DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 31.07.2007 Redaktion: Marcus Heumann 19.15 - 20.00 Uhr "Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe" Stimmphysiognomik und Verbrecherjagd in der Weimarer Republik Von Sabine Weber URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik: Dreigroschenmusik O-Ton Lied: Max M. In der Welt und allen Landen gibt es Räuberbanden ... O-Ton Harold Selowski So war es aber in der Weimarer Republik eine besondere Zeit in dem Sinne, dass modernste technische Errungenschaften eben auch versucht wurden zu transformieren auf die Kriminalistik. Ob das jetzt die Daktyloskopie war oder davor das Bertillonsche Messverfahren oder die Fotografie zur Wiedererkennung von Straftätern. Unter anderem auch die Stimmphysiognomik von Wilhelm Doegen, der hier Versuche machte. O-Ton Max M. Ich stehe hier, um meine Stimme auf einen bestimmten Typ untersuchen zu lassen. ZITATOR Max M., 25 Jahre alt. Geboren in Cottbus, evangelisch, Volksschule. Beruf: Einbrecher. Sprachaufnahme am 14. Juli 1926 im Zellengefängnis Moabit, Berlin. O-Ton Max M. Was ich zu sagen hab, ist Folgendes: Ich schmachte viele, viele Jahre in einer öden Zelle. Der Hunger, der Durst nach Liebe, Glück, Freiheit lässt mich hier in diesem Hause zu einem Verbrecher werden - alles, alles ist mir entzogen. Mein Herz krampft sich zusammen, wenn ich diesen Schrei aus tiefster Brust hervorbringe. O-Ton Reinhart Meyer-Kalkus Im Wesentlichen sind es zwei Typen von Texten, die die Gefangenen sprechen. Es sind zum einen eher frei assoziierende Texte, die den Gefangenen erlaubt haben, selber eine Art von Beichte, eine Lebensbeichte abzulegen. Zum anderen die Wenkerschen Sätze, die im Zusammenhang mit dialektologischen Fragestellungen aufgestellt worden sind. O-Ton Cyril R. Mein liebes Kind, bleib hier unten stehn, die bösen Gänse beißen dich tot. O-Ton Gustav V. Wo gehst du hin? Sollen wir mit dir gehen? O-Ton Georg L. Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe. Musik: Dreigroschenmusik Sprecherin "Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe." - Stimmphysiognomik und Verbrecherjagd in der Weimarer Republik. Ein Feature von Sabine Weber. Atmo: Gefängnistür Sprecherin An vier Tagen im Juli 1926 werden in Berlin und Brandenburg bemerkenswerte Tonaufnahmen gemacht. Die Aufnahmeorte "Strafanstalt Plötzensee", "Stadtvoigtei Berlin", "Zellengefängnis Moabit" und "Haftanstalt Brandenburg" lassen schon vermuten, dass es sich kaum um bekannte oder gar verdiente Persönlichkeiten handelt, die sich hier auf Wachsplatten verewigen. Tatsächlich sind die 24 Sprecher und Sänger verurteilte Diebe, Spione, Einbrecher und Mörder. O-Ton Fritz W. Da mir bekannt war, dass der Besitzer der Villa sehr reich ist, und ich den Standpunkt vertrete, dass niemand durch Hände Arbeit sehr reich werden kann, so hielt ich meinen Raub für gerechtfertigt, denn ich hatte ja auch Arbeit dafür zu leisten. Zitator Fritz W., 26 Jahre alt, Fassadenkletterer. Geboren in Jesnitz, Sachsen-Anhalt, konfessionslos, Volksschule. Beruf: Kaufmann. Sprachaufnahme am 13. Juli 1926 im Polizeizimmer der Stadtvoigtei Berlin. Sprecherin Die Straftäter nutzen die rund zwei Minuten Aufnahmezeit zu Erzählungen aus ihrem Leben, zu Bekenntnissen, Verteidigungsreden oder philosophischen Betrachtungen. Das Thema ist ihnen freigestellt - allerdings müssen sie die Texte zuvor schriftlich fixieren und für die Aufnahme ablesen. Einige geben zusätzlich Ganovenlieder oder kurze Gedichte zum Besten. Alle werden angehalten, eine Reihe Wenkerscher Sätze zu sprechen. O-Ton Willy B. Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein auszutrinken, du musst erst noch etwas wachsen und größer werden. Sprecherin 40 solcher Vergleichssätze hatte der Germanist Georg Wenker in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelt, um sie in der Dialektforschung einzusetzen. Die zumeist sinnfreien Sätze kombinieren auf vielfältige Art Konsonanten und Vokale. Dialektbedingte Unterschiede in der Aussprache sollen so leicht erkennbar werden. - Begleitend zu den Sprachaufnahmen in den Strafanstalten werden standardisierte Personalbögen angelegt. Aufnahmeleiter Professor Wilhelm Doegen, Direktor der Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek, und seine Assistenten füllen sie akribisch aus. Es finden sich Angaben zu Geburtsjahr und -ort, zur Herkunft der Eltern, zu Schul- und Berufsausbildung. Es wird notiert, wo die Sprecher aufgewachsen sind, welche Konfession sie haben, welche Fremdsprachen und Musikinstrumente sie beherrschen und wo sie zuletzt lebten. Musik - Dreigroschenmusik Sprecherin Diese Aufnahmen, die sich heute im Berliner Lautarchiv befinden, sind nicht nur ein beeindruckendes menschliches Zeugnis, das die Straftäter über sich selbst abgeben. Sie werfen auch ein erhellendes Licht auf die Wege und Irrwege der Wissenschaft sowie auf das neue Selbstverständnis der Polizei in der Weimarer Republik. Den Anstoß zu den Stimmaufnahmen gibt der preußische Staatssekretär des Innern, Dr. Wilhelm Abegg. Harold Selowski, Erster Polizeihauptkommissar, Fachbereichsleiter Politische Bildung an der Landespolizeischule Berlin und Mitgestalter der Polizeihistorischen Sammlung: ... O-Ton Harold Selowski Abegg war derjenige, der, nachdem die Sicherheitspolizei nach dem Krieg begründet wurde, diese umformen musste zur Preußischen Schutzpolizei, die von 1922 dann bis zur so genannten Machtergreifung der Nationalsozialisten hier die erste deutsche Demokratie repräsentierte. Mit Albert Grzesinski zusammen - als der preußischer Innenminister wurde - avancierte er dann zum Staatssekretär im preußischen Innenministerium. Abegg war sach- und fachkundig, nicht nur an Organisation, Personal, sondern auch an Technik sehr interessiert, ... " Sprecherin ... vor allem, wenn diese zur Verbrechensbekämpfung eingesetzt werden kann. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ist die Kriminalitätsrate rasant angestiegen. Ein Grund dafür ist die desolate wirtschaftliche Lage. 269 Milliarden Goldmark Reparationen sollen von Deutschland bezahlt werden, die Inflation galoppiert. Die Not ergreift Arbeiter, Handwerker, Angestellte, Rentenempfänger, kriegsinvalide Soldaten. Das Heer der Bettler wächst. O-Ton Georg L. Es sind schlechte Zeiten. Sprecherin Durch die Ausgabe der Rentenmark am 15. November 1923 gelingt es der Regierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann, die Währung zu stabilisieren. Doch die im Elend sind, kommen nicht so rasch wieder auf die Beine. Im März 1924 erreicht die Zahl der Arbeitslosen 2,4 Millionen - bei einer Bevölkerung von insgesamt 62 Millionen ein neuer Höchststand. O-Ton Gustav V. Hiermit gebe ich bekannt, wie es kam, dass ich ins Zuchthaus wanderte. Im Mai des Jahres 1915 wurde ich Soldat, erwarb das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse und als 1918 die Revolution ausbrach, wurde ich vom Militär entlassen. Bis zu dieser Zeit war ich ein unbestrafter Mensch. Ich bemühte mich um Arbeit, aber es war mir unmöglich