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Und trotzdem: Ilgis redet über seine Leidenschaft, bzw. eine seiner Leidenschaften. O-Ton Ilgis I like it because everyone is in equal position, undressed. ? lacht ? It doesn?t matter, if you are big boss or a small guy, all of them are equal in sauna and they enjoy. SPRECHER 1 Ich mag es, weil jeder gleich ist, ohne Kleidung eben. Es spielt keine Rolle, ob man ein großer Boss ist oder ein kleiner Typ. In der Sauna sind sie alle gleich, und sie genießen es. ERZÄHLER Ilgis ist um die 40. Er hat ein freundliches, rundes Gesicht und einen Körper, der offensichtlich nicht von all zu vielen Diätvorschriften gequält wird. O-Ton Ilgis It looks like social event, because you have to go to sauna not alone, with friends, you can have some discussions there, some entertainment even. To have some beer or some tea or... And this is kind of event, yes. So it is kind of ceremony, something like this. It comes to Kyrgyzstan during Sowjet times. And it also refers to bathhouse. SPRECHER 1 Es ist so etwas wie ein gesellschaftliches Ereignis. In die Sauna geht man nicht allein, sondern mit Freunden. Man kann sich unterhalten, Spaß haben, ein paar Bier trinken oder Tee. Es ist so eine Art Zeremonie in der Tradition des Badehauses, die in der Sowjetzeit nach Kirgistan gekommen ist. ATMO Billard ERZÄHLER Im Ruheraum neben dem Billardzimmer stehen tatsächlich einige Bierflaschen auf dem Tisch. Den Tee haben Ilgis und seine Freunde durch Wodka ersetzt. Dazu kommen noch einige Teller mit fettem Käse, fetter Wurst und fetten kleinen getrockneten Fischen, die noch gehäutet und ausgenommen werden müssen. Neben dem Tisch steht ein Fernseher mit einer Stereoanlage, deren Leuchtdioden auch ohne Musik schon bedrohlich blinken. O-Ton Ilgis In Sowjet times, there were these state run bathhouses, which usually work on weekends. And for the villagers it was also a kind of event to go for bath and this kind of cleaning body but also cleaning your mind Bath is a kind of community facilities - People meet there. They discuss some news and often people say that: ?Oh, last time that I was in bath house and I heard of some one, that he went to a person somewhere.? SPRECHER 1 In der Sowjetzeit gab es diese staatlichen Badehäuser, die normalerweise nur am Wochenende in Betrieb waren. Für die Menschen im Dorf war es immer ein Ereignis dorthin zu gehen, um den Körper, aber auch die Seele zu reinigen. So ein Bad ist eine öffentliche Einrichtung. Die Leute treffen sich, diskutieren die Neuigkeiten und oft heißt es dann: ?Als ich das letzte Mal im Badehaus war, habe ich von jemandem gehört, der das und dies gemacht hat?? ATMO Karaoke in der Sauna ERZÄHLER Meine sehr persönlichen und sehr tiefen Ängste waren nicht unbegründet. Die funkelnde HIFI-Ausrüstung ist eine Karaoke- Anlage. Auf dem Fernsehbildschirm werden vor dem Hintergrund irgendwelcher romantischer Landschaftsaufnahmen Textzeilen eingeblendet. Das Repertoire reicht von den Beatles bis hin zu russischen Volksliedern. Ich kann nicht singen. Wirklich nicht! Allerdings können meine neuen Freunde das auch nicht. Die aber lassen sich von solcherart Mängeln nicht abschrecken. Es könnte auch mit den leeren Wodkaflaschen zusammenhängen? ATMO Karaoke in der Sauna ERZÄHLER Ziemlich schnell verschieben sich die Maßstäbe. Rhythmusgefühl und das Treffen der richtigen Töne wird zur Neben-, bzw. Glückssache. Gutes Singen ist vor allem inbrünstiges Singen. Ilgis erzählt zwischendurch auch noch eine Menge. Es geht dabei um die Jahrtausende alte Stadt Osh, in der wir uns befinden, um seine Zeit in der Sowjetunion, zu der Kirgistan bis 1991 gehörte, um die Menschen in dem zentralasiatischen Land und um das Leben überhaupt. Am nächsten Morgen werde ich das meiste davon vergessen haben. An eines aber kann ich mich noch sehr gut erinnern: An Ilgis? Versprechen, mich durch seine Stadt zu begleiten. MUSIK Music From One Earth, Track 9, Huun-Huur / Early ?Morning with my horse? ERZÄHLER Die kirgisische Republik ? gebräuchlich sind auch die Bezeichnungen Kirgistan, Kirgisien oder Kirgisistan ? ist etwa dreimal so groß wie Bayern und liegt zwischen Kasachstan und China im zentralasiatischen Hochland. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das ursprünglich von Nomaden bevölkerte Land zum russischen Zarenreich. 1936 wurde aus der Autonomen Republik Kirgisien unter sowjetischer Ägide eine Sozialistische Sowjetrepublik. Mit der Unabhängigkeit begann 1991 die ?neue Zeit? mit neuen Schwierigkeiten. Dazu gehören ein unbefriedigender Demokratisierungsprozess und ein Bruttosozialprodukt, das afrikanischem Durchschnittsniveau entspricht. Etwa 300 000 der fünf Millionen Kirgisen leben in Osh. Es ist nach der Kapitale Bischkek die zweitgrößte Stadt Kirgistans. Osh liegt im Süden des Landes, etwa 1000 Meter hoch am Rand des weitläufigen Ferganatals. Die Stadt ist so alt, dass es über ihre Gründung nur Legenden gibt. Von König Salomon ist da die Rede oder auch von Alexander dem Großen. Unbestritten aber ist, dass Osh etwa um die Zeitenwende zu einem Stützpunkt der Seidenstraße wurde. Mindestens so alt ist auch der Bazar. ATMO Musikerpaar ERZÄHLER Ein Paar drängt unbeholfen durch die engen Marktgassen. Ich schätze die beiden auf Ende dreißig. Die Kleidung sitzt schlecht, aber sie ist gepflegt. Ihre Augenlider hängen seltsam schlaff herab, die Pupillen wirken erstarrt. Sie sind blind. Zwei blinde Musiker mit einer Laute. Geführt werden sie von einem jüngeren Mann, der in seiner Wollkappe Geld sammelt. Ich lege einen kleinen Schein hinein. Er flüstert den beiden etwas ins Ohr, sie lächeln. Dann singen sie ein Lied für mich. Der Jayma Bazar am Ufer des Flüsschens Akbura. Von der mindestens zweitausendjährigen Geschichte ist einiges zu spüren, aber nichts zu sehen. Offensichtlich war man zu beschäftigt, um irgendwelche Traditionen zu bewahren. Vieles ist improvisiert. Im Schatten