COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 13. September 2010, 19.30 Uhr Schulden ohne Ende - Geht Deutschland Pleite? Von Dani Parthum Musik 1: 7 Sekunden stehen lassen, dann unterblenden Einspieler1 "Die Lotterie von Babylon" Hoch über der Stadt habe ich gestanden, hinter großen Fenstern. Ich traf Entscheidungen von grausamer Tragweite. Spr. vom Dienst über Musikbett Schulden ohne Ende - Geht Deutschland Pleite? Von Dani Parthum Einspieler2 "Die Lotterie von Babylon" (Musikbett, ausklingen lassen, bis Ende) Leben und artig abarbeiten. Das geht, wenn Sie sich jetzt entscheiden. Sprecherin Drama in Wuppertal. Das Schauspiel-Ensemble der städtischen Bühnen gibt das Stück "Die Lotterie von Babylon". Im Mai ist Premiere gewesen, was fast trotzig wirkt angesichts der immensen Probleme, die das bekannte Sprechtheater der Wuppertaler Bühnen hat: O-Ton1 Scharwächter Es droht das Haushaltssicherungskonzept in der Stadt Wuppertal oder der Stadt selbst, wonach wir bis zu zwei Millionen Euro Kürzungen im Zuschuss erfahren werden und ganz "nebenbei" eine Spielstätte, das Schauspielhaus in Wuppertal Elberfeld, nicht mehr zur Verfügung gestellt werden wird. Zwei Millionen klingt vielleicht nicht so viel. Aber das ist eine Frage der Relation. Wenn wir jetzt einen Zuschuss von 10,9 Millionen haben und dann zwei Millionen Euro weniger, dann ist das sehr viel mehr als zehn Prozent und dann müssen wir den Theaterbetrieb umbauen. Es wäre völlig unseriös zu sagen, wir schaffen das schon irgendwie und dann geht es doch nicht gut. Das ist nicht richtig. Sprecherin Enno Scharwächter ist an den Wuppertaler Bühnen für das Kaufmännische zuständig. Wenn er von "Theaterbetrieb umbauen" spricht, meint er damit: Ein Ensemble wird gehen müssen, entweder im Schauspiel oder im erst kürzlich aufwändig renovierten Opernhaus. Für beide reicht das Geld nicht. Der Rat der Stadt wollte sich dieses Armutszeugnis vor der Sommerpause allerdings nicht ausstellen und hat die Entscheidung darüber vertagt. Zum Ärger von Johannes Slawig, denn der Wuppertaler Stadtkämmerer braucht schnell beherzte Spar-Beschlüsse: O-Ton2 Slawig Am Ende müssen Entscheidungen stehen, auch wenn es um massive Einschnitte geht. Uns steht das Wasser so bis zum Halse, dass wir hier dringend Einschnitte vornehmen müssen, damit die Verschuldung nicht noch weiter wächst. Jetzt in diesem Jahr werden wir wahrscheinlich einen Schuldenstand von zwei Milliarden. Euro erreichen. Überwiegend bestehend aus Kassenkrediten. Und diese Schulden steigen weiter, weil der Fehlbetrag trotz aller eigenen Anstrengungen weiter steigt bzw. auf einem hohen Niveau bleibt, und wir werden im nächsten Jahr, 2011, die bilanzielle Überschuldung erreichen. Also kommunale Selbstverwaltung ist so gut wie nicht mehr vorhanden. Sprecherin Slawigs Sparliste umfasst 134 Seiten. Darauf steht unter anderem: die Stadt baut Stellen ab, bildet nicht mehr aus, kürzt soziale Hilfen, schließt Schulen, Schwimmbäder und Bibliotheken - und ein Theater. Wuppertal plant ebenfalls, städtische Grundstücke zu verkaufen, Steuern und Gebühren zu erhöhen. Die Schulden führen Regie in der 350.000- Einwohner-Stadt an der Wupper. Musikakzent, übergehen lassen in Atmo1: Autobahn, Musik ausblenden, einblenden Atmo2: Straßengeräusche Sprecherin Schleswig Holstein, Autobahn 23. Auf halber Strecke zwischen Hamburg