auf meinen Beruf als Handlungsgehilfe Arbeit zu finden. Da ich aber jeden Tag leben musste und es mir auch unangenehm erschien, auf Kosten meiner Tante zu leben, beschloss ich, meinen früheren Freund aufzusuchen. Mein Freund schlug mir einen Einbruch vor worüber ich ganz erstaunt war. Ich sagte ihm gleich, dass für mich nur steinreiche Leute in Frage kämen und diese Ansicht vertrat mein Freund auch. Zitator Gustav V., 30 Jahre alt, Einbrecher. Geboren nahe Stettin, evangelisch, Volksschule. Beruf Handlungsgehilfe. Sprachaufnahme am 17. Juli 1926 im Konferenzzimmer der Strafanstalt Brandenburg. Musik: Dreigroschenmusik Sprecherin Doch nicht allen geht es schlecht. Mitte der 20er Jahre prallen besonders in Berlin unterschiedliche Welten aufeinander. Auf der einen Seite Bettlermetropole mit verwahrlosten Mietskasernen - auf der anderen Seite Pressehochburg und neues Modezentrum, wachsender Reichtum, kulturelle Vielfalt und mondänes Nachtleben. Die sich verschärfenden sozialen Gegensätze bilden den Nährboden für die rasch zunehmende Kriminalität. Neben den "ehrlichen" Bettlern, die schnorren, um nicht zu verhungern, wächst die Zahl von Schiebern, Dieben, Betrügern und Schwerverbrechern. In dieser schwierigen Zeit wird die bis dahin nicht besonders geschätzte Polizei neu strukturiert und bemüht sich zugleich um ein "modernes Image". Harold [sic!] Selowski: O-Ton Selowski Das Ansehen der Polizei in den 20er Jahren war zunächst natürlich noch einmal geprägt vom alten blauen Schutzmann der Kaiserzeit. Hinzu kommt, dass bei der Polizei zunächst erst mal Vertreter der Reichswehr, insbesondere hier des kaiserlichen Heeres übernommen wurden. Berlin war ja Garnisonstadt. Man brauchte zur Niederschlagung der Aufstände von links und rechts jetzt keine Polizisten, die Streife laufen, sondern Leute, die Waffendienst versehen konnten. Das änderte sich dann nach 1923. Die Polizeiführung und die politische Führung übernahmen jetzt erhebliche Anstrengungen, eine demokratische Polizei zu etablieren und zu fördern. Sprecherin Als 1925 der Sozialdemokrat Albert Grzesinski zum Berliner Polizeipräsidenten ernannt wird, widmet er sich in seiner Antrittsrede besonders dem neuen demokratischen Auftrag der Polizei. O-Ton Selowski Albert Grzesinski war preußischer Innenminister und davor und danach jeweils Polizeipräsident in Berlin. Er war sehr resolut und durchsetzungsfähig, machte eine eigenständige Personalpolitik, förderte also - die Demokratie war ja noch sehr jung - Demokraten in den preußischen Staatsämtern, versetzte auch Polizisten, die im Verdacht standen, ultrakonservativ oder gar rechtsextremistisch zu sein, auf Posten, wo sie also wenig Unheil anrichten konnten. Atmo Sprecherin Gemeinsam mit seinem Vizepräsidenten Bernhard Weiß und dem Staatssekretär Wilhelm Abegg macht sich Albert Grzesinski für eine moderne Polizei stark, die im besten Sinne bürgernah sein soll. Musik: "Die Polizei, die regelt den Verkehr ... " Atmo: Geräuschcollage Sprecherin In den 20er Jahren wächst die Begeisterung für Wissenschaft und Technik. Erfolge auf diesen Gebieten, so hofft man, sollen Deutschland wieder internationales Ansehen bringen. 