ausrangierter Tarnnetze und abenteuerlich verschweißter Bleche stapeln sich auf langen Tischreihen Pyramiden von Kartoffeln, Auberginen, Zucchini, Tomaten, Paprika, Zwiebeln, Äpfel, Weintrauben, Melonen, Pfirsiche und Pflaumen. In anderen Ecken werden aus China importierte Kleidung, russische Medikamente, Werkzeuge, verschiedenste Ersatzteile und auch Teppiche, Möbel oder Haushaltswaren aller Art angeboten. Es treffen hier ganz unterschiedliche Völkerschaften aufeinander: Russen, Dunganen, Ukrainer, Uiguren, Tataren, Kasachen, Tadschiken vor allem aber Kirgisen und Usbeken, die in Osh sogar die Bevölkerungsmehrheit stellen. Die Grenze nach Usbekistan ist nur wenige Kilometer vom Stadtrand entfernt. Osh ist nicht zuletzt wegen Stalins rigider Siedlungspolitik eine Stadt mit vielen Völkern. ATMO Markt, Fleischhalle O-Ton Ilgis This is kind of local sheep. They have a fat tail and the fat is used for food. ERZÄHLER Ilgis ist bei mir. Etwas zerknittert stand er heute Morgen am vereinbarten Treffpunkt. Wir sprachen kurz vom Wodka und lange über unsere Kopfschmerzen. Er gab mir eine Packung Tabletten mit kyrillischer Schrift. ?Gegen den dicken Kopf?, sagte er. Ich entschloss mich, ihm zu vertrauen. Jetzt in der großen gekachelten Fleischhalle des Bazars zeigt er auf seine Leibspeise, das Hinterteil einer ganz speziellen Schafzüchtung. O-Ton Ilgis Fat-tail sheep is special kind of local sheep and the people keep them to grow the fat-tails, so that consists a lot of fat. This fat is used for cooking national dishes. For me it is a quite tasty thing. It is more expensive than meat. SPRECHER 1 Das Fettschwanzschaf ist eine einheimische Rasse, die besonders viel Fett im Hinterteil hat. Ich esse das gern. Das Fett ist teurer als Fleisch. ATMO Vor der Jurte ERZÄHLER Dass dieses glibberige Fett für meinen mitteleuropäischen Durchschnittsgeschmack zumindest gewöhnungsbedürftig sein dürfte, verschweige ich aus Höflichkeit, nehme mir aber vor, auf etwaige Einladungen zum Essen eher zögerlich zu reagieren. Der nächsten Attacke kann ich nicht entgehen. Ilgis hat mich zu einer traditionellen Jurte ? ein geräumiges Rundzelt aus gewalkter Wolle ? in einer etwas ruhigeren Ecke des Marktes geführt. Hier wird Kumys ausgeschenkt ? Pferdemilch. Das kirgisische Nationalgetränk. O-Ton Ilgis Try a little bit, because it is very heavy for the fragile stomachs ? lacht. ERZÄHLER Nur ein wenig soll ich probieren, weil Kumys für einen empfindlichen Magen schon recht heftig sein könne. Ich glaube einen Hauch von Schadenfreude in den Augenwinkeln meines neuen Freundes zu sehen. O-Ton Ilgis Horse-milk has to be shacked for one day, shacked every two hours for 20 minutes. - These dark things is a kind of fat of the milk. It is processed. You can try it. You have to get used to it, because it is a very strong beverage. Even it has some alcohol ? one or two percent. SPRECHER 1 Pferdemilch muss einen Tag lang alle zwei Stunden umgerührt werden. Das dunkle Zeug, das darin schwimmt, ist eine Art Fett. Es ist schon sterilisiert. Probier ruhig. Man muss sich ein bisschen daran gewöhnen. Es ist ein ziemlich kräftiges Getränk. Da sind sogar ein bis zwei Prozent Alkohol drin. ERZÄHLER Nach der Devise ?Reisen geht durch den Magen? stürze ich mich ins Abenteuer und schlucke den Inhalt der kleinen Milchschale in einem Zug hinunter. Mutig aber dumm. Mein Magen kündigt mir die Freundschaft auf. Der Geschmack weist in Richtung ?vergorener Kefir?. Ich brauche jetzt viel Körperbeherrschung. Ilgis schaut interessiert. ?Man muss sich daran gewöhnen?, wiederholt er verständnisvoll. Ich nicke. Meine kulinarische Neugier ist für heute mehr als befriedigt. Ich möchte ein Glas Wasser oder zumindest einen Tee, etwas ganz Normales - ohne Alkohol! Dafür müssen wir das Lokal wechseln. Gern. Sofort. MUSIK Famous Tunes by Samara Toktakunova, Track 7 ?Syngan Bugu? ATMO Marktcafé ERZÄHLER Wir steuern ein Café am Rand des Bazars an. Am Eingang hantiert die halbe Familie im Qualm eines sehr langen, sehr schmalen Holzkohlengrills mit vielen kleinen Fleischspießen, während der Rest der Verwandtschaft flink und freundlich die Gäste an den Plastiktischen und -stühlen in dem geräumigen Gastraum bedient. Im Springbrunnen auf dem angrenzenden Innenhof kühlen die Getränke. Daneben sortiert ein Mann einen riesigen Sack alarmroter Chilischoten, vor denen Ilgis mich grinsend warnt. Das Kommando hat eine ältere Frau mit einer beeindruckenden Reihe Goldzähne. Im Fernsehen läuft die Show eines beliebten Komikers. Doch einige der Gäste streben eilends in eines der fünf Separees. Hier sind die Tische durch Vorhänge vor den Blicken Neugieriger geschützt. Im Süden sei man oft noch traditioneller und auch schüchterner als im Norden des Landes, erklärt Ilgis. Vielleicht mag man sich nur nicht mit den Bierflaschen sehen lassen, die eine der jungen Kellnerinnen gerade dorthin schleppt, denke ich. Gut drei Viertel aller Kirgisen sind sunnitische Muslime, zumindest dem Papier nach. Denn im Alltag spielt das wohl keine allzu große Rolle. Am riesigen Wandspiegel über dem Waschbecken, direkt neben der Toilette, bindet eine junge Frau mit viel Muße und großer Sorgfalt ihr Kopftuch. Eine kleine, schöne Inszenierung. Ganz offensichtlich weiß das auch die Hauptdarstellerin. O-Ton Ilgis In that morning, it was kind of very strange feeling, because it was a kind of ? first of all I get lost, because it was a kind of earthquake or a kind of disaster. SPRECHER 1 Das war ein sehr seltsames Gefühl an jenem Morgen. Vor allem fühlte ich mich verloren. Das war so eine Art Erdbeben, ein Desaster. ERZÄHLER Ilgis spricht vom dem, wie er sagt, ?einschneidendsten Erlebnis seines Lebens?. Er saß in seinem Studentenwohnheim in Kiew beim Frühstück. Das war am 8. Dezember 1991. O-Ton Ilgis I realised, that SU collapsed after having a message from the mass media that three presidents of souveran republics, let?s say Russia, Ukraine and