und dem Badeort St. Peter Ording liegt die kleine Gemeinde Lägerdorf. Sie ist von Wäldern und Wiesen umgeben; Pferde grasen. Ein Ort zum Ausruhen. Und der fehlenden Mittel, erzählt eine Frau um die 40, die mit ihren Hunden die Dorfstraße entlang schlendert: O-Ton3 Passantin Naja, merken tut man das überall. Das Schwimmbad bleibt geschlossen, das Geld ist nicht dafür da, dass es repariert werden kann, das ist schon richtig heftig. Also wenn man das überlegt, als Kind, wir hatten hier alles an Geschäften, wir hatten hier einen Fischladen, wir hatten einen Juwelier, wir hatten alles. Und was haben wir jetzt noch? Es ist nicht mehr viel da, ne, es wird immer trauriger. Es ist nicht mehr so, wie es mal war. unterblenden Atmo3: Vogelgezwitscher, Sprecherin darüber Sprecherin Bürgermeister Heiner Sülau seufzt, wenn er die Lägerdörfer Bewohner so reden hört. Frustriert sitzt er auf einer Bank im Garten seines Hauses. In der Hand hält der 65-Jährige eine Liste. Darauf stehen die Schulden Lägerdorfs. Rund sechs Millionen Euro sind es in den vergangenen acht Jahren geworden. Zu niedrig waren die Steuereinnahmen, sagt Bürgermeister Sülau. Dabei thront am Ortseingang ein Zementwerk, ein Arbeitgeber also, und Gewerbe-Steuerzahler: O-Ton4 Sülau Der Gemeinde Lägerdorf ging es mal sehr, sehr gut. Das liegt aber schon zehn Jahre zurück. Durch eine Steuerreform der Rot-Grünen Regierung im Jahr 2000 ist die Gemeinde Lägerdorf von einen Tag auf den anderen zu einer Fehlbedarfsgemeinde geworden. Es war der Fall, dass man einen neuen Gesellschaftervertrag gemacht hat im Unternehmen, also im Zementwerk, der auf diese Steuerreform abzog, und dadurch konnte man Gewinne, die hier möglicherweise erzielt werden, weltweit so verteilen, dass hier keine Gewerbesteuer mehr anfallen. Wir hatten einen Gewerbesteuereinbruch von über einer Million Euro. Leider können wir unseren Haushalt von diesem Zeitpunkt an nicht mehr ausgleichen, und das macht uns natürlich sehr zu schaffen. Sprecherin Längst steht Lägerdorf unter kommunaler Aufsicht. Die Schule durfte die Gemeinde noch sanieren, damit die jungen Familien im Dorf bleiben. Denn wer kann, geht weg. Genauso in Wuppertal. Die Stadt sei nächstes Jahr pleite, sagt Kämmerer Johannes Slawig. Nur das Land und der Bund könnten sie davor retten: O-Ton5 Slawig Die strukturellen Ursachen der Haushaltsprobleme in den altindustrialisierten Großstädten sind so massiv, dass die eigenen Anstrengungen nicht reichen: also rückläufige Einwohnerzahl, rückläufige Zahl von Arbeitsplätzen, sinkendes Steueraufkommen, veränderte Sozialstruktur, steigende soziale Leistungen, auf der einen Seite, also höhere Kosten, auf der anderen Seite stagnierende oder sogar zurückgehende Einnahmen wie bei der Gewerbesteuer. Und aus dieser Schieflage herauszukommen, das schafft man alleine nicht, trotz eigener Anstrengungen. Sprecherin Wuppertal und Lägerdorf - die stolze Arbeiterstadt und das beschauliche Dorf. Beide sind bereits an einem Punkt angekommen, auf den Deutschland als Nation ebenfalls zuzusteuern scheint: auf eine katastrophale Finanzlage. Lokalpolitiker verwalten den Mangel, statt gesellschaftliches Leben zu gestalten. Sie haben den Moment verpasst, die Ausgaben den Einnahmen anzupassen. Sie haben verpasst, eingefahrene Strukturen und Denkweisen zu ändern. Jetzt rufen sie nach der Bundesregierung. Dabei