1922 schaffen deutsche Ingenieure die Voraussetzungen für die Präsentation des ersten Tonfilms, 1923 wird die erste Radiosendung ausgestrahlt. Auch die Polizei macht sich die neuen Medien zunutze. Fahndungsaufrufe erscheinen nicht mehr nur in Zeitungen, auf Flugblättern und an Litfasssäulen, sondern werden auch über den Rundfunk verbreitet - wenngleich Rundfunkempfänger zu dieser Zeit noch Luxus sind. Reklamelaufbänder werden für Fahndungen ebenso genutzt wie das Kino. Es gibt Fortschritte auf dem Gebiet der Spurensicherung. Die Daktyloskopie, also das Nehmen von Fingerabdrücken, wird eingeführt. Karteikartensysteme und Verbrecheralben erleichtern die Ermittlungen. Zitator Paul B., Alter unbekannt, Einbrecher. Geboren in Berlin, evangelisch, Bürgerschule. Beruf: Musiker. Gesangsaufnahme am 13. Juli 1926 im Polizeizimmer der Stadtvoigtei Berlin. O-Ton Lied Paul B. Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit ... Zitator Zeitungsausriss ohne Quelle und Jahr, dem Personalbogen von Paul B. beigelegt. "Vor dem erweiterten Schöffengericht Mitte hatte sich gestern der Masseneinbrecher Paul B. wegen eines Einbruchs aus dem Jahre 1922 zu verantworten. Bemerkenswert an dem erst 35-Jährigen ist die Tatsache, dass er im Laufe des letzten Jahres von zehn verschiedenen Gerichten zu der Höchststrafe von je 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist. Im Ganzen hat er bisher an Einzelstrafen 208 Jahre Zuchthaus erhalten. Er hat mindestens 500 Einbrüche verübt und erklärt, er könne das alles nicht mehr auseinander halten." Sprecherin Für diese Art notorischer Wiederholungstäter wird ein neuer Begriff geprägt: "Berufsverbrecher". Im Jahr 1926 erscheint ein Buch unter demselben Titel, das rasch zur Bibel der Kriminalisten avanciert. Verfasst hat es der Jurist Robert Heindl, der darin zwei Thesen aufstellt. Erstens: Berufsverbrecher bedienen sich stets derselben Methode. Zweitens: Es gibt in Deutschland etwa 8500 solcher Berufsverbrecher, die den überwiegenden Anteil an Straftaten verüben. Ihre lebenslängliche Sicherungsverwahrung würde die Kriminalitätsrate drastisch senken. Dabei beschäftigt Heindl die Frage, ob es einen bestimmten "Verbrechertyp'" gebe. Zitator Der Anstaltsarzt schreibt über S.: "Sein Gesichtausdruck und seine Gesichtbildung hat sich im Laufe der Jahre ungemein verändert. Sein früher fast unschuldiges Aussehen hat sich bis zu einem unheimlichen, widerlichen entwickelt." Ich meine: Man wird also richtiger von einer in der Gefangenschaft erworbenen "Zuchthäuslerphysiognomie" als von einem "Verbrechertyp" sprechen. Sprecherin Auch die neue Untersuchungsmethode "Graphologie", also die Deutung der Handschrift, um Rückschlüsse auf den Charakter, gar auf die kriminelle Veranlagung eines Menschen zu ziehen, betrachtet Heindl mit großer Skepsis. Neben der Graphologie kommt in der Weimarer Republik eine weitere, neue kriminalistische Methode zur Anwendung: die systematische Vermessung und Beschreibung eines Straftäters. Sie ermöglicht das zweifelsfreie Wiedererkennen einer bereits registrierten Person. Nach dem französischen Polizeichef Alphonse Bertillon, der sie Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, wird sie das "Bertillonsche Messverfahren" genannt. Musik - Dreigroschenmusik Sprecherin Moderne Ermittlungsmethoden, Bürgernähe und ein Demokratie sichernder Auftrag - das neue Bild der Polizei soll auch in den Köpfen der Bevölkerung etabliert werden. Hervorragende Möglichkeiten dafür bietet die "Große Polizeiausstellung Berlin", die vom 25. September bis zum 10. Oktober 1926 in drei Ausstellungshallen am Kaiserdamm veranstaltet wird. Als verantwortlich zeichnen unter anderem der preußische Minister des Innern Severing, Regierungsrat von Treskow und Staatssekretär Wilhelm Abegg. Auf 22.000 Quadratmetern kann die Leistungsschau eine halbe Million Besucher aus dem In- und Ausland