Belaruss, they had a separate meeting in Belaruss, they decided to go out from the SU, to be independent. No longer SU is in existence. SPRECHER 1 Dass die Sowjetunion am Ende war, wurde mir klar, als ich in den Nachrichten hörte, dass die Präsidenten der souveränen Republiken Russland, Ukraine und Weißrussland bei einem separaten Treffen beschlossen hatten, die Sowjetunion zu verlassen. Damit hörte sie auf zu existieren. ERZÄHLER Auf einmal war alles anders. Was für den Elektronikstudenten bis dahin die sichere Zukunft schien, wurde zu einem Wald voller Fragezeichen. O-Ton Ilgis My first feeling was, I get lost. Because, I used to live in a big country ? it was the largest country in the world. And it was a kind of strange feeling, that this country broke up and ? What shall we do, with our independence? Because independence means, we have to get own currency, own economic, own parliament, own government, we were not used to have in the past. Real power was in Moscow. SPRECHER 1 Ich fühlte mich völlig aufgeschmissen. Denn ich war es ja gewohnt in einem großen Land zu leben ? dem größten Land der Welt. Es war sehr eigenartig, dass dieses Land auf einmal auseinanderbrach. Was sollten wir denn mit unserer Unabhängigkeit? Das bedeutete ja, dass wir eine eigene Währung, eine eigene Wirtschaft, ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung brauchten. Das hatten wir doch alles nie gehabt. Die entscheidende Macht war in Moskau. ERZÄHLER Nein, Ilgis fühlte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinesfalls ?von einem totalitären Regime befreit?. Dann spricht er von der unzureichenden politischen und persönlichen Freiheit, vor allem was das Reisen betraf, und dass er froh ist, dass das jetzt anders ist. Doch die Zeiten sind härter geworden. Auch kälter. Ilgis erzählt vom Konkurrenzkampf, den sein neunjähriger Sohn jetzt schon in der Schule erlebt, und von den Überlegungen, das Kind auf eine bessere noch teurere Schule zu schicken, wobei er sich schon die jetzige kaum leisten kann. O-Ton Ilgis People realise, that they can rely only on themselves. Sometimes even relatives can not support them. I miss a kind of sense of protection but even this was a kind of basic protection, you get a law salary, but it was a kind of sense of protection, that you are protected and your future is not going to be dangerous. SPRECHER 1 Den Leuten wird klar, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Manchmal kann ihnen nicht einmal die Familie helfen. Ich vermisse dieses Gefühl von Schutz, die Grundsicherheit, selbst wenn du nur einen schlecht bezahlten Job hast. Dieses Gefühl, dass deine Zukunft sicher ist. ERZÄHLER Ilgis arbeitet als eine Art Manager für eine amerikanische Firma. Das Gehalt ist gut, sagt er. Doch er weiß, dass es innerhalb weniger Wochen auch ganz anders aussehen kann. Ein staatliches soziales Netz gibt es nicht. Lieber sucht er sich einen zweiten Job, ein zusätzliches Standbein, um seine Familie über Wasser halten zu können. Er sagt, dass ihn das stresst. Alles in allem hat er aber noch Glück gehabt. MUSIK Famous Tunes by Samara Toktakunova, Track 6 ?Syzdat? ATMO Am Tacht-i-Suleyman ERZÄHLER Vom Tacht-i-Suleyman oder Suleimans Felsen mitten in der Stadt hat man den besten Blick über Osh und weit darüber hinaus auf die schneebedeckten 5000 Meter hohen Gipfel des Alai-Gebirges. Wie eine Oase liegt die Stadt in der hügeligen, kargen Landschaft. Architektonische Spuren ihres biblischen Alters sucht man vergebens. Dafür sorgten im letzten Jahrhundert die sowjetischen Stadtplaner. Sie hinterließen breite Straßen und praktische, meist vier- bis fünfstöckige Häuser. Dabei ging es um Funktionalität, nicht um Schönheit. Und doch wirkt die Stadt mit ihren zahlreichen Grünanlagen und den vielen Bäumen durchaus charmant. Gut 20 schweißtreibende Minuten braucht man für die reichlich 150 Höhenmeter hinauf auf den Felsen. Einige Sportler nehmen die vielen Stufen gleich mehrmals am Tage, um ihre Kondition zu stärken. Ansonsten ist die Plattform mit der schönen Aussicht ein Ausflugsziel für Familien, Jugendgruppen und Liebespaare, vor allem aber auch das beliebteste Ziel für gläubige Muslime aus ganz Zentralasien. ?Kleines Mekka? wird die Pilgerstätte zu Ehren des Propheten Suleiman auch genannt. Am Aufstieg hängen unzählige kleine Stofffetzen mit Wünschen und Gebeten in den Zweigen der Bäume. Sie sollen Glück bringen. Die Form des mächtigen, langgestreckten Felsens wird mit dem Körper einer liegenden, schwangeren Frau verglichen. Pilgerinnen kommen hierher, um Fruchtbarkeit zu erflehen. Um diese zu fördern, rutschen auch weniger strenggläubige Besucherinnen mit sichtlichem Spaß rücklings durch bestimmte, über die Jahrhunderte blank gewienerte Felsmulden. Oben neben der Aussichtsplattform steht die kleine Babur-Moschee, in der nur eine Handvoll Besucher Platz finden. 1497 wurde sie errichtet und 1853 durch ein Erdbeben zerstört. Die Moschee wurde wieder aufgebaut, jedoch 1960, im Rahmen einer verdeckten sowjetischen Kampagne gegen den islamischen ?Aberglauben?, wie man hier vermutet, gesprengt. ATMO In der Babur-Moschee ERZÄHLER In der schlichten Rekonstruktion von 1990 rezitiert ein älterer Mullah für einen Obolus von umgerechnet einem halben Euro Verse aus dem Koran. In den Gebetspausen hilft er der Eisverkäuferin an der großen Gefriertruhe. Ein professioneller Fotograf bietet neben Portraits auch Gebetsketten zum Verkauf an. Die Stimmung ist entspannt. Das liegt wohl zu gleichen Teilen an der unverkrampften religiösen Andacht und dem anstrengenden Aufstieg. MUSIK Famous Tunes by Samara Toktakunova, Track 10 ?Chon Kerbez? O-Ton Abduwali Osh menje otshen menje ponrawilas.. potomusto tam raznije naselenje no otshen shivjot. Gdje vot raznije naselenje shivjot a tam realnije kultur pojavitsa.. iz razni mentaliteti iz raznih etowo obshenje horosho obshenje drug druga i kultura sovsjem drugomo. SPRECHER 2 Den Reiz