COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Kein schöner Land in dieser Zeit?" Die literarische Wiederentdeckung der Provinz AutorIn: : Georg Gruber Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 03.08.2010 Regie : Beate Ziegs Besetzung : Autor (Kommentar), Sprecher (Zitate) O-Töne und Atmos auf CD Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Literatur: Kein schöner Land in dieser Zeit? - Die literarische Wiederentdeckung der Provinz Sendedatum: 03.08.2010 Produktionsdatum: 30.07.2010 Redaktion: Dorothea Westphal Autor: Georg Gruber, 0179/521 82 82, 08806/957 246, Georg.Gruber.fm@dradio.de Zur Musik: * "Kein schöner Land", gesungen vom Bad Tölzer Knabenchor, helle Kinderstimmen, für den Anfang, eventuell auch mal in der Mitte oder gegen Ende * "Kein schöner Land", Instrumental eingespielt, immer nur ein Instrument: Trompete, Klarinette, Posaune. Diese Instrumentalversionen sind so eingespielt, dass kurze Ausschnitte als Akzent verwendet werden können. Anmod-Vorschlag "Kein schöner Land", "Der lange Gang über die Stationen", "Grenzgang" - drei Romane, drei Debüts junger Schriftsteller, die eines gemeinsam haben: Sie spielen auf dem Land, in der Provinz. Und alle wurden von der Kritik wohlwollend aufgenommen - zum Teil auch mit Erstaunen. So schrieb etwa Iris Radisch in der Zeit über den Roman "Grenzgang" von Stephan Thome: "Romane aus der Provinz hat es zwar immer gegeben. Aber haben wir diese gedruckte uncoole Kleinbürgerwelt in den letzten Jahrzehnten nicht aus der Literatur vertrieben?" Und die Welt konstatierte anlässlich Patrick Findeis Roman "Kein schöner Land" eine "neue deutsche Heimatliteraturwelle", die sich auf einem "sprachlich ausgesprochen hohen Niveau ereignet." Georg Gruber hat sich aufgemacht in die literarische Provinz, die gerade wieder entdeckt wird, als Schauplatz für ganz unterschiedliche Geschichten. SENDUNG: Musik, Kinderchor: Kein schöner Land, kurz frei und unter Sprecherin legen Sprecher: Zitat, Stephan Thome, Grenzgang S. 9 "Trotz allem, denkt sie: Der Garten ist ein Traum. Von Osten her brechen Sonnenstrahlen durch die Ligusterhecke, legen sich waagrecht über aufblühende Beete und nehmen die Stämme von Birken und Kastanien in Besitz. Eine Stelle aus Vogelgezwitscher und Insektengesumm füllt die schattenkühle Luft des beginnenden Tages und lässt alle anderen Geräusche verblassen." Autor Auch wenn der Garten ein Traum ist, das Idyll trügt, das Leben von Kerstin Werner ist kein Traum mehr. Ihre Ehe ist gescheitert. Die Mutter, die bei ihr wohnt, ist dement, Kerstin muss sie pflegen. In der Mitte ihres Lebens, sitzt Kerstin fest, in Bergenstadt, in der Provinz. Sprecher: Zitat, Stephan Thome, Grenzgang S. 9 "Im Morgenmantel steht Kerstin auf der Terrasse und drückt sich die Zeigefingerspitzen gegen die Schläfen." Autor Alle sieben Jahre wird in Bergenstadt ein historisches Fest veranstaltet, an dem sich fast alle im Ort beteiligen, der "Grenzgang". Stephan Thome, geboren 1972, hat für sein gleichnamiges Debüt von der Kritik viel Lob bekommen, sein Roman schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2009 - und er wurde bisher rund 50.000 Mal verkauft. Eine stolze Zahl für eine eigentlich ziemlich unspektakuläre Beziehungsgeschichte, von eben jener Kerstin, die von ihrem Leben nicht mehr viel Neues erwartet, die sich dann aber doch noch einmal verliebt. In Thomas Weidmann. Der hatte vor Jahren die verschlafene Kleinstadt in Richtung Berlin verlassen, konnte dort an der Universität aber nicht so reüssieren wie erhofft - und ist deswegen zurückgekehrt. Um nun als Lehrer in dem Städtchen zu arbeiten. Sprecher: Zitat, Stephan Thome, Grenzgang S. 137 "Schon den ganzen Sommer über hatte sich in ihm die Ahnung breitgemacht, dass sein Ehrgeiz vergebens und er auf ganzer Linie gescheitert war. Und nun kam die Erkenntnis hinzu, dass er nie Ehrgeiz im eigentlichen Sinne besessen hatte, sondern allenfalls dessen hässlichen Zwilling, die Eitelkeit. Bloß was folgte daraus? Sollte er die Hände in den Schoß legen und sich der Einsicht ergeben, dass in allen menschlichen Dingen die Vergeblichkeit nun einmal den längsten Atem besitzt? Was unterschied diese Einsicht dann noch vom Bergenstädter Phlegma, außer dem Umweg, auf der er zu ihr gelangt war? Anders gesagt: Nichts gegen die Einsicht als solche, aber ohne die Fähigkeit, mir ihr auch leben zu können, war sie offensichtlich von begrenztem Wert." Autor Stephan Thome hat diese Beziehungsgeschichte zwischen den beiden desillusionierten Mittvierzigern ganz bewusst in der Provinz angesiedelt: 1. O-Ton Stephan Thome Es ist klar, dass die Geschichte, so, wie sie sich abspielt, einerseits mit Dingen zu tun hat, die nicht provinzspezifisch sind, dass die Figuren mit privatem und beruflichen Scheitern konfrontiert sind, mit Verlust und Einsamkeit und all diesen Dingen, dass aber die spezifische Art, wie die Geschichte sich entwickelt und wie die Figuren sich fühlen und in welcher Situation sie sich befinden, durch den Ort geprägt ist, und da eignet sich dann die Kleinstadt, weil gerade diese ländliche Gegend, der viele Wald drum herum, um so ein Gefühl des Eingeschlossenseins zu erzeugen und eine Perspektivlosigkeit oder gewisse Ausweglosigkeit oder zumindest die bange Frage, inwiefern es aus diesen Lebensumständen, in denen sich beide nicht ganz freiwillig aber auch nicht ganz unverschuldet befinden, inwiefern es da noch einen Ausweg geben kann, also dafür gibt der Ort atmosphärisch etwas her, was für die Situation und die Stimmung der Figuren wichtig ist. Autor Gleichzeitig hat Thome auch ein Portrait seiner Heimatstadt gezeichnet: Bergenstadt heißt eigentlich Biedenkopf, liegt im Oberhessischen, im Landkreis Marburg. 2. O-Ton Thome Ein 7.000 Seelen-Ort, eine Kleinstadt, relativ weit weg von vielen Dingen, die Gegend heißt nicht umsonst Hinterland, also 30 km bis zur nächsten Autobahn und 30 km bis zum nächsten Kino, hügelige Landschaft, wo so jedes Dorf auch ein bisschen für sich ist und seine eigene Tradition, seine eigene Ausformung des regionalen Dialekts pflegt, insofern eine Abgeschiedenheit, die die Gegend kennzeichnet und in gewisser Weise ist das auch kennzeichnend für den "mindset", die Art und Weise, wie die Menschen leben und denken und die Welt wahrnehmen, also in diesem Sinne trifft es das Label "Provinz" durchaus. Musikakzent, Kein schöner Land, Instrumental, Autorentext trocken. Autor "Kein schöner Land", so heißt das Debüt von Patrick Findeis, Jahrgang 1975. Und für diese Geschichte, die in der süddeutschen Provinz spielt, wurde er 2008 in Klagenfurt mit dem 3sat-Literaturpreis ausgezeichnet. 3. O-Ton Findeis Es sind ja eigentlich drei Orte, Friedberg, Rottensol und Gefries, das sind fiktive Namen, und die habe ich schon gewählt, damit es quasi überall und nirgends sein kann. Na gut, sie klingen süddeutsch, nicht wie ein Dorf im Norddeutschen, aber sie sind schon ungefähr dort verortet, wo ich auch meine biografischen Wurzeln habe, an der schwäbischen Ostalp, an der Grenze zu Bayern so die Richtung Baden- Württemberg. Ja, für mich ist es im Endeffekt eine Mischung aus Provinz, wie ich sie im Endeffekt kenne und dörflichem Leben, im Aufbau des Dorfes Rottensol oder der Kreisstadt Friedberg, eben dieses Klassische: Wohngegend, Industriegebiet, Durchfahrtsstraße, ein kleiner Bahnhof, der einzige Ausweg ist die Bundesstraße, die durch den Ort oder die Stadt führt, oder eben der Bahnhof, der immer seltener angefahren wird. Autor Eine Geschichte über die dunklen Seiten der Provinz, so, wie sie in unseren Köpfen präsent sind: das Gefühl von Enge und Unfreiheit, jeder kennt jeden, jeder weiß oder ahnt alles über den anderen. Und eine Geschichte über jugendliche Ausbruchsversuche. Uwe will weg, will raus, er geht auf die Walz, und er kehrt zurück - ein Motiv, das immer wieder in der "Provinzliteratur" zu finden ist, die Rückkehr. Uwe kehrt vorzeitig zurück, weil die Mutter ihm gesagt hatte, dass der Vater im Sterben liege, was aber gar nicht stimmt: Sprecher Zitat, Findeis, Kein schöner Land, S 118 Er ist nicht krank, sagte Uwe: er ist gar nicht schwer krank - das stimmt gar nicht. Seine Mutter hatte die Augen geschlossen. Uwe stand vor ihr. Dass er hier war, konnte er nicht begreifen, und dass der Vater gleich in der Wohnung sein könne und gesund. Bub, sagte die Mutter: Bub. Uwe sah an die Wand, zum Schrank, zum Fernseher, zum Sofa und zum Regal und wieder zur Mutter. Autor Die Provinz lässt einen nicht los. Patrick Findeis, der selbst auf dem Land aufgewachsen ist, zeichnet im Roman, die verschiedenen Zeitebenen kunstvoll verwoben, ein beklemmendes Bild. 4. O-Ton Patrick Findeis Das soziale Netz ist viel engmaschiger, und man muss schon ziemlich kämpfen um durchzufallen, man wird eher aufgefangen, was aber auch eine Kontrolle ist, wenn man sagt, ich will anders sein oder ich will Dinge anders tun und dass es nicht so einfach ist, sich seine Freiräume zu schaffen, ganz einfach weil, wenn es jetzt ein ganz kleines Dorf ist, jeder jeden kennt, man hat Verbindungen über Sportvereine, Gesangsvereine, Schützenvereine usw, alles wird gesehen, was man tut, und alles wird auch kommentiert, und dieser Kommentar, der bleibt nicht irgendwie von einem fort, weil der sich über drei Ecken wieder an einen heranschleichen kann. Autor Glücklich kann hier keiner werden, Uwe nicht, die Mutter nicht, Olaf, der Freund aus Kindestagen nicht, der nach einem Brand, für den er verantwortlich war, zur Fremdenlegion geht. Auch er kehrt zurück - und erinnert sich an Kinderspiele, über denen schon ein Schatten lag: Sprecher , Zitat, Findeis, Kein schöner Land, S. 158 Wir haben gezeltet bei meinen Eltern im Garten, sagte er: wir haben getan, als wären wir die letzten Menschen auf der Erde, und die Welt wäre leer hinter dem Stoff des Zeltes, den wir angeleuchtet haben mit unseren Taschenlampen - und Uwe hat gesagt: Der Vater will mich fertigmachen, weil er denkt: ich bin nicht sein Kind, und ich will auch nicht sein Kind sein. Und nicht das von einem anderen - ich will dein Bruder sein: und ich hab ihn ausgelacht. Autor Uwe wird als Fixer sterben, der letzte Fluchtweg aus der Provinz sind, so scheint es, Drogen, legale wie illegale. Patrick Findeis hat in seinen Roman auch Beobachtungen über die schleichenden Veränderungen im ländlichen Leben einfließen lassen: Das Dorf ist nicht mehr das Dorf von früher. Immer weniger Bauern arbeiten noch als Bauern, die Landwirtschaft lohnt sich nicht mehr. Äcker und Wiesen bringen mehr ein, wenn man sie als Bauland verkauft. Sprecher , Zitat, Findeis, Kein schöner Land, S. 148 Wie der Großvater hier anfing, hatte sein Vater immer erzählt: mit elf Kindern und einem Ochsen. Was der sagen würde zu einem Mastbetrieb wie dem vom Vetter, fragte sich Späth oft, und ob er sich die Zukunft so hatte vorstellen können. Aber ich hab dem ein Ende gemacht, dachte er und sah seine Frau an, die gebeugt über dem Kreuzworträtsel der Tageszeitung saß. 5. O-Ton Findeis Dieser Verfall, der Bauer Späth, ist auch ein Außenseiter, der hat viel Geld gemacht, aber durch das Verkaufen seiner Felder hat er im Endeffekt auch seine Seele verkauft und gehört auch nicht mehr dazu zu den anderen Bauern, wo er vorher dazu gehört hat, das war auch das, was mich am meistern interessiert hat, dieser Übergang, der durch Brüche stattfindet, auch durch Brüche im sozialen Gefüge dann. Musikakzent, Kein schöner Land, Instrumental, Autortext trocken. Autor "Der lange Gang über die Stationen" - so heißt der preisgekrönte Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker, geboren 1982 im österreichischen Kirchdorf an der Krems. Der Roman spielt in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, zu der Zeit also, als jene Veränderungen auf dem Land einsetzten, unumkehrbar. In karger altertümlich anmutender Sprache erzählt er, selbst Sohn eines Landwirts, die Geschichte eines Bauern, der den Hof seiner Eltern übernimmt, eine Frau aus der Stadt heiratet - und der Probleme hat, mit dem Wandel der Welt zurecht zu kommen. Sprecher, Zitat, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Der lange Gang über die Stationen, S. 63 "Damals schon wurde das Große größer, Felder wurden zusammengelegt, die kleine und kleinteilige Struktur langsam aufgelöst, so langsam, dass man dabei zusehen konnte. Das Jahr 1956. Wo es nur irgendwie möglich war, schien mir, wurde das Kleinteilige gewaltsam überwunden. Und auch, wenn es langsam ging - mir kam es nicht wie ein Auflösen, sondern wie ein Sprengen vor, ein widernatürlicher Vorgang. Man sah es etwa an den Feldwegen, die ich schon als Kind gekannt hatte und gegangen war ein ums andere Mal, die jetzt aber plötzlich unter einer Pflugschar verschwanden und Stück für Stück in Acker, in Urbares umgewandelt wurden. Da war kein Gehen mehr, sondern ein Umgehen und Ausweichen." 6. O-Ton Kaiser-Mühlecker Von dem Zeitpunkt an hat sich sehr viel zu verändern begonnen, mit der ganzen Industrialisierung und Maschinisierung der Landwirtschaft und der Landschaft, seither verändert sich einfach die ganze Welt in sehr rascher Weise. Wenn man nach Südamerika schaut, sieht man, dass sich dort nicht nur die Landschaft ändert, sondern dass ganze Länder ihr Gesicht verlieren, weil einfach nur noch eine Pflanze angebaut wird. In dem Stationen-Buch heißt es ja auch, damals begann das Kleine größer zu werden, und dieser Punkt interessiert mich, ob es in den 50er Jahren oder jetzt ist, wo der Prozess ja auch noch nicht zu Ende ist, wenn man an Banken denkt, es ist ganz gleich woran man denkt, es ist nicht die Tendenz da, dass man in überschaubaren Größen denkt, sondern es geht alles zum Superlativ, es interessiert mich literarisch, als Bürger und Konsument und eben auch als Autor. Autor Zu schreiben begonnen hat Reinhard Kaiser-Mühlecker, als er in der Ferne war, in Südamerika, als Zivildienstleistender im Osten Boliviens. Aus der Distanz kann man manches klarer sehen: 7. O-Ton Kaiser-Mühlecker Wenn man mittendrin steckt, ist ja oft auch gar kein Bedürfnis da oder kein Anlass, drauf zu schauen, und warum ich darüber geschrieben habe oder weiter schreibe, weil es die Welt ist, die ich am besten kenn und was sich darin abspielt, sozusagen die Probleme der Menschen oder des menschlichen Herzens, ob die nun dort spielen oder woanders - das ist eben die Umgebung, die mir zur Verfügung steht, als erste. Autor Im Roman zeigt der Bauerssohn seiner Frau die Natur: Sprecher , Zitat, Kaiser-Mühlecker, Der lange Gang, S 20 Der Tag brach schnell an. Die Sonne begann hinter den Bergen zu leuchten, und bald leuchtete sie das gesamte Tal aus, erhellte es - und vergrößerte es, weitete es aus mit Licht. Auf den Grashalmen der Wiesen perlten die Tautropfen; sie brachen das Licht und funkelten, wurden größer und beugten sich der Schwerkraft gemäß. Autor Natur und Mensch sind hier noch im Einklang, verbunden - und diese Verbundenheit hat Reinhard Kaiser-Mühlecker selbst erlebt: 8. O-Ton Kaiser Mühlecker Ja, das ist eine ganz unhinterfragte und die ist auch gar nicht zu hinterfragen, diese Verbundenheit, die ist gewachsen, wie man selbst, die hab ich einfach, wie jemand anders in der Stadt, in der er groß geworden ist, sich von dort nicht wegdenken kann, oder sich doch wegdenken kann, es aber nicht los wird, man lebt damit oder es lebt mit einem auch. Das sind so Bilder, die man mit sich herumträgt, oder Landschaften, vor denen die eigenen Gedanken laufen Musikakzent Kein schöner Land, Instrumental, Autorentext trocken. Autor Die jungen Schriftsteller, die die Provinz als Ort für ihre Geschichten wieder entdeckt haben, bewegen sich ganz selbstbewusst auf einem schwierigen Terrain. Sprecher, Zitat SZ, 2.7.2008 Kaum war er auf dem Markt, wurde er für seine dichten atmosphärischen Naturbeschreibungen mit Adalbert Stifter verglichen, für die Aufladung des Unscheinbaren mit Peter Handke. Autor Schrieb die Süddeutsche Zeitung beispielsweise über Reinhard Kaiser-Mühleckers Debüt. Sprecher, Zitat SZ. 2.7.2008 Man befand das Unzeitgemäße für erfrischend, ja für eine neue Avantgarde, die nach dem Anti-Heimatroman mit dem Anti-Anti-Heimatroman wieder zum Heimatroman zurückgekehrt sei. 9. O-Ton Kaiser-Mühlecker Dann heißt es einmal Heimat-, Anti-Heimatroman, Bauernroman, kein Bauernroman, ich kann das ganz entspannt eigentlich betrachten, weil es mich nicht betrifft, es ist nicht meine Aufgabe, mich aufzuteilen. Autor Das Leben auf dem Lande wurde von deutschen Schriftstellern schon auf ganz unterschiedliche Weise beschrieben. Im 19. Jahrhundert als Idyll, von Adalbert Stifter etwa. Das redliche und einfache Leben im Rhythmus der Natur, die dörfliche Gemeinschaft erscheinen bei ihm als Idealzustand menschlichen Zusammenlebens. Auch wenn sich die Geister scheiden, ob bei Stifter dieses Idyll nicht schon gebrochen ist. Im Dritten Reich, in der völkischen Blut- und Bodenliteratur, wurde das Leben auf dem Lande verherrlicht. In den 50er Jahren erlebte dann der Heimatkitsch eine Hochphase, hier entstand die heile Welt, die bis heute in vielen Fernsehfilmen als Kulisse herhalten muss. In den 60er Jahren meldeten sich schließlich die Zerstörer der vermeintlichen Idylle zu Wort, für die die Provinz nur ein Hort der Ewiggestrigen, Rückständigen und Engstirnigen war. Wie Thomas Bernhard beispielsweise in "Frost", erschienen 1963: Sprecher, Zitat, Thomas Bernhard, Frost, zitiert nach Horst Albert Glaser, Neue Heimatliteratur, S. 640 Leuten wie der Wirtin seien Begriffe wie Hochachtung oder Ehrfurcht unbekannt. Sie geht in die Kirche, weil sie nicht ausgerichtet werden will. Weil sie sonst zwischen lauter Leuten, die sich in den Kopf gesetzt haben, dass es sich gehört, in die Kirche zu gehen, untergeht. Ein erbärmliches Ertrinken sei das Ertrinken unter Landleuten. Sie schauen ruhig zu, wie ihr Opfer sich wehrt und wie die Wellen über ihm zusammenschlagen, als wäre das das Selbstverständlichste von der Welt: einen bösen Menschen einfach untergehen zu lassen, einen, der nicht dazugehört. (...) Sie ist ihnen allen immer fremd gewesen, denn ihr Vater stammt aus einer anderen Gegend, aus einem andern Tal, gegen das Tirolische zu. Sie bezeichnen so jemanden wie die Wirtin als Ungeziefer. Die Bäuerlichen. Autor Die jungen Autoren heute verklären nicht und müssen keine Trugbilder mehr zerstören. Reinhard Kaiser-Mühlecker: 10. O-Ton Kaiser Mühlecker Ich fühle mich weder den, also eigentlich schon gar nicht den Verklärern zugehörig , aber den Zerstörern schon gar nicht oder denen, die halt immer hinschlagen, weil es ist halt nicht ein Entweder-Oder, sondern immer ein Sowohl-als-auch, es gibt immer beides, der Mensch ist nicht nur böse oder nur gut, und so ist es, glaube ich, überall. Ich bewege mich da dazwischen, aber nicht aus bewusster Entscheidung, das ist mein Wesen eher. Autor Auch Stephan Thome führt seine Protagonisten nicht vor, das Fest, der "Grenzgang", wird ohne Häme beschrieben, die Menschen, selbst wenn sie bieder auf den Leser wirken mögen, behalten ihre Würde. 11. O-Ton Thome Das würde mich auch nicht interessieren, sie zu denunzieren, erstens ist es literarisch ausgelutscht, dieses Aufdecken realer oder vermeintlicher Abgründe in der Provinz, dieses Kratzen an der Fassade, von der ja sowieso heute keiner mehr glaubt, dass das die heile Welt im vollen Sinne des Wortes ist, das zu entlarven als die Nicht-heile-Welt, das schiene mir langweilig und belanglos, und als Autor würde ich mich nicht dafür interessieren, eine Geschichte über Leute zu erzählen, die ich dann nur vorführen oder der Lächerlichkeit preisgeben würde oder mich über sie erheben will, was so leicht wäre mit diesen Figuren oder allen Figuren, die man zum Provinzler im schlechten Sinne macht. Autor Diese Milde hat aber vielleicht auch mit der inneren und äußeren Distanz des Autors zu tun. "Grenzgang" entstand tausende Kilometer entfernt, am anderen Ende der Welt, in Taiwan, wo Thome seit 2005 lebt und als Wissenschaftler arbeitet. Geschrieben hat er den Roman in Taipeh im 10. Stock eines Hochhauses, mit Blick auf zwei achtspurige Straßen, die sich vor seinem Haus kreuzen. Musikakzent Instrumental, Kein schöner Land 12. O-Ton Stadler Eine Idylle zu zeichnen, das war immer, eine Verlogenheit zu schreiben, ich glaube, dass es nie einen Grund oder eine Berechtigung gab, das Leben als Idylle festzuhalten, das ist vielleicht bei Rosamunde Pilcher möglich oder solchen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die machen das, aber das Glück ist für mich jetzt literarisch nicht ergiebig und nicht interessant - und es entspricht auch nicht der Wahrheit. Autor Arnold Stadler, der Büchner-Preisträger von 1999, hat sich schon vor rund 20 Jahren aufgemacht, die Provinz wieder zu entdecken, in autobiografisch gefärbten Romanen. Die ersten drei wurden 2009 wiederaufgelegt: "Ich war einmal", "Feuerland" und "Mein Hund, meine Sau, mein Leben". Sprecher, Zitat Stadler, Einmal auf der Welt. Und dann so, (= Neuauflage der drei Bücher 2009), S. 39 Eines Tages schaffte man mich in den Ferien, nach Schwackenreute, zum Mostonkel. Zum Essen wurde mir Most eingeschenkt, der Onkel lachte dreckig, und wenn ich ihn recht verstand, und wenn ich mich recht erinnere, sprach er von Speck, wachsen und groß und stark werden. Der Mostonkel hatte ja so wenige Wörter, dass es schwer war, ihn zu verstehen. Autor Der Ich-Erzähler hatte sich als Kind mit Frederic, einem kleinen Schwein angefreundet - das jener Mostonkel heimlich schlachtete. Sprecher, Zitat Stadler, Einmal auf der Welt. Und dann so, (= Neuauflage der drei Bücher 2009), S. 39 Als ich nach Hause kam, hieß es, die Nachtfrau habe Frederic geholt. Man hat mir nie die Wahrheit gesagt, aber heute weiß ich: Man hat mir Frederic damals auch noch auf den Tisch gestellt, als Wurstsuppe, mit den geplatzten Schwarzwürsten, die in dieser Suppe schwammen. Was soll ich von einem Menschen noch erwarten? Damals muss ich den Verstand verloren haben, denn unmittelbar darauf begann ich zu dichten. So begann es mit der Schriftstellerei. Autor Stadler, der selbst in einem Bauerndorf groß geworden ist, beschreibt das Leben der Menschen auf dem Land in seiner Einfachheit und Rohheit. 13. O-Ton Stadler Ich habe ihnen, so seh ich das, ein kleines Denkmal gesetzt, damit sie ausgenommen wären vom Vergessen. Ich habe mich auch ihrer, in gewisser Weise, das ist meine theologische Herkunft, erbarmt, es sind nicht sehr viele, die sich auf diese Weise mit diesem Phänomen beschäftigen und mit diesen Menschen. Autor Den Menschen hat Arnold Stadler ein Denkmal gesetzt, aber auch der bäuerlichen Welt, wie sie damals war. Und der Sprache, dem Alemannischen, das dort, wo er aufwuchs, gesprochen wurde und nun immer weniger gesprochen wird. Er sei kein Traditionalist und wolle keine Heimatromane schreiben, ihm gehe es vielmehr, so sagt er, um die Beschreibung der inneren Heimatlosigkeit der Menschen. 14. O-Ton Stadler Heute kann man wegfahren, aber da habe ich ja das Symbol des Geländewagens, damit fahren die da rum, es ist zwar hügelig, das Gelände, aber es ist nicht so abschüssig oder nicht so schwer befahrbar, dass ein Geländewagen nötig wäre, trotzdem fahren alle damit rum, viele, - was ist es denn anderes, ein Statussymbol aber auch eine Art und Weise, seine nicht artikulierbare Sehnsucht zu zeigen, die wollen weg! Musik Kinderchor Kein schöner Land, freistehen lassen und unter Autor legen Autor Vielleicht kommt die Renaissance der Provinzliteratur auch daher, dass es nach der Wiedervereinigung so viele Berlin-Romane gegeben hat, Geschichten von Neu- Berlinern, jungen Autoren, die die Großstadt für sich entdeckten. In Stephan Thomes Roman "Grenzgang" kehrt Thomas Weidman Berlin den Rücken, - ansonsten spielt die Großstadt keine besondere Rolle: 15. O-Ton Thome Ich kann verstehen, dass es eine gewisse Übersättigung mit dem Thema Berlin gibt und mit einer bestimmten Art von aufgeregter Berlin-Literatur, die diesen Ort feiert als ja, als das neue Zentrum Deutschlands und da, wo die ganz aufregenden Dinge passieren - als würden die woanders nicht passieren, das finde ich eine Art von provinziellem Blick, der so dann auf eine Stadt schaut. Autor Und möglicherweise trifft die neue Provinzliteratur ja auch deshalb auf soviel Resonanz, weil der Trend, gerade bei Bildungsbürgern mit Kindern heißt: raus aus der Stadt, zurück zur Natur. Prenzlauer Berg war gestern. Patrick Findeis: 16. O-Ton Patrick Findeis Wenn man sich anguckt, wie viele Leute da nach Brandenburg ziehen, das ist jetzt kein Zurückgehen, aber zumindest ist es ein Zurückgehen in die Provinz, wonach viele ja auch eine Sehnsucht haben - die in dem Roman sind gezwungen, weil es eine Sache gibt, die noch nicht aufgearbeitet ist, die einen anzieht, wie das Licht die Fliegen, wo es darum geht, noch eine Sache zu klären, bevor man sich vielleicht wirklich befreien kann, von dem Ort und den Geschehnissen der Vergangenheit. Musikakzent Instrumental, Kein schöner Land, Autorentext trocken Autor "Kein schöner Land" - bei Patrick Findeis ist die Provinz keine Idylle, sondern eng, dunkel, bieder, reaktionär, eben provinziell. Aber heute, im Zeitalter der Globalisierung, gibt es da überhaupt noch diese Art von Provinz? Wo die katholische Kirche überall an Einfluss verliert und das Internet alle Menschen weltweit verbindet? Reinhard Kaiser-Mühlecker: 17. O-Ton Kaiser Mühlecker Die Leute sind immer immer flexibler, paar Stunden mit dem Auto ist keine Weltreise, wie es früher trotz des Autos noch war, ob das das Denken beeinflusst und das Denken größer macht, ja, das kann man hoffen, ich weiß es nicht, ich hoff's jedenfalls, ich glaub's auch, vielleicht gibt's dann andere Dinge, aber das Mittelalter und diese "Mir-san-mir-Mentalität," glaube ich, kann dadurch schon weniger werden, wenn man sieht: Zwei Stunden weiter wohnt ja auch noch wer und auch ein Mensch. 18. O-Ton Thome Das ist mir manchmal in den Kritiken zu meinem Roman noch begegnet, die Leute gehen von ganz falschen Voraussetzungen aus, im Grunde ist das 19. Jahrhundert, der Glaube, dass es so etwas wie Vormoderne überhaupt noch geben kann und dann in der Provinz. Die Vormoderne gibt es überhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht in Deutschland, vielleicht habe ich in China ein paar Orte gesehen, die man als vormodern bezeichnen könnte. Auch wo ich herkomme. Also dieses Abgehängtsein, von dem, was Fortschritt bedeutet, das stimmt einfach nicht. Dieser Gegensatz ist vollkommen überholt und den jetzt in literarische Bücher entweder hinein zu projizieren, wie es teilweise manchmal bei meinem Buch geschehen ist, oder ihn aus literarischer Sicht aus Autorensicht zu konstruieren, beides ist in meiner Wahrnehmung hoffnungslos. Autor Wenn man mit den Provinz-Literaten spricht, - die sich natürlich gegen diese Bezeichnung wehren würden -, klingt immer auch etwas Verwunderung mit. Warum sollten Geschichten denn eigentlich nicht auf dem Land spielen? 19. O-Ton Stadler Es gibt wunderbare Bücher, die in Amerika spielen, auf dem Lande, wenn ich nur an Faulkner denke oder an die Anni Proulx jetzt, das ist großartig, spielt auch auf dem Land, das könnte aber auch in New York sein, sie sollten nur Boden unter den Füßen haben, wenn sie schreiben, vielleicht meine ich das auch nur. Ich finde, der von Ihnen genannten Reinhard Kaiser-Mühlecker, der hat das in zwei Büchern, das ist der schönste Beweis, dass es völlig egal ist, wo ein Buch spielt, es muss nur gut sein, und es muss ein Buch sein. Autor Letztlich geht es weniger um den Ort, an dem eine Geschichte spielt, als um die Geschichte selbst, um die Sprache, - um die Literatur als solche, ob sie gelingt, berührt, verstört, bewegt. 20. O-Ton Stadler Ich muss, zumal wenn man zum Schreiben anfängt, von dem ausgehen, was ich kenne, und das ist die Welt, die ich auf meine Weise dann vergegenwärtigt habe. Das ist nicht Provinz, das gibt's gar nicht "Provinz", es gibt nur Welt, überall wo Sie sind, sind Sie mitten auf der Welt. Musik Kein schöner Land, Instrumental ENDE 16