verzeichnen. Geworben wird mit Slogans wie "Treten Sie näher" und "Die Polizei, dein Freund und Helfer Alle Bereiche der Polizeiarbeit werden anschaulich präsentiert. Außerdem gibt es Sportveranstaltungen, Vorträge und Filmvorführungen. Einer der Publikumsmagneten ist eine schlichte Vitrine, die Beutestücke aus den Diebstählen des zu einiger Berühmtheit gelangten Fassadenkletterers Fritz W. zeigt. O-Ton Fritz W. Ich bin eine ausgesprochene Abenteurernatur und nur dann, wenn mir der gleichwertige Ersatz für das Interessante meines Berufs geboten worden wäre, hätte ich umgesattelt. Ich bin auf meine Erfolge nicht weniger stolz wie jeder andere Mensch, dessen Ehrgeiz es ist, Außergewöhnliches auf der Welt zu leisten. Sprecherin Einige Nebenveranstaltungen sind Fachleuten und Regierungsvertretern vorbehalten: die "Allgemeine Polizeikonferenz", der "Internationale Polizeikongress" und die "Vierte Preußische Polizeiwoche". Hier werden Fachvorträge zu kriminalistischen Themen gehört. Eines der auf dem Polizeikongress angekündigten Referate heißt "Über Schallanalyse". Referent ist der angesehene Leipziger Germanistikprofessor Geheimrat Eduard Sievers. O-Ton Meyer-Kalkus Eduard Sievers, Phonetiker, Spezialist mittelalterlicher Literatur, hielt vor einer Versammlung von Kriminalisten einen Vortrag, der starke Beachtung fand. Seine Idee war, dass Erpresserschreiben schallanalytisch im Hinblick auf die Stimmen und darüber hinaus, andere körperliche Eigenschaften der Schreiber zu untersuchen seien. Sievers nahm diese Schreiben, rezitierte sie wiederholt, versuchte den Stimmtyp zu identifizieren, Rückschlüsse auf das Alter, auf regionale Herkunft, auf Ideolekte, darüber hinaus aber auch auf körperliche Eigenschaften bis hin zur Körpergröße, Breitschultrigkeit, Bewegungsformen, Gangart, hängende Schultern und dergleichen zu treffen. Es gibt Schreiben eines Polizeipräsidenten, der sagt: "Ihre Beschreibung hat wunderbar zugetroffen. Ihr Gutachten war ein Baustein, der uns für unsere Tatermittlung tatsächlich gefehlt hat." Sprecherin Reinhart Meyer-Kalkus, Wissenschaftlicher Koordinator am Wissenschaftskolleg Berlin und Professor für Germanistik an der Universität Potsdam. Musik Zitator Du bist erkannt im tiefsten Grunde. Dein Angesicht hat dich verraten und gibt dem Kenner sichere Kunde von deines Herzens dunklen Pfaden. Du magst dich winden oder drehen, erkannt sind die geheimsten Lüste, dein Angesicht ist so besehen nur eine einzig Vorstrafliste. Sprecherin Ein anderer Vortrag, diesmal im Rahmen der "Vierten Preußischen Polizeiwoche" wird von Professor Wilhelm Doegen gehalten. Rund fünf Monate zuvor, Ende April 1926, hatte ihn der technisch interessierte Staatssekretär Wilhelm Abegg angerufen. Von diesem Anruf berichtet Doegen am Tag darauf in einem Brief an Oberregierungsrat von Treskow, der bei der geplanten Polizeiausstellung im Herbst als Ausstellungskommissar fungieren soll. Den Stimmaufnahmen von Strafgefangenen, so Doegen, stehe laut Dr. Abegg nichts mehr im Wege. Das Unternehmen finde sowohl von Seiten des Ministeriums des Innern wie vom Justizministerium alle Unterstützung. Da die Zeit bis zur Großen Polizeiausstellung im Herbst knapp ist, bittet Doegen ergebenst um zügige Bereitstellung von 3000 Mark, die für die Aufnahmen notwendig seien. Ebenso rasch wolle er mit den Vorbereitungen beginnen. Zitator Mit vorzüglicher Hochachtung Professor Wilhelm Doegen Sprecherin Im Oktober 1926 schließlich steht Doegen vor einer Versammlung von kriminalistischen