von Osh machen die vielen Volksgruppen aus, die hier zusammenleben. Die unterschiedlichen Kulturen, verschiedenen Mentalitäten und die gute Verständigung miteinander. Das ergibt eine ganz besondere Kultur. ERZÄHLER Hudayberdiev Abduwali, ein kleiner Mann mit schmalem Gesicht und einem imposanten Schnauzer, ist Usbeke mit kirgisischem Pass. Das ist gut so, sagt er. Die Betonung des kulturellen Miteinanders ist wichtig. Anfang der neunziger Jahre gab es in Osh blutige Zusammenstöße mit mehreren hundert Toten. Es ging um die neuen, oft willkürlich gezogenen Grenzen. Die politischen Beziehungen sind nach wie vor gespannt. All das wurde von außen, von Moskau gesteuert, sagt Abduwali. Die alte Zentralmacht hätte beweisen wollen, dass sie unentbehrlich ist. Aber die Menschen wollten miteinander klar kommen. MUSIK Kyrgyz Pop, ?Elles?, Track 4, Oi-Tobo ATMO Picknick ERZÄHLER In einem Park etwas außerhalb von Osh lagert auf einer überdachten Holzplattform ein knappes Dutzend Freunde, Verwandte und Angestellte mehr liegend als sitzend um einen reich gedeckten, niedrigen Tisch. Es gibt Weintrauben, Salate, frisches Brot und schließlich eine riesige Schale traditionellen Plovs ? viel Fleisch, etwas Reis, wenig Gemüse. Abduwali hat zum Picknick eingeladen. Er leitet eine Hilfsorganisation, die er vor etwa zehn Jahren gründete. Er wollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Denn das hatte ihn zuvor ziemlich herausgefordert. O-Ton Abduwali Ja 1985/86 ja slushil v Leningradje u nas bil v nutrje vooiska spez tshast. Mi ohranili Leningradski atimnaja stanzija ... spez tshast. 26 bil sriv i tsheres mesjaz mi bili ushe tam. SPRECHER 2 1985/86 habe ich in Leningrad meinen Armeedienst abgeleistet. Ich war in einer Spezialeinheit, die den Leningrader Atomreaktor bewachte. Am 26. April war die Explosion. Einen Monat später waren wir dort. ERZÄHLER ?Dort? bedeutet Tschernobyl. Als Soldat hatte der damals neunzehnjährige Abduwali keine Wahl. Er sollte sozusagen die Katastrophe bewachen. Seine Einheit hatte den Auftrag, in einer Zone von 30 Kilometern um den Reaktor Eindringlinge abzuhalten. Menschen, die ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen mussten, oder Plünderer, die sich ebenfalls für diese Besitztümer interessierten. Nur sogenannte Liquidatoren ?durften? in die Todeszone. Sie mussten die schlimmsten Schäden beseitigen und schließlich den Strahlenherd mit einer riesigen - Sarkophag genannten - Betonhülle umschließen. Das waren ebenfalls zwangsverpflichtete Soldaten oder ?Freiwillige?, die von den hohen Extraprämien angelockt wurden. O-Ton Abduwali Maximum tri mesjaz .. vot tak rabotajet oni. tsheres den rabotajet. A raznije zoni. Naprimer eto sami gorjatshije zoni. Tam dolshen rabotath vsje sjem punkt .. a vtaroi zone jest. tam rabotajet gdje to desjat minut i treti zone gdje to pol tshasa maximum pol tshasa djen pol tshasa... a vot tsheres den rabotajet ... maximum tri mesjazi rabotajet. SPRECHER 2 Jeder arbeitete dort maximal für drei Monate. Immer ein um den anderen Tag im Wechsel. Es gab verschiedene Zonen. In der ganz heißen, der gefährlichsten Zone durfte man nur sieben Sekunden arbeiten. Es gab eine zweite Zone, in der arbeitete man ungefähr 10 Minuten. Und dann gab es die dritte Zone, in der man eine halbe Stunde bleiben konnte. Eine halbe Stunde jeden zweiten Tag und das für maximal drei Monate. ERZÄHLER Aber was kann man denn in sieben Sekunden arbeiten, möchte ich wissen. O-Ton Abduwali Bistro dve eto lapadka beton ili kurt kokoito pulsk uspeth. Ras dwa tri pul. Po otshered tam postajano. SPRECHER 2 Man kann schnell ein wenig Beton wegschaffen oder eine Schraube andrehen. Eins, zwei, drei - dann kommt das Signal. Immer der Reihe nach. ERZÄHLER Abduwali ahnte nur, dass das ein gefährlicher Einsatz war. Genaue Informationen bekamen er und seine Kameraden nicht ? im Gegenteil. O-Ton Abduwali Kogda nas otpravili iz Leningrada.... potom mi slishali jesli pojedjesh v Tshernobil budjet tebe vlijaet ot sotrudnikow takoi sluh bil. A kogda otpravili potom mi sprosili Kommanda Battaliona .. mi svami nje pojedjem. A potshemu? Nu vlijajet okasivajetsa na sdarovje. Nje oni skasali nikak nje vlijajet. Vi ne budjete saiti tuda a vi budjete tolko ohranjath ...vot v takoi slova.. no okasivajetsa v 30 km vsjo ravno polutshili obezutshenije. SPRECHER 2 Als wir aus Leningrad abkommandiert wurden, haben wir von Kameraden gehört, dass in Tschernobyl unsere Gesundheit gefährdet sei. Und als sie uns dann los schickten, gingen wir zum Kommandeur. Wir sagten, dass wir da nicht hinwollten. ?Warum??, fragte der. ? ?Na ja, weil es sich auf die Gesundheit auswirkt.? - ?Nein? war die Antwort, ?das wirkt sich überhaupt nicht aus. Ihr werdet die Zone doch nur bewachen, ihr müsst da ja gar nicht rein.? Nur dass es dann so kam, dass wir in 30 Kilometer Entfernung trotzdem radioaktiv verseucht wurden. ERZÄHLER Wurden sie denn nicht misstrauisch? Doch, sagt Abduwali. Sie seien zu gut behandelt worden. O-Ton Abduwali Kogda mi slushili v Leningradje tam bilo vsjo strogi... da .. kushajesh malo. Mi kogda pojehali v Tshernobil tam tshetirje tshelovek sidish v odnom tolko kak v restaurant ... sto ti hoces ... vilka loshka eto maslo tam na val.. vsjo produkti na val... tebe dajut svoboda. Potom mi sametili potshemu tak djelajut. Potomusto nam nje bilo skutshno ... sto bi nje podumali o sdarovje. SPRECHER 2 In Leningrad war es sehr streng. Es gab auch nur wenig zu essen. Als wir dann aber nach Tschernobyl kamen, saßen wir wie im Restaurant zu viert am Tisch. Es gab Messer, Gabeln, Löffel und Butter und andere solche Sachen. Sogar Freizeit hatten wir. Erst später verstanden wir wieso. Damit wir uns nicht langweilen und nicht über unsere Gesundheit nachdenken. ERZÄHLER Abduwali sah einen Videofilm über die Arbeiter, die während der Katastrophe im Kernkraftwerk waren. Arbeiter, die sofort starben, Arbeiter, deren Augen explodierten, weil der