist. Die Möglichkeiten des Schwurgerichts, einem breiteren Publikum gegenüber auch die soziale Basis der Naziverbrechen überzeugend abzustrafen, wurden dadurch eingeschränkt. Soweit meine Kritik. Gleichzeitig aber hat das Gericht für Gerechtigkeit gesorgt. Das Verfahren wurde fair und entsprechend den Buchstaben des Gesetzes durchgeführt. Es war von hohem symbolischem Wert, die überführten Angeklagten dem Strafrecht entsprechend zu bestrafen. Was ich daraus lerne: Man muss demütig sein, wenn man ein derartiges Verfahren voller Hoffnung auf Veränderungen analysiert. Die Möglichkeiten eines Schwurgerichtsverfahrens wie des Auschwitz-Prozesses, Gräueltaten eines staatlich organisierten Völkermordes aufzuarbeiten, sind begrenzt. In diesem Punkt hatte der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer recht: Das Recht ist dazu da, Kriminelle zu bestrafen, es kann kein Lehrstück für Geschichte sein. So ist es zwingend notwendig, Verfahren wie den Auschwitz-Prozess durchzuführen, sie müssen jedoch als Bestandteile einer breiteren Agenda eines kulturellen, wie politischen Transformationsprozesses angesehen werden und nicht als Ersatz für den politischen Prozess. 1