hält die es genauso. Die Regierungspolitiker geben seit Jahrzehnten Geld mit vollen Händen aus, ohne entsprechend hohe Steuereinnahmen. Ein Fall - eigentlich - für einen Schuldnerberater. O-Ton6 Brömmel Mein Name ist Matthias Brömmel. Ich bin von Haus aus Jurist, aber jetzt Schuldnerberater bei der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg e.V. Als Schuldnerberater weiß ich zwar, dass die aktuelle drückende Schuldenlast das spannende Thema ist. Ich schaue aber viel mehr auf die laufenden Ausgaben und laufenden Einnahmen und ob dies halbwegs zusammenpasst. Sprecherin Für den Bund sähe die Rechnung für dieses Jahr etwa so aus: Steuer-Einnahmen - etwa 240 Milliarden Euro. Ausgaben - etwa 320 Milliarden, zu zahlen vor allem an die Renten-, die Kranken- und Pflegekassen und für Zinsen. Die Schulden des Bundes von derzeit 1,2 Billionen Euro kosten stolze 50 Milliarden Zinsen. Und was sagt Schuldnerberater Matthias Brömmel dazu? O-Ton7 Brömmel Sieht schlecht aus. Weil die Gesamtausgaben sind round about 320 Milliarden Euro und die Einnahmen sind bedeutend geringer mit 230, 240 Milliarden Euro und das bedeutet, dass selbst wenn ich die aktuellen Schulden weg denken würde, laufend weiter Schulden gemacht werden. Das ist ein sehr misslicher Zustand. Die Rechnung wäre die: Was erwarte ich in der nächsten Zeit und was kann ich aufgrund dieser Erwartung tilgen? Wenn ich aber in die Vergangenheit schaue, dann hat es ja immer eine Nettokreditaufnahme gegeben und deshalb wäre ich ein bisschen pessimistisch, so wie ich auch im privaten Bereich pessimistisch wäre, wenn jemand zehn Jahre arbeitslos ist und mir dann weismachen will, dass er im nächsten Monat einen tollen Job bekommt. Da würde ich ein Fragezeichen dransetzen. Und mit genau diesem Fragezeichen würde ich auch dazu tendieren, dass eigentlich, rein mathematisch, wohl der Bund das ist, was man Pleite nennt. Sprecherin Deutschland -- schon heute ein Pleiteland? O-Ton8 Fuest Von einer Pleite ist Deutschland Gott sei Dank noch sehr weit entfernt. Die Frage, ob man noch Kredit hat an den Kapitalmärkten, hängt ja immer auch davon ab, wie solide die anderen Schuldner sind, und weil die Staatsverschuldung weltweit angestiegen ist, sieht man Deutschland im Kontext dieses weltweiten Anstiegs und betrachtet Deutschland immer noch als sehr solide. Sprecherin Das "noch" betont Clemens Fuest allerdings. Der Finanzwissenschaftler gehört zu den forschungsstärksten in Deutschland; lehrt an den Universitäten Oxford und Köln und berät die Bundesregierung. Noch sei Deutschland ein sicherer Hafen für Geldanleger, sagt Prof. Clemens Fuest, aber dieser Ruf sei auch leicht verspielt. Wann dieser Zeitpunkt erreicht sein könnte, wann also Investoren sich zurückziehen und verschuldete Staaten daraufhin in Zahlungsschwierigkeiten geraten - mit dieser Frage beschäftigt sich auch Thomas Mayer. Mayer ist Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Seine Prognosen sollen die Bank vor Milliardenverlusten bewahren, denn die Deutsche Bank finanziert die Defizite vieler europäischer Staaten: O-Ton9 Mayer Es gibt keine feste Regel, bis wie weit man sich verschulden kann, bis wie weit der Kapitalmarkt den Staat weiter finanziert. Das hängt ganz wesentlich von der Bereitschaft der Gläubiger ab, Neuverschuldung zu tolerieren, und das wiederum hängt davon ab, in welcher