Druck zu groß war. Da kam die Angst und kurz darauf der Befehl, Sonnenlicht zu meiden, weil dabei radioaktiver Staub aufsteigt. Tödlicher Staub. Ein paar Dutzend Menschen starben in den ersten Tagen. Die Spätfolgen sind bis heute nicht abzusehen. Je nach medizinischer vor allem aber politischer Interpretation schwanken die Opferzahlen zwischen 10 000 und 250 000. Auf den ersten Blick wirkt der vor Energie sprühende Abduwali gesund. Doch irgendetwas stimme auch bei ihm nicht, sagt er. Früher sei er nie krank gewesen. Doch etwa fünf Jahre nach der Katastrophe hätte sich das geändert. In diesem Jahr war er schon dreimal krank. O-Ton Abduwali Ustajosh. Kosti boljat, vot nogi i nervni ... vot sablivanje. Nashe polutshajet sredi Tshernowizi ushe 80% invalidi .. treti grupi invalidi .. eto treti gruppa kotori sabolevajet ? sabolevanje. SPRECHER 2 Man ist ständig müde. Die Knochen tun weh, die Beine und die Nerven. 80 Prozent von uns sind Invaliden der dritten Kategorie. Das sind die, die mit einer großen Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken werden. ERZÄHLER Doch seine größte Sorge gilt seinen drei Kindern. Dass er sie überhaupt zeugen konnte, und dass sie gesund zur Welt kamen, war alles andere als selbstverständlich. Aber mittlerweile werden auch sie häufiger krank als normal und müssen alle zwei Jahre zu einer gründlichen Routinekontrolle. MUSIK Famous Tunes by Samara Toktakunova, Track 3 ?Ker- Tolgoo? ERZÄHLER Das Leben von Hudayberdiev Abduwali änderte sich durch die Katastrophe von Tschernobyl entscheidend. Einmal als er zum Opfer wurde und einmal als er sich entschied, dass er das so nicht mehr sein wollte. O-Ton Abduwali Bila eto v 1994 godu ... ja slutshaino posmotrel protshital v gazete eto bilo rossiski gazeta.. nje spomnju ... tam vishol statja stobi osnovni Tshernoviza moshno otkrith organisazija ... menje interessno bilo eto statja. SPRECHER 2 1994 war das. In einer Zeitung ? es war eine russische, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere - fand ich zufällig einen Artikel darüber, wie man überhaupt eine Organisation gründet. Das hat mich interessiert, da ich ja selbst betroffen war. ERZÄHLER Wenige Wochen später suchte er mit Hilfe eines Zeitungsinserates nach ehemaligen Kameraden. Ein gutes Dutzend kam beim ersten Mal zusammen. Gemeinsam informierten sie sich über ihre Rechte, dann setzten sie sich dafür ein, dass sie diese auch bekommen. Das Ergebnis waren ein paar bescheidene Vergünstigungen wie verbilligter Strom oder zinsfreie Kredite, vor allem aber ein neues, wachsendes Selbstbewusstsein, sagt Abduwali. Sein soziales Engagement hat ihm viel Achtung eingebracht. Immer wieder versuchen auch Politiker davon zu profitieren. Mit einer politischen Partei hätte er das jedoch nicht geschafft, sagt Abduwali. Und wie denkt er heute über seinen Einsatz in Tschernobyl? O-Ton Abduwali Nu kak skasath. Jesli konjeshno sami sredi njet, jesli ja nje pojedu jesli on je pojedjet. Kto dolshen pojehat tuda prawilno sakriwath vot eto takoi mesjats posmotrish neshelajesh tshestno poetomu ja otkrila organisazija pomoc sobstvo ushe mi prodalshajem pomomgath sami sebe vi sametili u nas jest takaja emblema vot takoi na ruka on umerajet no vsjo taki on dershit etot mir na ruka. SPRECHER 2 Na ja, wie soll ich es sagen. Wenn ich nicht gefahren wäre und der nächste auch nicht? Irgendeiner musste doch da hin und das alles machen. Niemand hat sich das gewünscht. Aber deswegen habe ich ja die Organisation gegründet, damit wir einander helfen können. Selbst wenn jetzt jemand stirbt, hat es doch irgendwie noch einen Sinn gehabt. MUSIK Kyrgyz Pop, ?Elles?, Track 1 ATMO Im Auto: It is also an old car. This is originally Russian car, designed by Russian engineer, military engineer (lachen) like tank. (lachen) ERZÄHLER Das Taxi ? ein russischer ?Wolga? - ist eine imposante Kreuzung zwischen amerikanischem Straßenkreuzer und sowjetischem Panzer. Es ist kurz vor Mitternacht. Mit im Auto sitzen Ilgis und zwei seiner Freunde. Über die breiten Boulevards von Osh geht es Richtung Süden. Das Ziel ist eine Diskothek, ?ein Geheimtipp?, wie die drei versprochen haben. Sie wollen mir das Nachtleben von Osh zeigen. Die Stimmung ist viel versprechend. ATMO Am Straßenrand ERZÄHLER Allerdings gibt es ein Problem. Meine drei Begleiter, allesamt um die vierzig, waren um diese Uhrzeit schon länger nicht mehr in der Stadt unterwegs. Wir stehen vor verschlossenen Türen. Aus dem ?Geheimtipp? wurde schon vor gut zwei Jahren ein Kindergarten. Meine Freunde wirken etwas ratlos. Ilgis versucht sich per Mobiltelefon einen neuen Tipp geben zu lassen. Es funktioniert nicht. Auch die junge Frau nebenan in dem kleinen Kiosk weiß keinen Rat. Die ganze Nacht über verkauft sie in ihrem Bretterverschlag Zigaretten, Cola, Wodka oder Kekse. Mit einem neuen Taxi geht die Suche weiter. ATMO Taxi mit Musik (deutscher Schlager: ?Samurai?), Musik aus der Disko ERZÄHLER Der Fahrer hat eine Idee ? ein Tanzschuppen mit dem Namen ?Parlament?. Unser neues Ziel. Meine Freunde sind erleichtert. Wir hören deutsche Schlagermusik in einem kirgisischen Taxi. Seltsames Gefühl. Eine kurze Fahrt. Dann tatsächlich eine Diskothek, bzw. ein Café, bzw. ein Restaurant. Auf dem Parkplatz ein paar schnittige Mercedeslimousinen. Auch wenn meine Freunde je zehn Jahresgehälter zusammenlegen würden, könnten sie sich einen solchen Wagen nicht leisten. Das alte an der Seidenstraße gelegene Osh ist heute eine Durchgangsstation für afghanisches Opium auf dem Weg nach Europa. Ein kleiner Teil der immensen Gewinnspannen bleibt dabei wohl in der Stadt hängen. Ilgis entrüstet sich noch ein wenig, dass man ?neuerdings? in einer Diskothek Eintritt zahlen muss - umgerechnet ein Euro pro Person -, da hat uns eine der vielen freundlichen Kellnerinnen schon einen Tisch zugewiesen und die Speisekarte in die Hand gedrückt. Die große, geflieste Tanzfläche ist vorwiegend von jungen Damen in hautengen Jeans und bauchfreien T-Shirts besetzt. Darüber konkurriert der freie zentralasiatische Sternenhimmel mit allerlei glitzernden Lichtspielen. Die ausgelassenen Tänze seien lediglich Ausdruck von Lebenslust und dienten nicht irgendwelchen professionellen Absichten, wie mir Ilgis treuherzig versichert. Dann lässt er sich von einem der Freunde sein neues Handy erklären. Zwischenzeitlich sorgt auch noch eine stattliche Ratte am Rand der Tanzfläche für Aufregung. Die wenigen Männer imitieren die Bewegungen der Frauen, um sich dann darüber lustig zu machen. Sie wären wohl selbst gute Tänzer, wenn sie denn wollten oder sich zu wollen trauten. Ilgis denkt nicht daran zu tanzen. Er hat Fleisch für alle bestellt. Die Kirgisen, sagt er, liegen, was den Fleischverzehr angeht, weltweit an zweiter Stelle. Wer denn die Liste anführe, frage ich neugierig? ?Wölfe?, prustet Ilgis los. Die Kellnerin bringt die frisch gezapften großen Biere, und Ilgis bietet mir an, die Geschichte seines Großvaters zu erzählen, die mich vielleicht interessieren könnte. Das tut sie tatsächlich. O-Ton Ilgis My grandfather was enlisted to Sowjet army, in 1940. And when the world war two for SU started on 22nd of June 1941. He was captured by German troops. He spend about three years in the concentration camp Mauthausen. He survived because he was taken by German farmers to the fields. He had a relative good health and so -. Then he was released by Russian troops. When the war finished, he was serving in Vienna. And he came back from the army in 1946. And then national security of KGB made some investigations of all people . It was usual practise in SU. KGB investigated every case, when a person was war-prisoner so. And he was convicted for 25 years to work near the polar circle in the uranium mine. SPRECHER 1 Mein Großvater wurde 1940 zur Armee einberufen. Und bald nach Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 in der Sowjetunion, geriet er in deutsche Gefangenschaft. Mehr als drei Jahre verbrachte er im Konzentrationslager Mauthausen. Er überlebte, weil ihn deutsche Bauern für die Feldarbeit brauchten. Er hatte eine ziemlich stabile Gesundheit. Schließlich wurde er von der russischen Armee befreit. Nach Kriegsende war er dann in Wien stationiert. 1946 kam er wieder nach Hause. Als der KGB die ehemaligen Kriegsgefangenen überprüfte, wurde er zu 25 Jahren Zwangsarbeit in einer Uranmine am Polarkreis verurteilt. ERZÄHLER Der Großvater soll mit dem Feind zusammengearbeitet haben, lautete der Vorwurf. Die Zeit unter Stalin war nicht gerade liberal, bemerkt Ilgis mit schiefem Grinsen. Nach Stalins Tod wurden viele der politischen Häftlinge von Nikita Chruschtschow rehabilitiert. Nach neun Jahren Zwangsarbeit kehrte auch Ilgis? Großvater 1956 in die Heimat zurück. O-Ton Ilgis It was strange but Stalin?s portrait was on his table. He praised him ? I don?t know why. He was suffering of the regime of Stalin and ? actually, he was kind of god for him. Not only for him, but all generation of him and my grandmother. The same was with the Germans. He spend three years or three and a half years a war prisoner ? he told me nothing negative about Germans, nothing negative. He was always positive on that. He said, that he learned a lot from that time, because he was taken by German farmers and he saw all that stuff. And the interesting thing after being back from the polar-circle in 1956 he got a license, he was allowed to teach German in school. SPRECHER 1 Das war schon eigenartig, aber auf seinem Tisch stand immer ein Stalinportrait. Er verehrte ihn. Ich habe keine Ahnung warum. Er hatte so unter seinem Regime gelitten, aber Stalin war für ihn wie ein Gott. Nicht nur für ihn allein, überhaupt für die Generation meiner Großeltern. Mit den Deutschen war es das Gleiche. Er war mehr als drei Jahre ihr Gefangener, aber er hat nie schlecht über sie geredet. Er sagte, dass er in dieser Zeit von den Deutschen viel gelernt hätte. Und als er 1956 dann vom Polarkreis zurückkehrte, bekam er sogar die Erlaubnis in der Schule Deutsch zu unterrichten. ERZÄHLER Das Essen kommt. Ich bin hungrig, lange nach dem frischen Brot. Es schmeckt köstlich - bis ich Ilgis? missbilligenden Blick bemerke. Ich habe das Brot mit einer Hand abgerissen, den Rest einfach in den Korb zurückgeworfen. Das war nicht nur ein Fehler - es waren zwei. O-Ton Ilgis First of all, the national bread should be braked by hands, by both hands not by one. And when you put the bread on the table, you should take care of, that it should face up. It is tradition because it is a kind of respect to people, who first grow the wheat, second, who braked the bread and bread is a kind of symbol of prosperity. So you have to be very respectful to the bread. SPRECHER 1 Erst einmal soll man das Brot mit beiden Händen brechen, nicht nur mit einer. Und wenn man es dann zurücklegt, soll man darauf achten, dass die richtige Seite oben liegt. So will es die Tradition aus Respekt vor den Menschen, die den Weizen anbauen und auch vor jenen, die das Brot backen. Brot ist bei uns ein Symbol für Wohlstand. Also behandeln wir es mit Respekt. MUSIK Kyrgyz Pop, ?Elles?, Track 9 ATMO Internetcafé ERZÄHLER Am nächsten Tag in einem der zahlreichen Internetcafés in Stadtzentrum. Ein alter Mann diktiert einer jungen Angestellten einen Brief, bzw. eine E-Mail für einen Verwandten im Ausland. Ihre Kollegin bietet mir in vier verschiedenen Sprachen ihre Hilfe an. Neben Kirgisisch und Englisch spricht sie noch Russisch und Türkisch. Fast, sagt sie, hätte sie auch mal Deutsch gelernt. Warum sie es dann doch nicht getan hat, ist ihr jetzt peinlich. O-Ton Gülscha Every Saturday, there was holiday, victory day and there were and films about the war. Now I understand, why I didn?t want to learn German, when there was a chance, because we were watching these films. They put me, they learned me to look negative to all German people to all