Fachleuten, referiert über: "Stimmportraits im Dienste der Polizei" und präsentiert dabei einige seiner im Sommer gemachten Sprachaufnahmen von Straftätern. O-Ton Georg L. Wo gehst du hin? Sollen wir mit dir gehen? Sprecherin Wer ist dieser Professor Doegen, den Wilhelm Abegg mit solch sensiblen Aufnahmen betraut hat? 1877 in Berlin geboren, studiert Doegen zunächst Ökonomie, dann Anglistik. Er erwirbt sich weitreichende Kenntnisse in der in Deutschland noch recht unbekannten phonetischen Lautschrift, erkennt früh die Möglichkeiten des neuen Mediums Schellackplatte und setzt sie als erster überhaupt ab 1909 für den Sprachenunterricht ein. O-Ton Sprachlernplatte Englisch, Französisch Sprecherin Doegens Sprachlernplatten verkaufen sich so gut, dass er ... O-Ton Jürgen Mahrenholz ... 1914 einen Antrag formuliert, in dem es darum ging, eine Lautabteilung zu etablieren. Diesem Antrag zufolge sollte Folgendes gesammelt werden: Erstens sämtliche Sprachen der Welt, dann sämtliche Musik der Welt, Stimmen von bekannten Personen, deutsche Mundarten und Verschiedenes. Ich denke, diese Straftäteraufnahmen würden eher in diese Rubrik Verschiedenes kommen. Sprecherin Jürgen Mahrenholz, Kustos des Lautarchivs an der Berliner Humboldt-Universität. Der neuen "Königlich Preußischen Phonographischen Kommission" gehören über dreißig namhafte Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen an. Vorsitzender ist der Psychologe und Musikwissenschaftler Carl Stumpf; Doegen trägt die Verantwortung für die praktische und organisatorische Durchführung der Aufnahmen. Ab 1915 reist er durch 70 Kriegsgefangenenlager und erstellt 1650 Lautplatten, vorwiegend mit Sprachen und Dialekten, die er alle in die phonetische Lautschrift überträgt. Auf Doegens Betreiben hin wird im Jahr 1920 unter seiner Leitung die Lautabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek gegründet. Ihr arbeiten etwa 100 Fachleute zu. In den folgenden Jahren widmet sich Doegen verstärkt der Dokumentation deutscher Mundarten. O-Ton Cyril R. Hättest du ihn gekannt, dann wäre es anders gekommen und es täte besser um ihn stehen. Sprecherin Anzunehmen ist, dass Wilhelm Doegen mit den Aufnahmen in den Strafanstalten beauftragt wird, weil er ein unbestrittener Fachmann für Schallaufzeichnungen ist. Er besitzt die nötige Ausrüstung und kann auf ein eingespieltes Team zurückgreifen. Nicht zuletzt, so Reinhart Meyer-Kalkus, hat der umtriebige Geschäftsmann Doegen aber auch einfach gute Beziehungen. O-Ton Meyer-Kalkus Doegen hatte hier in Berlin ein ganz weit reichendes Network. Seit dem Ersten Weltkrieg war er in Verbindung mit dem Kultusministerium, mit verschiedenen anderen Ministerien. Und ihm wird es nicht an überzeugenden Argumenten gefehlt haben, um dem Polizeipräsidenten zu sagen: "Hier machen wir Grundlagenforschung, auch für die Kriminologie. Wir werden Ihnen beweisen, dass wir der Stimme bestimmte Eigenschaften entnehmen können, die auf kriminalistisches Verhalten verweisen oder zumindest: Wir werden Ihnen deutlich nachweisen können, wo Verbrecher lügen, wenn sie sprechen, wo sie fingieren, wo sie unsicher sind." Sprecherin Leider ist Doegens auf der Polizeiwoche gehaltener Vortrag "Stimmporträts im Dienste der Polizei" unauffindbar geblieben. Doch geben Notizen auf den Personalbögen der Straftäter, Zeitungsartikel, Briefe und Protokolle Auskunft über Doegens Vorgehen sowie den ungefähren Inhalt seines eineinhalbstündigen Referats. Auf den Personalbögen ist vermerkt, dass die Straftäter von immer demselben Justizrat sowie im Fall der Strafanstalt Brandenburg auch von dem dortigen Direktor vorgeschlagen werden. Zunächst müssen die Strafgefangenen schriftlich ihre Erlaubnis erteilen. Zitator Ich bin damit einverstanden, dass mein Stimmporträt, mein Handabdruck und mein Lichtbild zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet wird. O-Ton Mahrenholz Die Bereitschaft zu solchen Aufnahmen ist, denke ich, relativ vielschichtig. Vielleicht war der eine oder andere der Meinung, er hätte was zu sagen oder möchte auf diesem Weg der Nachwelt etwas hinterlassen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass der Alltag in einer Strafanstalt auch sehr öde ist und der eine oder andere einfach nur mal einen anderen Gesprächspartner vor Augen haben wollte und sich dann die Mühe gemacht hat, den Text, den er in den Trichter hineinsprechen sollte, vorher aufzuschreiben. Sprecherin Jürgen Mahrenholz. - Die Gefangenen sind Arbeiter, Handwerker, Kaufleute, auch ein Journalist ist darunter. Ihre Schulbildung reicht von Volksschule ohne Abschluss bis hin zu Abitur. Der Älteste ist Mitte fünfzig, der Jüngste Anfang 20. Einige erzählen fast heiter von ihren Straftaten als "Abenteuer". Manche ergehen sich in Selbstanklagen, andere schieben alles ihren saufenden und prügelnden Vätern oder falschen Freunden in die Schuhe. Wieder andere schauen zuversichtlich in die Zukunft. O-Ton Georg L. Ich habe eine gute und hübsche Frau und drei Kinder. Mein Großvater ist nach Ostindien gemacht und hat einem großen indischen Fürsten das Leben gerettet. Auf Jagd hat er einen lebendigen Löwen totgeschlagen und hat der Fürst meinem Großvater seine Tochter als Frau gegeben. Nun ist er ein reicher Mann geworden und hat mit Zinsen nach seinem Tode zweihundert Millionen hinterlassen. Und die soll ich jetzt erben. Und somit bin ich der reichste deutsche Bürger von Deutschland. Ich hoffe, dass ich dann eine angesehene Person werde. Wer mir - - wer mir rauslässt, dem gebe ich von meinem Guthaben eine Million Rentenmark. Zitator Georg L., 43 Jahre, Dieb. Geboren in Naugard, Pommern, evangelisch, Volksschule. Beruf: Maurer. Sprachaufnahme am 13. Juli 1926 im Polizeizimmer der Stadtvoigtei, Berlin. Sprecherin Fotos zeigen die Situation der Tonaufnahmen in den Strafanstalten. O-Ton Mahrenholz Die Apparatur steht auf einem Gestell. Obenauf ist dann die eigentliche Schnittmaschine, die von einem Techniker bedient wird. In der Regel wurde einige Male geprobt, weil es zu dem Zeitpunkt wohl keinem geläufig war, in so einen Trichter hineinzusprechen. Man hat sich das auch wirklich als einen Trichter vorzustellen, das elektronische Mikrophon, so wie wir es heute kennen, wurde zu dem Zeitpunkt gerade entwickelt, es kam gerade frisch auf den Markt und wurde bis in die 30er Jahre hinein nicht vom Lautarchiv verwendet. Und dieser Trichter hat einfach einen kopfgroßen Ausschnitt gehabt und der Sprecher musste in ein schwarzes Loch hineinsprechen. Darüber gehalten wurde ihm dann meistens von Doegen der Text, den er ablesen sollte. Und Doegen legte meistens eine Hand auf den Rücken des Sprechers, damit der Abstand zu dem Trichter auch immer konstant bleibt. O-Ton Lied Hermann P. Wie oft hab ich in manchen trüben Stunden ... Sprecherin Nach den Aufnahmen hält Doegen auf mehreren der Personalbögen seine Beurteilung der jeweiligen Stimme fest. Zu "Hermann P., 38 Jahre alt, Straftat unbekannt. Geboren in Berlin, evangelisch. Beruf: Schlächter und Theaterarbeiter" vermerkt er: ... Zitator h-n und n-a mit weichem Einschlag. Sprecherin Zu Max S., 36 Jahre alt, Einbruch und Körperverletzung. Geboren in Minsk, Jude. Beruf Schlosser: Zitator Mittelhelle, zarte Stimme mit geringer Stimmkraft (lungenkrank) mit vibrierendem Einschlag. O-Ton Meyer-Kalkus Doegen glaubte sicherlich, dass man der Stimme gewisse Hinweise auf permanente Charaktereigentümlichkeiten entnehmen könne; aber die Erwartung, hier etwas zur Charakterologie von Verbrecherstimmen beizutragen, muss nicht sehr stark gewesen sein, das muss Doegen klar gewesen sein, dass sein Material dazu zu wenig hergibt. Sprecherin Doch ist dies auch der Polizei klar? Doegen - und auch Eduard Sievers - werden im Anschluss an ihre Vorträge von der "Freien Vereinigung für Polizeitechnik" nach Karlsruhe eingeladen, um ihre Referate über "Charakterologie und Identifikation", wie es in einer Ankündigung heißt, zu wiederholen. Dass Sprachaufnahmen der Identifikation, also der Wiedererkennung einer bestimmten Person dienen können, leuchtet ein. Inwiefern aber spielt die Charakterologie im Sinne einer Stimmphysiognomik in die kriminalistische Arbeit der Weimarer Republik hinein? Harold Selowski: ... O-Ton Selowski Auf der anderen Seite war man natürlich auch noch den geistigen Ideen des 19. Jahrhunderts verhaftet, wo man ja doch glaubte - Cesare Lombroso, der Begründer der Kriminologie lässt grüßen - dass vielleicht anhand phänotypischer Merkmale man auch auf Anomalien oder deviantes Verhalten schließen könnte und vielleicht also auch aus der Stimme bestimmte charakterliche Eigenschaften herausgefiltert werden können. Sprecherin Der italienische Psychologe, Psychiater und Kriminalanthropologe Cesare Lombroso ist keineswegs der "Erfinder" der Physiognomik. Diese Ausspähungskunst des Charakters eines Menschen anhand äußerlicher Merkmale wurde schon in der Antike entwickelt und ließ die Menschen seitdem nicht mehr los. Reinhart Meyer-Kalkus: ... O-Ton Meyer-Kalkus Im 18. Jahrhundert trat Lavater auf, der aus diesem Wissen eine Wissenschaft machen wollte. Der, aus der Linie zwischen Gehirn und Nase beispielsweise, Rückschlüsse vornehmen wollte. Lichtenberg, der Physiker aus Göttingen, hat abgestritten, dass es sich hier um eine Wissenschaft handelt, wenn er auch zugestanden hat, dass wir der Versuchung, vielleicht sogar der Nötigung, solche Rückschlüsse zu tun, im täglichen Leben gar nicht ausweichen können. Zitator Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik. Wider die Physiognomen. 1777. "Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie Taten getan haben, die den Galgen verdienen." Sprecherin Was Lichtenberg spöttisch auf die Spitze treibt, wird 100 Jahre später mit Cesare Lombrosos Theorien ins Ernsthafte gewendet und mit einem wissenschaftlichen Anstrich versehen. Vor allem seine im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erscheinenden Schriften "Genie und Wahnsinn" und "Der Verbrecher" machen Lombroso berühmt. Sein Hauptinteresse gilt der anthropologischen Beschreibung devianter, also von einer angenommenen Normalität abweichender Persönlichkeitstypen - dafür untersucht er rund 400 Schädel von Verbrechern, Geisteskranken, Revolutionären und Genies. O-Ton Otto L. Jedem Menschen ist bei der Geburt sein Lebensweg vorgeschrieben, vielleicht war ich dazu prädestiniert, diese schwere Tat zu begehen, wodurch ich zum Mörder wurde. Fatum? Kismet? Zitator Otto L., 31 Jahre alt, wegen Mordes zum Tode verurteilt, gegen seinen Willen begnadigt. Geboren in Minden/Westfalen, evangelisch, Mittelschule. