COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Länderreport: Lernen - mit oder ohne Zensuren 14.6.2012 Autoren: Michael Watzke, Claudia van Laak, Friederike Schulz Redaktion: Heidrun Wimmersberg Bayern - Tag der Auslese Michael Watzke Länge: 7'20 Min. ___________________________________________________________________________ Jedes Jahr am 2.Mai ist in Bayern "Tag der Verkündigung". So nennt Simone Fleischmann das Datum, an dem die Viertklässler im ganzen Freistaat ihre Übertrittszeugnisse erhalten. Für die Schulleiterin der Grund- und Mittelschule Poing bei München ist es jedes Mal ein schwieriger Moment : 1 "Du wirst an dem Tag kein glücklicher Lehrer sein, und Du wirst auch an dem Tag viele Kinder haben, die unglücklich nach Hause gehen. Das tut einem Lehrerherz weh, wenn Du diese Zeugnisse austeilen musst und spürst, dass es jetzt Gewinner und Verlierer gibt. 'Du bist toll, weil Du aufs Gymnasium darfst. Du bist weniger toll, weil Du auf die Mittelschule musst.' Wir dürfen nicht vergessen: die Kinder sind zehn." Dabei nehmen die 10jährigen Kinder am "Tag der Verkündigung" ihre Zeugnisse oft mit mehr Fassung entgegen als ihre Eltern, sagt Simone Fleischmann. 2 "Wir kriegen bitterböse Emails. Wir haben Rechtsanwälte, die bei mir, der Schulleiterin, in der Sprechstunde sitzen und eine Probe anklagen wollen. Wir haben Kolleginnen, die im Team arbeiten, weil sie es alleine nicht mehr packen. Weil Eltern einfach sehr bissig und sehr genau sind und sich manchmal auch im Ton vergreifen gegenüber den Lehrerinnen. Weil sie der Ansicht sind: das war jetzt unfair für mein Kind." Die Grundschullehrer sind die Schiedsrichter im bayerischen Schulsystem. Denn ihr Urteil entscheidet, ob ein Kind nach vier Jahren Grundschule auf ein Gymnasium gehen darf, auf die Realschule soll oder in die Mittelschule muss,. Alles kommt auf drei Noten an: 3 "Einmal in Mathematik, das zweite Mal in Deutsch, und das dritte Mal in Heimat- und Sach-Unterricht. Hat das Kind dann aus diesen Fächern im Schnitt eine 2,33 - kann es aufs Gymnasium gehen. 2,66 bedeutet Realschule, und die Noten darunter, dann ist das Kind geeignet für die Mittelschule." Die Mittelschule hieß früher Hauptschule. Sie hat bei vielen Eltern in Bayern einen schlechten Ruf, obwohl sie objektiv deutlich besser ist als beispielsweise Hauptschulen in NRW. Gerade auf dem Land sind die bayerischen Mittelschulen meist gut ausgestattet und verzahnen die schulische Ausbildung mit beruflicher Qualifikation. Trotzdem: wer kann, meidet die Mittelschule. An der baden-württembergischen Grenze etwa finden manche bayerischen Mittelschulen kaum mehr Schüler, während die grenznahen Gymnasien in Baden-Württemberg überfüllt sind. Denn dort entscheidet nicht der Lehrer-, sondern der Elternwille. In Bayern dagegen bleibt Eltern nur ein Versuch, ihr Kind doch noch auf die gewünschte Schule zu bringen: ein dreitägiger Probe-Unterricht mit anschließender Prüfung, erklärt Ludwig Unger, Sprecher des bayerischen Kultusministeriums: 4 "Man kann hier also noch mal schauen: kann mein Kind mehr als der Grundschullehrerin ins Bewusstsein gekommen ist, als der Grundschullehrer feststellt. Wenn dann bei diesem Probe-Unterricht festgestellt wird, dass der Schüler in beiden Fächern eine 4 hat, bis zu einer 4, dann können die Eltern entscheiden: mein Kind geht künftig auf das Gymnasium oder die Realschule." Viele Eltern unternähmen buchstäblich alles, um ihr Kind mit aller Macht aufs Gymnasium zu hieven, sagt Simone Fleischmann. Manche Mütter forderten sogar, dass ihre Töchter bei Gruppen-Arbeiten auf keinen Fall mit zu vielen Jungs oder ausländischen Kindern im Team sind, weil die ja den Notenschnitt herunterdrücken könnten. 