German in the whole. And there was the chance to learn German but my pre-judgements, that were putted in me in my childhood didn?t give it to me. SPRECHERIN Jeden Samstag und an Feiertagen wie dem Tag des Sieges gab es Filme über den Krieg. Wegen dieser Filme hatte ich einen schlechten Eindruck von den Deutschen, von allem, was deutsch war. Und als ich dann die Chance hatte, Deutsch zu lernen, waren die Vorurteile aus meiner Kindheit einfach zu groß. ERZÄHLER Gülscha heißt sie und ist 18 Jahre alt. Sie studiert und jobbt hier vormittags für umgerechnet zwei Euro. Zudem kann sie sich umsonst im ?weltweiten Netz? bewegen. Das reizt. Später möchte sie ins Ausland. Europa und die USA stehen ganz oben auf ihrer Wunschliste. In ihrer Generation will fast jeder weg, sagt sie. O-Ton Gülscha A lot of young people want to go abroad, to study and to stay to work in other countries. It is really hard to find work in here. I notice, that in our university, there are a lot of hopeless. They are living from exams to exams. SPRECHERIN Viele junge Leute wollen ins Ausland, um zu studieren oder zu arbeiten. Hier Arbeit zu finden, ist wirklich schwer. In meiner Universität gibt es viel Hoffnungslosigkeit, viele die einfach nur von Examen zu Examen leben. ERZÄHLER Examen, für die sie lernen - oder auch nicht. Denn wer das nicht will oder kann, hat auch andere Möglichkeiten. Ob Zwischen- oder Abschlussnoten, alles sei käuflich, sagt Gülscha. In der Provinz erhalten die Lehrkräfte oft nur ein paar Euro im Monat. Unmöglich, damit eine Familie zu ernähren. Da ist man auch schon für einen Sack Kartoffeln dankbar und verhandlungsbereit. Und Gülscha und ihre Kommilitonen haben auch ihre Tricks. O-Ton Gülscha Before the exams ? we as clever students, we are buying chocolates or flowers or something like that: ?Just saying ? ?Oh please take it, we love you my teacher!? And of course, the marks are a little bit higher. On every exam, we were preparing a table for them with biscuits. I thought when they are checking our papers, to be in good mude, they have to eat and drink ? lacht - you understand. SPRECHERIN Vor den Prüfungen kaufen wir als clevere Studenten Schokolade oder Blumen und sagen einfach nur: ?Bitte nehmen Sie das, wir mögen Sie doch so!? Und natürlich sind die Noten dann ein bisschen besser. Bei jeder Prüfung haben wir auch Kekse auf den Tisch gestellt. Wir dachten, wenn sie die Arbeiten kontrollieren, sind sie wenigstens gut gelaunt, weil sie zu essen und trinken haben. ERZÄHLER Inzwischen muss sie sich wohl etwas anderes einfallen lassen. Ihre Universität wird von der Türkei finanziert. Die Lehrer werden vergleichsweise gut bezahlt. Am Bosporus hat man die neuen Möglichkeiten in den Zentralasiatischen Staaten, dem historischen Hinterland, früh erkannt und sich dementsprechend engagiert. Viele türkische Geschäftsleute haben in den letzen Jahren in Kirgistan ihr Glück gesucht und oft auch gefunden. Gülscha bekommt sogar ein monatliches Stipendium von 20 US-Dollar. Das ist ein wichtiger Beitrag zur meist leeren Haushaltskasse der Familie. Vater und Mutter verdienen als Busfahrer und Verkäuferin nicht viel. Gülscha ist schlank und ihre rosa Bluse sowie die enge Jeans sind nicht nur schick sondern offensichtlich auch recht neu. Überhaupt sieht man auf den Straßen nur äußerst selten schlecht bzw. armselig gekleidete Menschen. In Kirgistan, sagt Gülscha, werde sehr wichtig genommen, wie jemand aussieht. Gülschas Haare sind etwa streichholzlang. Das ist sehr ungewöhnlich. Warum diese Frisur, will ich wissen? Sie druckst ein wenig herum, grinst und sagt dann, dass sie jetzt weiter arbeiten müsse. Aber wenn ich wolle, dürfte ich sie am Abend zum Essen einladen. Gern! MUSIK Kyrgyz Pop, ?Elles?, Track 4, Oi-Tobo ATMO Restaurant ERZÄHLER Tische und Bänke stehen in langen, zur Straße offenen Arkaden. Tischblumen und -decken sind aus Plastik. Der nackte Betonboden wird alle 15 Minuten neu gewässert. Auf den Eingangsstufen hocken zwei entspannte Polizisten, die der Restaurantbesitzer von der nächsten Polizeiwache ganz offiziell ?gemietet? hat. Auf dem breiten Bürgersteig vor dem Restaurant qualmen die Grillbuden, dahinter rauscht der Verkehr. Die Kellnerinnen tragen transparente Blusen und schicke BHs. Der Ton ist selbstbewusst freundlich. Ein schöner Abend. Vor mir sitzt Gülscha. Die Haare! Sie will erklären, warum sie die so kurz trägt. ?Brautraub?, sagt sie. Ob sie das ernst meint, frage ich. O-Ton Gülscha Bride kidnapping? I am really afraid of that, because I am too young for first ? really 18 years. ERZÄHLER Sie meint es ernst. Sie hat Angst, das Opfer eines Brauträubers zu werden. Mit 18 sei sie ja wohl noch zu jung für so was. Sie ist erstaunt, dass ich erstaunt bin. O-Ton Gülscha In the middle of the winter, I was really stressed by that, because I was really afraid. So it was one of the main reasons, why I took of all my hairs. Of course, it was strange for everyone to see a bold- headed girl in the middle of the winter. But I supposed that people must live in such way, they feel themselves safe. I felt really glad, when I was without hairs. I thought, the guys would never kidnap a bold-headed girl - lacht. SPRECHERIN Im letzen Winter hat mich das echt gestresst, weil ich wirklich Angst hatte. Das war der Hauptgrund, dass ich mir meine Haare abgeschnitten habe. Natürlich hat sich jeder über ein glatzköpfiges Mädchen mitten im Winter gewundert. Aber ich denke, dass jeder so leben sollte, dass er sich sicher fühlt. Ohne die Haare fühle ich mich wirklich wohler. Ich dachte, mit einer Glatze würden mich die Typen sicher nicht kidnappen. ERZÄHLER Der Brautraub ist eine Tradition aus der Nomadenzeit. Tatsächlich, erfahre ich, gibt es auch heute noch vereinzelte Fälle, dass junge Frauen entführt und vergewaltigt werden. Der vermeintliche Ehrverlust macht es den Opfern schwer, in ihre Gemeinschaft zurückzukehren. So soll den Eltern das Einverständnis zu einer offiziellen Heirat abgerungen werden, was dann auch oft geschieht. Nicht selten wird ein solcher ?Raub? auch von einem jungen Liebespaar inszeniert, um die Eltern vor vollendete Tatsachen zu stellen. So oder so, vor allzu interessierten Verehrern hat Gülscha schlichtweg Angst. O-Ton Gülscha Unknown guys ? just imagine, you are walking in the streets from university ? somebody is coming to you, taking your hand and feet and putting you to the car. You don?t know, where you are going and you open your eyes and you are at a unknown place, unknown women are coming to you, putting these things on your head and saying ? you are our daughter from these moment. You don?t know your husband. Just imagine, you are going to live to the end of your live with a man, whom ? it is not a problem for example for western countries ? you can divorce. In our culture it is really a shame, when you divorce. That is why so many people are really unhappy living together - even with a man you hate. SPRECHERIN Stell dir das doch nur mal vor: Du gehst die Straße entlang, jemand kommt, packt dich an Händen und Füßen und bringt dich zu einem Auto. Du weißt nicht, wo es hingeht, öffnest die Augen, bist an einem unbekannten Ort, und unbekannte Frauen kommen zu dir, um dir einen Schleier überzuwerfen und erklären dich von diesem Moment an zu ihrer Tochter. Und deinen Mann kennst du gar nicht. Stell dir nur mal vor, mit dem musst du dann bis ans Ende deines Lebens zusammen sein. In der westlichen Welt kann man sich ja scheiden lassen. Aber in unserer Kultur ist das eine Schande. Deswegen leben auch so viele unglücklich zusammen, mit einem Mann, den man hasst. ERZÄHLER Aber sie könnte doch immerhin zur Polizei gehen. Bei allen Schwierigkeiten ist das 21. Jahrhundert doch auch schon in Kirgistan angebrochen. Die Polizei sei nicht das Problem, sagt sie, sondern der soziale Druck und eine gewisse Portion Aberglaube. O-Ton Gülscha I am really against of this kidnapping, but I know myself and I am always afraid, that I could stay with him. You know, when a girl, who was kidnapped, is going out from him ? all the man?s grandmothers, aunts and mums are lying on the floor and they say: ?If you would go, if you go away, you will be unhappy till the end of your life. You will have no children, no husband! You know, what that means. So sometimes girls are afraid. But here it is a real story, when the girls sometimes leave, they really go out, they sometimes are really not happy, because of the bad words of grandmothers and old people. SPRECHERIN Ich bin wirklich gegen diese Entführungen, aber ich kenne mich, und ich habe immer Angst, dass ich dann bei dem Mann bleiben würde. Weißt du, wenn ein geraubtes Mädchen den Typen verlassen will, dann kommen alle Frauen seiner Familie und legen sich auf den Boden und sagen: Wenn du gehst, wirst du bis ans Ende deines Lebens unglücklich sein, du wirst keine Kinder und keinen Mann haben! Weißt du, was das bedeutet?! Deswegen haben die Mädchen manchmal Angst. Aber es gibt tatsächlich Fälle, dass sie abgehauen sind und wirklich nicht mehr glücklich wurden, weil sie von den Großmüttern und anderen alten Leuten verflucht waren. ERZÄHLER Und wenn es denn schon sei müsse, dann wisse sie immerhin, wer sie entführen soll. Schließlich habe sie einen festen Freund. Das sei zwar ziemlich normal, ihre Eltern seien aber nicht gerade begeistert, sagt die Achtzehnjährige. O-Ton Gülscha They saw him, when we were walking - lacht ? I introduced him. Everyone in my family knows him. And he wants to meet my family to make good relations with them but my mother don?t agree. She said: ?I know him, that is enough?. I don?t have to be his friend! ? lacht - But I like to live with him. SPRECHERIN Sie sahen ihn, als wir spazieren gingen. Ich habe ihn dann vorgestellt. Meine ganze Familie kennt ihn. Er möchte sie auch besuchen, aber meine Mutter will das nicht. Sie sagt: ?Ich kenne ihn, das reicht! Ich muss nicht seine Freundin sein.? Ich will aber mit ihm leben. ERZÄHLER Was würde denn gegen den jungen Mann sprechen, frage ich. Einen Studienkollegen, wie Gülscha mir verraten hatte. Seine Nationalität, antwortet sie. Er ist kein Kirgise, sondern Türke. O-Ton Gülscha They think Turkish are bad, because they are really hot-blooded people and maybe that is, why they are afraid. But they don?t know him, maybe that is why. I told them, that there are no bad nationalities, just bad persons from that. SPRECHERIN Sie denken, Türken wären schlecht, weil sie heißblütig sind. Vielleicht ist es das, wovor sie Angst haben. Aber sie kennen ihn gar nicht. Vielleicht ist es deswegen. Ich habe ihnen gesagt, es gebe keine schlechten Nationalitäten nur schlechte Menschen. ERZÄHLER Also gehören auch Gülscha und ihr Liebster zu den vielen Paaren, die in den wärmeren Monaten durch die zahlreichen Parks der Stadt flanieren und abends die dunklen Parkbänke belegen? Gülscha grinst. O-Ton Gülscha We have a walk together too. It is normal. We are walking, sitting on the banks talking. I like talking with him. There a lot of things for us to talk about. SPRECHERIN Wir gehen auch spazieren. Das ist normal. Oder wir sitzen auf einer Bank und reden. Ich rede sehr gern mit ihm. Es gibt vieles, worüber wir sprechen können. ERZÄHLER Das klingt romantisch. Aber was machen sie in den kalten Wintermonaten? O-Ton Gülscha But we have university, library to sit there. For me love is not just walking and holding your hand, just saying pretty words. It is also to share your pain, to describe what worries you. To be a big shoulder. ? lacht SPRECHERIN Wir haben doch die Universität und Büchereien, wo man sitzen kann. Für mich ist Liebe nicht nur spazieren gehen, Händchen halten und nette Worte wechseln. Es geht auch darum, seinen Schmerz zu teilen, zu benennen, was einem Angst macht. Eine große Schulter zu haben. MUSIK Kyrgyz Pop «Elles», Track 9, Op-Mayda, geblendet! 1