Phase im Kreditzyklus wir uns befinden. Oft ist es ja so, dass nach einem längeren Aufschwung die Kapitalmärkte sehr risikofreudig werden. Man ist dann gern bereit, jedem großzügig Kredite einzuräumen. Im Kreditzyklus kommt dann oft ein Zeitpunkt, wo die Gläubiger sagen: So kann es nicht weitergehen. Sobald der Kapitalmarkt glaubt, hier gibt es ein Problem mit der künftigen Rückzahlung, schneidet er die Kreditlinie ab. Und dann kommt ein Staat in die Insolvenz. Sprecherin Griechenland hat diesen abrupten Vertrauensentzug im April zu spüren bekommen. Die Insolvenz des Euro-Landes ist allerdings ausgeblieben. Dank einer 45-Milliarden-Euro Spritze, verabreicht von den anderen Ländern der Währungsunion und vom Internationalen Währungsfonds. Ohne diese Soforthilfe wäre Griechenland pleite. Das Gespenst des Staatsbankrotts ist damit nach Europa zurückgekehrt. Musikakzent Sprecherin Allein Spanien war im 19. Jahrhundert 13mal nicht fähig, seine Verbindlichkeiten zu begleichen, Frankreich ging acht Mal bankrott und Portugal nebst Griechenland jeweils sechs Mal. Und Deutschland entledigte sich im 20. Jahrhundert zweimal seiner Schulden mithilfe einer Staatspleite und eines Währungsschnitts, 1923 und 1948. Der Kapitalmarkt hat den Deutschen die Verluste längst verziehen. Zum Glück. Denn die Sparmilliarden anderer Nationen finanzieren indirekt seit Jahrzehnten deutsche Kitaplätze, Schulneubauten, Autobahnen, Renten und das Leben von Arbeitslosen. Kurz: Sie finanzieren einen Großteil des Wohlstands. Es ist ein geborgter Wohlstand - der bald zu Ende gehen könnte, sagt der Professor für Finanzwissenschaften, Clemens Fuest: O-Ton10 Fuest Wir haben in Deutschland eine Situation, in der der Druck auf die Staatsfinanzen mittelfristig noch massiv zunehmen wird, durch unsere Demografie. Der Staat hat viele Pensions- und Rentenversprechen gemacht, die trotz einiger Kürzungen, die es gegeben hat, nicht ganz einfach einzuhalten sein werden. Außerdem sehen wir heute schon im Bundeshaushalt, dass die Krankenkassen Zuschüsse benötigen. Wir haben eine ähnliche Situation in der Pflegeversicherung. Das heißt: Wir marschieren in den nächsten 20, 30 Jahren in eine Lage, in der der Staat sowieso sehr stark unter Druck gerät. Insofern ist jetzt der Moment da, die Schulden eher zu drücken. Sprecherin Wissenschaftler haben dieser finanziellen Schieflage, auf die Deutschland zusteuert, einen Namen gegeben: Nachhaltigkeitslücke. Geschätzte Dimension: etwa acht Billionen Euro. Das ist dreimal so viel, wie Deutschland im Jahr erwirtschaftet. Aus eigener Kraft kann Deutschland diese selbst verschuldete Lücke nicht schließen. Es ist auf großzügige Geldgeber aus dem Ausland angewiesen. Professor Clemens Fuest hat deshalb der Bundesregierung die Schuldenbremse empfohlen. Weil Investoren immer irgendwann kalte Füße bekommen und Politiker nicht haushalten können: O-Ton11 Fuest Was diese Schuldenbremse ausmacht, ist ein Artikel im Grundgesetz, der im Wesentlichen sagt, die Haushalte müssen ausgeglichen sein. Man kann ein bisschen davon abweichen, 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, aber nicht mehr. Man darf auch bei schlechter Konjunktur auch mal Schulden machen, aber die muss man bei guter Konjunktur durch Überschüsse wieder ausgleichen. Sprecherin Die Bundesregierung darf in sechs Jahren nur noch minimal Schulden neu aufnehmen. Die Bundesländer haben drei Jahre länger Zeit. 2019 aber müssen dann alle mit ihren Einnahmen auskommen. - Und wenn nicht? O-Ton12 Fuest Die Regierung würde dann gegen das Grundgesetz verstoßen und im Prinzip könnte man klagen. Sehr effektiv ist diese Sanktion am Ende nicht. Stärker ist vielleicht die Sanktion, dass die Öffentlichkeit aufmerksam wird und die Opposition sagen kann: Liebe Regierung, der Haushalt, den du da vorlegst, der verstößt gegen die Verfassung, und man muss hoffen, dass die Regierung das schon ernst nimmt. Sprecherin Nehmen Bund und Länder die Schuldenbremse in der Verfassung nicht ernst, macht sich Deutschland immer abhängiger von der Geberlaune der Welt. Aber selbst wenn die Regierungen sparen: Seine Kreditschulden wird Deutschland niemals tilgen können; es wird nur weiter umschulden, so Clemens Fuest: O-Ton13 Fuest Dass man die Schulden tilgt, ist aber auch nicht erforderlich. Dass man Schulden tilgen muss, diese Idee kennen wir eher aus dem privaten Bereich. Aber im privaten Bereich ist ja so, dass man in der Regel, ich sag mal, zwischen 20 und 60 ein Einkommen erzielt und später, wenn man in Rente geht, sinkt das Einkommen meistens und dann sagt man, gut, man kann sich, wenn man jünger ist, Geld leihen, z.B. um ein Haus bauen, und das muss man dann auch tilgen, weil das Einkommen wegfällt. Ein Land ist ja in einer anderen Lage. Das hat nicht diesen Lebenszyklus, sondern das ist permanent vorhanden und insofern kann ein Land gut damit leben, dass es immer eine gewisse Staatsverschuldung hat. Wichtig ist allerdings, dass das Verhältnis zwischen den Schulden und der Wirtschaftskraft nicht ausufert. Deshalb ist diese Schuldenquote wichtig. Das darf nicht zu hoch werden. Denn wenn die Schuldenquote immer weiter ansteigt, dann hat man einen immer größeren Anteil der Steuereinnahmen für Zinsen aufzubringen und das geht dann irgendwann schief. Was jetzt die optimale Schuldenquote ist, das ist schwer zu sagen. Es spricht aber einiges dafür, dass man, wenn man wie Deutschland bei 80 Prozent sich bewegt, doch sehr hoch liegt. Sprecherin Volkswirte halten eine Schuldenquote von rund 60 Prozent der Wirtschaftleistung für akzeptabel. Deutschland dürfte demnach nur etwa 1,4 Billionen Euro an Staatsdefizit ausweisen, tatsächlich stehen in den Schuldbüchern von Bund und Länder zurzeit beinahe zwei Billionen Euro. Um der Schuldenfalle zu entkommen und dem Vertrauensentzug der Geldgeber zuvor zu kommen, wollen Deutschlands Politiker also auf die Ausgabenbremse treten. Strukturelle Reformen dagegen lassen sie links liegen, Reformen im Steuer- und Arbeitsrecht, bei der sozialen Absicherung und der Landes-Verteidigung. Reformen also, die langfristig das Steueraufkommen sichern - und damit den Wohlstand und sozialen Frieden. Eine unzulängliche Ausgangslage für die nächsten Jahre. Und eine gefährliche. Musikakzent Sprecherin Die Regierung Merkel hat Deutschland zu den ohnehin bestehenden Herausforderungen eine weitere Last aufgebürdet. Sie hat dem Bundestag ein 750-Milliarden-Rettungspaket für Griechenland und Europa abgerungen und den Internationalen Währungsfonds mit eingespannt. Ein Vorgehen, das sich zur Existenzfrage auszuwachsen könnte, sagt Charles Blankart, Professor für Öffentliche Finanzen an der Humboldt Universität Berlin und einer der wenigen deutschen Volkswirte von internationalem Renommee: O-Ton14 Blankart Das kostet überblicksmäßig, ich habe ungefähre Berechnungen gemacht, das Dreifache, was ein normaler Staatsbankrott gekostet hätte. Wir haben etwa 100 Milliarden dafür ausgegeben, und hätten das für etwa 30 Milliarden haben können. Wir haben uns Zeit gekauft mit Griechenland und haben dafür schlechte Anreize gegeben für Portugal und Spanien, diese sagen, ach ja, wenn Griechenland gerettet wurde, dann werden wir auch gerettet, dann müssen wir uns nicht so viel Mühe geben. Die Signalwirkung, die Folgewirkung, kann viel schlimmer sein. Es kann ja dann sein, dass wir Portugal und Spanien mit noch viel größeren Summen aufkaufen müssen. Es ist ja auch vorgesorgt worden. Herr Sarkozy und die Kommission haben in Brüssel durchgesetzt, dass 750 Milliarden aufgesetzt werden, damit auch diese Länder gerettet werden können. Sprecherin Im Ernstfall müsste Deutschland 150 Milliarden Euro an notleidende Euroländer verteilen. Dabei hatte die Euro-Gemeinschaft in den Gründungsverträgen eine gegenseitige Haftung ausdrücklich ausgeschlossen. Die Finanzkrise aber hat solche Grundsätze weggefegt. Jetzt haftet jeder für jeden. Zu diesem fatalen Fehlanreiz gesellen sich die billigen Kredite des Internationalen Währungsfonds. Von ihnen geht ebenso keine disziplinierende Wirkung aus, so Entwicklungsökonom Axel Dreher von der Universität Göttingen: O-Ton15 Dreher Wenn sie sich Griechenland ansehen zum Beispiel, diese konzertierte Aktion der Euroländer und des IWF. Kurzfristig war das für Griechenland ein Erfolg. Aber sie müssen sich überlegen, was das für langfristige Konsequenzen hat und wie sie das bei der Gesamtbeurteilung gegeneinander aufwiegen. Dass sie jetzt kurzfristig weitere Kredite bekommen heißt ja nicht, dass diese Politik langfristig durchführbar ist. Sie häufen weiter Schuldenberge an und müssen diese Schulden irgendwann zurückzahlen müssen, und es kann sehr gut sein, dass in einigen Jahren die Situation jetzt viel stärker eintritt, die jetzt eingetreten wäre ohne die Hilfe des IWF, nämlich die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das doch noch irgendwann kommt. Sprecherin Volkswirt Axel Dreher gibt Griechenland noch drei Jahre bis zur Zahlungsunfähigkeit. Der IWF hat dem Land zwar strenge Spar- und Reform-Auflagen diktiert. Durchsetzen wird er sie aber nur ansatzweise, und sie werden das Land auch kaum stabilisieren. Diesen Schluss lassen die Analysen von Professor Dreher zu. Er hat die Kreditvergabe des IWF untersucht und dabei kein Land gefunden, das heute dank IWF-Hilfen wirtschaftlich rundweg genesen ist. O-Ton16 Dreher Sie können jede Menge Einzelbeispiele finden, wo es erfolgreich gelaufen ist oder weniger erfolgreich. Argentinien ist auch kein gutes Beispiel. Es galt lange als Musterknabe für den IWF. Man hat dann auch, als sich die Situation verschlechtert hat, immer weiter Kredite gewährt und wenn sie sich darüber mit den IWF-Mitarbeitern unterhalten, die das miterlebt haben, werden die richtig böse. Die Leute vor Ort haben einem ins Gesicht gelacht; obwohl klar war, die Bedingungen werden nicht eingehalten, wird das Geld dennoch weiter fließen. Das war der politische Druck, dass man weiter Kredite vergeben musste. Und das hat eher geschadet als genützt. Sprecherin Noch heute streitet sich Argentinien mit seinen Schuldnern. Und am Kapitalmarkt hat das südamerikanische Land weiterhin einen schlechten Ruf. Wer einmal am billigen Kredit- Tropf des IWF hängt, hat kaum Anreize, bei der eigenen Genesung tatkräftig mitzuhelfen. Ein schlechtes Omen für Griechenland -- und damit auch für Deutschlands künftigen Schuldenstand. Musikakzent Sprecherin Ein Bankrott Deutschlands im 21. Jahrhundert allerdings wäre ein anderer als 1923 und 1948. Beiden ging ein massenhaftes Gelddrucken seitens der Reichsbank voraus, damit Deutschland seine Kreditschulden begleichen konnte. Die sich daran anschließende Hyperinflation beendeten die jeweiligen Regierungen mit einer neuen Währung. Auf diese Art seine Staatsschulden loszuwerden, gehe heute nicht mehr, erklärt Finanzwissenschaftler Clemens Fuest: O-Ton17 Fuest Seine Staatsschuld inflationieren könnte Deutschland, wenn Deutschland noch eine eigene Notenbank hätte und die nicht unabhängig wäre. Wenn der Finanzminister der Notenbank sagen könnte, hier gebt mir mal Kredit, druckt Geld und damit bezahlen wir die Verpflichtungen, die der Staat hat. Dann würde also immer mehr Geld gedruckt, dass würden die Menschen irgendwann merken und würden damit immer mehr Güter kaufen und die Preise würden ansteigen und so würde in einem Land Inflation entstehen. Jetzt ist es aber so, dass wir in der Europäischen Währungsunion sind, und deshalb kann der deutsche Staat und auch kein anderer Mitgliedsstaat von sich aus inflationieren. Das müsste also schon die Europäische Zentralbank unternehmen in dem Fall. Sprecherin Ginge die Europäischen Zentralbank tatsächlich diesen Schritt, verstieße sie gegen ihr wichtigstes Versprechen - den Euro stabil zu halten, also höchstens zwei Prozent Inflation im Jahr zuzulassen, und nicht bis zu zehn Prozent. Die europäische Notenbank gäbe zudem ihren wichtigsten Schatz her, ihre Unabhängigkeit, weil sie im Interesse ihrer Anteilseigner, der Euroländer, handelte. Aber ist das so abwegig? Nein, sagt Finanzökonom Charles Blankart. Weil die Aussicht lockt, sich der europaweit dramatisch zugenommenen Schuldenlast durch eine höhere Inflation langsam zu entledigen. Und: weil die EZB unter Präsident Jean-Claude Trichet im Grunde bereits damit angefangen hat. Im Verlauf der Finanzkrise hat die EZB viele Prinzipien über Bord geworfen. Sie hat beispielsweise griechische Staatsanleihen aufgekauft. Ein Tabu unter Notenbankern. Das Kaufen von Staatsanleihen kommt nämlich dem Gelddrucken nahe: O-Ton18 Blankart Herr Trichet ist von Frankreich unter Druck gesetzt worden und er interveniert auf dem Geldmarkt und unterstützt in Not geratene Staaten, was langfristig wahrscheinlich inflationäre Tendenzen hat. Die Unabhängigkeit der Zentralbank ist derzeit auf wackeligen Füßen. Sprecherin Setzt sich eine Zentralbank dem Verdacht aus, beeinflussbar zu sein, schwächt das in der Regel eine Währung. Investoren verlieren Vertrauen und ziehen ihr Kapital zurück. Andererseits hat auch die US-amerikanische Notenbank FED Staatsanleihen aufgekauft. In viel größerem Stil. Und kaum jemand stört sich daran. Tabubrüche scheinen zu dieser Finanzkrise dazuzugehören wie die Arroganz beim Großkapital. Mit einem blauen Auge werden die europäischen Staaten jedenfalls nicht davon kommen. Da ist sich der erfahrene Volkswirt Blankart sicher: O-Ton19 Blankart ... weil man sagt, früher oder später kann man das ökonomische Gesetz nicht umgehen, damit man sich keine Illusionen macht. Wann das genau sein wird, ist schwierig zu sagen. Ist vielleicht auch nicht so wichtig in diesem Fall. Wir müssen einfach wissen, dass wir auf dem falschen Weg sind und versuchen, die Politiker zu überzeugen, auf den richtigen Weg zu gehen. Sprecherin Viel Zeit dürfe sich die Politik dabei nicht lassen, drängt auch Blankarts Kollege, Volkswirt Clemens Fuest von der Universität Köln: O-Ton20 Fuest Die aus meiner Sicht zentrale Aufgabe für die Politik liegt jetzt darin, in der Zeit, in der dieser Rettungsschirm gilt, das sind ja drei Jahre, mit einem Konzept zu kommen, das uns erlaubt, aus dieser Solidarhaftung wieder auszusteigen. Wenn das nicht gelingt, dann sehe ich ganz große Probleme, nicht nur, dass es dazu kommen könnte, dass in Deutschland die Staatsverschuldung stark ansteigt, weil man für die anderen haften muss, sondern ich sehe auch politische Probleme in Deutschland. Die Widerstände werden sehr groß sein und die europäische Einigung, die Währungsunion, wird sehr, sehr stark angegriffen werden. Ich würde dann die Gefahr sehen, dass mittelfristig die Währungsunion sogar auseinander brechen könnte, und der politische Schaden wäre groß. Sprecherin Ein Konzept, das Professor Fuest im Sinn hat, wäre eine Insolvenzordnung. Jedes Euro- Mitgliedsland müsste demnach für seine Misswirtschaft und Schuldenpolitik einstehen - und im Zweifel mit seinen Geldgebern einen Schuldenerlass aushandeln. Treffen würde eine Insolvenzordnung vor allem Banken, Versicherungen und Pensionskassen. Musikakzent Sprecherin Deutschland und seine Schulden. 70 Milliarden Euro kommen in diesem Jahr oben drauf, im nächsten rund 60 Milliarden. Dass Deutschland dieses Staatsdefizit jemals tilgt, ist ausgeschlossen. Das Defizit relativiert sich auch nicht durch Wirtschaftswachstum. Diese Strategie klappt schon seit vierzig Jahren nicht. Weginflationieren dagegen scheint eine plausible Lösung zu sein. Dabei müssten aber alle Euro-Länder mitspielen und über die Europäische Zentralbank Inflation zulassen. Und ohne Inflation? Muss Deutschland vielleicht eines Tages selbst um Schuldenerlass bitten, wie Argentinien? Die deutschen Kommunen nähern sich bedrohlich diesem Zustand. Jede dritte ist finanziell überfordert wie die Stadt Wuppertal. Sie steht kurz vor der Pleite. Die Bürger zahlen dafür schon längst die Zeche. Schulen, Bäder, Bibliotheken schließen, Polizisten und Sozialarbeiter werden entlassen und die Steuern steigen. Ideen, dem Absturz zu entkommen, hat der Rat der Stadt Wuppertal nicht. Er ruft nach Bund und Land. Und so kann Wuppertals Stadtkämmerer Johannes Slawig wieder auf bessere Zeiten hoffen: O-Ton21 Slawig Ich bin jetzt 12 Jahre hier in Wuppertal Kämmerer und ich habe noch nie erlebt, dass das Thema der kommunalen Haushaltskrise so weit oben auf der politischen Agenda gestanden hat. Sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene. Wir müssen dafür kämpfen, dass es bald Lösungen gibt. Bund und Land sind gut beraten, jetzt zu helfen. Natürlich ist das noch ein langer Weg und bedeutet noch viel Mühe, eher wir Erfolg haben. Aber: Ich habe Hoffnung, wenn nicht jetzt, wann dann? Spr. vom Dienst Schulden ohne Ende - Geht Deutschland Pleite? Von Dani Parthum Es sprach: Marina Behnke Ton: Inge Görgner Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 S. 15/15