5 "Die Eltern drehen teilweise schon in der dritten Klasse am Rad, und dann natürlich erst recht in der vierten. Wir haben Nachhilfe-Dramen, wir haben Dramen, was das Lob angeht: "Du kriegst kein Pferd, wenn Du nicht auf das Gymnasium kommst." Oder ganz schlimme andere Sätze, die da fallen und die ich lieber nicht ins Mikro sagen möchte, weil mir das echt weh tut für die Kinder." Für die Grundschul-Lehrerinnen und Lehrer ist es eine schwierige Situation. Sie erleben, wie Kinder im Alter von sechs Jahren voller Begeisterung an die Schule kommen. Wie sie fast enttäuscht sind, wenn sie im Unterricht nicht drangenommen werden oder keine Hausaufgaben bekommen. 6 "Und freilich erleben wir die Veränderung der Lernkultur bei den Kindern. Wenn Du als Kind lernst: es geht um "catching for points" und darum, an einem Tag in der vierten Stunde das Wissen in Mathematik wiederzugeben - und am nächsten Tag musst Du es vielleicht gar nicht mehr wissen - , naja, dann sind Kinder schlaue Kinder und lernen so, wie man es von ihnen verlangt. Und das tut uns Lehrern verdammt weh. Dass in der dritten, vierten Klasse ein lernbegriff gelebt wird, der ganz wenig mit Bildung zu tun hat. Eigentlich nur mit Wissenpauken." Simone Fleischmann glaubt, dass man jedes Kind mit genügend Nachhilfe an der Übertritts-Hürde vorbeischleusen kann. Nur: was bringt das? Die Schulleiterin erlebt an ihrer Mittelschule, wie viele Kinder zurückkehren, weil sie es auf dem Gymnasium oder der Realschule nicht geschafft haben. Diese Schul-"Absteiger" sind in Bayern statistisch gesehen siebenmal so häufig wie Aufsteiger. Und für ein Kind ist es - wie für jeden Menschen - schwieriger, einen Abstieg zu verkraften als einen Aufstieg. Deshalb plädiert Ludwig Unger, Sprecher des bayerischen Kultusministeriums, für mehr Aufklärung bei der Schulwahl. Vor allem bei Eltern, die ihr Kind um jeden Preis nach vorne pushen wollen. 7 "Der Druck wird ja von Eltern vor allem deshalb gemacht, weil sie das System so wenig kennen. Weil es nämlich nach der vierten Klasse immer noch andere Möglichkeiten gibt, den Weg zur Hochschulreife zu gehen. Man kann zum Beispiel den mittleren Schulabschluss an der Mittelschule machen oder an der Realschule. Und danach kann man auf die Fachoberschule gehen. Oder nach einer Lehrer auf die Berufs-Oberschule. Mittlerweile erwerben 40 Prozent der Menschen, die eine Hochschulzugang-Berechtigung haben, diese über die Fach- und die Berufsoberschule. Und nicht über das Gymnasium." Das bayerische Kultusministerium hat in den vergangenen Jahren viele Reformen im bayerischen Schulsystem durchgedrückt - vom G8-Gymnasium bis zur Hauptschul-Reform. Das hat für viel Unruhe an den Schulen im Freistaat gesorgt - bei Eltern, Schülern und Pädagogen. Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrer-Verband BLLV klagt, die Reformen seien in die falsche Richtung gegangen. Es sei ein System des Bulimie-Lernens entstanden, sagt BLLV-Präsident Klaus Wenzel: 8 "Und das ist die Crux in unserem deutschen Bildungs-System, da müssen wir nicht differenzieren, dass es zu wenig um Bildung geht und zu sehr um das Aussortieren, Umsortieren und Wieder-neu-Einsortieren von jungen Menschen. Deswegen muss auch die Forderung genannt werden, möglichst spät zu verteilen. Also nicht am Ende der 4.Klasse, sondern für mich wär's am sinnvollsten, erst am Ende der Pubertät. Aber da kriegen manche ja rote Flecken ... " Rote Flecken kriegt bei solchen Forderungen beispielsweise Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle. Wenn im bayerischen Schulsystem etwas heilig ist, dann das dreigliedrige Schulsystem und der Übertritt nach der vierten Klasse. Ein Schleifen dieser Bastionen wäre der konservativen Stammwähler der CSU schwer zu vermitteln - vor allem nicht vor den Landtagswahlen im nächsten Jahr. Und es widerspräche auch den Ergebnissen von Bildungs-Studien aus Bayern und NRW, glaubt Kultusministeriums-Sprecher Ludwig Unger: 10 "Eine längere gemeinsame Lernzeit in einer vergleichsweise homogenen Gruppe, in einer mit Talenten weitgehend gleich ausgestattenen Gruppe, fördert das Lernverhalten, fördert die Kompetenzausbildung mehr, als wenn es eine zu sehr differenzierte, zu sehr auseinanderdriftende Gruppe von Kindern wäre." Sollten Schüler vier Jahre gemeinsam lernen? Sechs Jahre? Oder gar zehn? Simone Fleischmann von der Grund- und Mittelschule Poing will keine Empfehlung abgeben, das sei Sache von Politik und Wissenschaft. Aber ... 11 "Ich als Schulleiterin würde alles dafür geben, dass wir in der dritten und vierten Klasse einen Lernbegriff und einen Leistungsbegriff leben können, der kindgerecht ist. Der dem Alter von neun oder zehn Jahren entspricht." Dann würde es Simone Fleischmann vielleicht auch nicht mehr vor dem "Tag der Verkündigung" grauen, dem 2. Mai. Wenn sie die Übertritts-Zeugnisse verteilen muss. Schule ohne Zensuren - die Waldorfschule in Berlin-Dahlem Autorin: Claudia van Laak Länge: 5'10 Min. Anmoderationsvorschlag Schulnoten sind keine objektive Leistungsbeurteilung. Immer wieder zeigen wissenschaftliche Studien, dass Lehrer meist unbewusst auch andere Kriterien in die Zensuren einfließen lassen. So erhalten - bei gleicher Leistung wohlgemerkt - Mädchen bessere Zensuren als Jungs, Kinder aus Akademikerfamilien bessere Zensuren als Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern. Viele Schulen in freier Trägerschaft lehnen die Notengebung - nicht nur aus diesem Grund - ab, zum Beispiel die Waldorfschulen. Claudia van Laak hat eine von ihnen besucht, die Rudolf-Steiner-Schule in Berlin-Dahlem. 1 ATMO Klasse, Lärm, Gitarre spielen, Gesang Es hat bereits geklingelt, der Lehrer ist auch schon im Klassenraum, aber die Schülerinnen und Schüler plaudern munter weiter, üben Gitarre, spielen mit dem Ball. 2 O-Ton Hattstein Gabriel, verstaust Du jetzt den Ball, bitteschön Klassenlehrer Kilian Hattstein-Blumenthal bleibt trotz des Lärms entspannt. Er weiß: das morgendliche Anfangsritual wird Konzentration in die Klasse bringen, ohne dass er laut werden muss. 3 Wir sollten uns erst einmal begrüßen, bitteschön 4 Guten Morgen, Frau van Laak, guten Morgen, Herr Hattstein, guten Morgen, achte Klasse. (Alle weiter im Chor) 5 Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet, in der die Tiere fühlend leben ... .. Nach dem Morgenspruch kann der Unterricht beginnen. Während die Kinder in den staatlichen Schulen derzeit unter den letzten Prüfungen vor den Sommerferien ächzen, bereitet sich die 8.Klasse der Rudolf-Steiner-Schule auf ihr Klassenspiel vor. Kilian Hattstein-Blumenthal studiert mit seinen Schülerinnen und Schülern ein Stück des italienischen Komödiendichters Carlos Goldoni ein. 6 O-Ton-Atmo Hattstein redet über Theaterstück Eine Stunde später - Geschichtsunterricht in der siebten Klasse. Das Thema: Französische Revolution. 7 O-Ton Hattstein (theatralisch) Dort standen jetzt lumpige Leute, wütende Leute, vor allem Frauen, und die riefen, gebt uns Brot, gebt uns Brot. Na, wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen, sagte die Königin und ging voller Unverständnis wieder zurück. ... . Kilian Hattstein-Blumenthal macht auch hier keinen Unterricht im herkömmlichen Sinne. Der studierte Regisseur und Theaterpädagoge nutzt die Klasse als Bühne, schlüpft in verschiedene Rollen, teilt Flugblätter aus. Die Kinder hängen fasziniert an seinen Lippen. 8 Hattein laut Franzosen, guckt auf die Erklärung der Nationalversammlung, bitteschön, alle müssen das lesen, Erklärung der Menschen und Bürgerrecht, alle müssen das lesen. Die Eindrücke aus dem Unterricht der 7. und 8. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule Berlin zeigen - keine Noten zu geben ist nur ein kleiner Teil eines größeren pädagogischen Konzepts. Für Kilian Hattstein-Blumenthal sind Zensuren Ausdruck eines schlechten Schulsystems. Noten dienen lediglich dazu, Kinder in Schubladen zu stecken, sagt der 43jährige überzeugt. 9 O-Ton Hattstein Mit Lernen haben Noten nichts zu tun, Noten beschreiben das Lernen nicht, Noten fördern Kindern nicht, sie motivieren sie nicht zum Lernen. Also das ist ein absolut wilhelminisches Unterdrückungsinstrument. Das ist für mich einfach unfassbar, dass wir am Anfang des 21.Jahrhunderts noch nicht weiter sind als im 19.Jahrhundert, wo das eingeführt wurde. Waldorfschüler schreiben durchaus Tests oder Vergleichsarbeiten, die mit Punkten bewertet werden. Am Ende des Schuljahrs steht aber kein Notenzeugnis, sondern eine ausführliche schriftliche Beurteilung. Selbst die würde Kilian Hattstein-Blumenthal am liebsten abschaffen. Seit einigen Jahren führt er am Ende des Schuljahrs persönliche Gespräche - so wie an diesem Tag mit den Eltern von Patrick. 10 Blende O-Ton Hattstein ... ... . wie wir zusammen blicken können auf den ganzen Weg von Patrick in Bezug auf die schulischen Dinge, wie Sie da den Stand sehen, zum Beispiel was die Frage betrifft der Kraft, die für die Schule da ist, Unterforderung, Überforderung ... . Nicht die guten oder schlechten Leistungen stehen im Vordergrund des Gesprächs, sondern die persönliche Entwicklung des Schülers, seine Individualität. Genau das ist der Grund, warum Ulrich Berthold - selber ehemaliger Waldorfschüler - diese Schule für seinen Sohn ausgesucht hat. 11 O-Ton Berthold Wir beide können jetzt hier Gewichtheben machen, wir werden das benoten, ganz objektiv, Herr Hattstein wird die Benotung vornehmen und wir werden feststellen, Ihre Leistung wird überhaupt nicht gewürdigt werden, weil ich bin doppelt so schwer wie Sie und gut in Schuss. Was soll die Note Ihnen also bringen, außer möglicherweise Verzweiflung. Als staatlich anerkannte Ersatzschule muss die Berliner Rudolf-Steiner-Schule allerdings Kompromisse eingehen, kann nicht vollständig auf Zensuren verzichten. In der 11.Klasse findet für alle die Prüfung zum Mittleren Schulabschluss statt, in der 13. das Abitur - ein Jahr später als an den Berliner Gymnasien. Schülerstimmen: 12 Umfrage Schüler Ich gehe seit der 1.Klasse auf diese Schule, und für mich war das was Neues, obwohl ich mich eher gefreut habe, weil ich wissen wollte, auf welchen Noten ich stehe, da war ich auch geschockt, weil ich in Mathe eine 5 geschrieben habe. 13 Ich persönlich würde bevorzugen, dass man in der 9. schon Noten kriegt, dass man da reinkommt, weil in der 11. finde ich es ein bisschen zu spät, weil man da schon ein bisschen überfordert ist damit. Noten in der Oberstufe sind für Waldorfschulen ein notwendiger Kompromiss. Würden sie der reinen Lehre folgen und bis zum Schluss keine Zensuren vergeben, müssten die Kinder die Schule ohne einen staatlichen Abschluss verlassen. Und dann würde das Interesse an den Waldorfschulen drastisch sinken. Lernen wie man lernt - Ein Projekt des Kinderschutzbundes Autorin: Friederike Schulz Anmoderation: Während andere über Noten oder keine streiten, geht es mancherorts erst mal darum, überhaupt zu lernen. Denn gerade Kinder aus sozial schwachen Familien bekommen von zu Hause keinerlei Hilfe bei den Hausaufgaben, und die Schulen können auch nicht alle Defizite auffangen. Die Folge: Die Kinder kommen im Unterricht nicht mit, bekommen schlechte Noten. In Essen gibt es seit mehr als zehn Jahren ein Projekt des Kinderschutzbundes, das sich genau dieser Problematik angenommen hat. "Lernen, wie man lernt" heißt die Initiative, in der inzwischen rund 400 Kinder betreut werden. Friederike Schulz hat sie für uns besucht. ___________________________________________________________________ Atmo 1 Hausaufgaben "Fang mal an." "Acht, sechzehn ... " Die Drittklässlerinnen Maja und Marisa beugen sich über ihre Mathe-Hausaufgaben: Bis morgen müssen sie die Achterreihe auswendig können. Neben ihnen auf der Holzbank in der gemütlichen Wohnküche sitzt die Sozialarbeiterin Corinna Erdmann und gibt Tipps. Atmo 2 wieder hoch "Überleg doch mal: Vier mal acht sind 32. Fünf mal acht ... " Es ist Mittwochnachmittag, kurz nach zwei. Zeit für Schularbeiten beim Projekt "Lernen, wie man lernt" in der Essener Innenstadt. In den Räumen einer ehemaligen Schule bietet der Kinderschutzbund eine Nachmittagsbetreuung für rund 40 Grundschulkinder an, die wie die neunjährige Marisa zu Hause keine Unterstützung bei Schularbeiten bekommen. O-Ton 1 "Keiner hilft mir zu Hause, es geht nicht. Meine Mama weiß nicht so viel, also sie kann das nicht verstehen, weil sie kann nicht so gut Deutsch und dann muss ich immer hierhin gehen." Atmo noch mal hoch Marisa beißt sich auf die Zunge, schreibt die Achterreihe bis 96 in ihr Mathe-Heft. Ihre Eltern stammen aus Portugal, die von Maja aus dem Libanon. Es sind vor allem Familien mit Migrationshintergrund, an die sich das Angebot vor allem richtet, sagt Corinna Erdmann, die das Projekt leitet. O-Ton 2 "Viele haben einen Migrationshintergrund, was nicht automatisch heißt, dass sie sozial schwach sind. Die Kombination trifft aber oft zu, gerade in diesen Stadtteilen. Das sind auch Stadtteile mit sozialem Neuerungsbedarf, aus denen die Familien stammen. Das sind zum Teil anregungsarme Elternhäuser, wie man so sagt. Zum Teil haben die Schwierigkeiten, ihre Kinder zu unterstützen in der schulischen Entwicklung, weil sie entweder der Sprache nicht mächtig sind. Oder es gibt auch Analphabeten unter den Familien und welche mit sehr niedrigem Schulabschluss. Da haben die Eltern oft keine Möglichkeit zu unterstützen." Die Idee für "Lernen wie man lernt" entstand vor zwölf Jahren aus einem Projekt zur Sprachförderung für Mütter mit Migrationshintergrund. Viele Frauen brachten damals ihre Kinder mit, die damals zunächst nur von ehrenamtlichen Helfern betreut wurden. Das Angebot stieß auf so großes Interesse bei den Familien, dass daraus eine dauerhafte Einrichtung wurde. Inzwischen gibt es vier Häuser in verschiedenen Bezirken, in denen täglich insgesamt rund 400 Kinder regelmäßig kostenlos betreut werden. Atmo Üben für die Mathe-Arbeit "Schreibst du morgen eine Mathe-Arbeit oder einen Mathe-Test?" Im obersten Stockwerk beaufsichtigt Marion Marx an diesem Nachmittag die Jungengruppe. Sie übt mit dem Viertklässler Kenneth schriftliches Dividieren. Marion Marx ist eine von 60 ehrenamtlichen Helferinnen, die für die Betreuungsarbeit des Kinderschutzbundes unentbehrlich sind. Schließlich finanziert sich das Projekt zum größten Teil über Spenden. O-Ton 3 "Mir macht das sehr viel Freude, weil ich finde, dass die Kinder einem auch ganz viel zurückgeben, von dem, was man in sie investiert. Sie sind in der Regel auch sehr lernwillig und sehr fleißig, und das ist auch das Schöne hier." Atmo 3 Speckstein Wer mit den Hausaufgaben fertig ist, darf raus auf den Spielplatz im Innenhof. Dort hat Martin Hollinger, einer der drei hauptamtlichen Mitarbeiter einen Tisch mit Werkzeug aufgebaut. Rund zwölf Jungen drängen sich darum, jeder hat einen Rohling aus Speckstein vor sich. Martin Hollinger verteilt Schmirgelpapier. Werkunterricht und Basteln gehört zum festen Bestandteil, ebenso wie Ausflüge in die Umgebung und regelmäßige Sportangebote in der eigenen Turnhalle, erzählt Corinna Erdmann. O-Ton 4 "Wir versuchen, ganzheitlich zu fördern. Wir beziehen uns nicht nur auf das reine schulische Lernen. Der ganz große Bereich der Sprach- und Leseförderung spielt eine große Rolle, mit einer Bücherei, die wir hier im Haus haben, zum Beispiel mit auch kleineren Aktionen in unserem Buchclub, wo wir Theaterstücke einüben oder schon Hörspiele aufgenommen haben - eben diese Ganzheitlichkeit den Kindern möglich zu machen, sich breiter zu entwickeln." Atmo 4 "Lies mal, was da steht ... " "Lies die 17 Begriffe unten durch und markiere dann diese Begriffe in den drei Texten ... " Am späteren Nachmittag sitzt der neunjährige Sharon alleine mit Martin Hollinger in der Wohnküche, beugt sich über einen Ordner mit Texten: "Lernführerschein" steht darauf. Das ist ein Übungskatalog, den die Mitarbeiter des Kinderschutzbundes entwickelt haben. Die Kinder müssen verschiedene Aufgaben erfüllen, wer alle erfolgreich gelöst hat, bekommt den "Lernführerschein"; sagt Corinna Erdmann. O-Ton 5 "Da gibt es vier Stufen, Alter und Lernstand entsprechend. Da werden überfachliche Kompetenzen gelernt. Der Sharon hat den für seine Altersstufe vorgesehen Test schon geschafft, und will jetzt tatsächlich den nächsten machen, der für viel ältere Kinder vorgesehen ist. Aber wir können mal sehen, ob er das schafft ... " Atmo 5 "Willst du einfach mal probieren?" "Kann ich da einen Strich machen?" "Genau, du unterstreichst die mit dem Stift." Sharon liest den Text konzentriert durch, unterstreicht die Schlüsselwörter. Martin Hollinger schaut ihm über die Schulter, nickt zufrieden. O-Ton 6 "Dass man mal gezielt unterstreichen kann, dass man sich eine Gliederung machen kann, auch ein Mind-Map, das soll da alles trainiert werden, was man ja später auch in mehreren Fächern gebrauchen kann." Ein Angebot, das die Kinder gern annehmen und von dem sie ihren Mitschülern gern erzählen. Die Nachfrage nach einem Betreuungsplatz ist so groß, dass die Mitarbeiter inzwischen eine Warteliste führen müssen. Corinna Erdmann und ihre Kollegen wissen, dass sie nicht alle Defizite ausgleichen können, doch tatsächlich hätten die meisten Kinder schon nach dem ersten Jahr in der Nachmittagsbetreuung deutlich bessere Noten, sagt die Projektleiterin: O-Ton 7 "Wir bitten die Kinder und Jugendlichen, die Zeugnisse mitzubringen. Und die machen das auch, selbst wenn die Zeugnisse mal schlechter sind, gibt es eine erstaunliche Bereitwilligkeit von den Kindern und Jugendlichen, diese Zeugnisse mitzubringen, weil sie einfach nichts befürchten bei uns, weil wir darüber wieder Gespräche führen. Wir machen halbjährlich Lernzielgespräche, und da spielt das Zeugnis auch eine Rolle. Wir versuchen schon, das anhand der Zeugnisse zu messen und können da auch Erfolge feststellen."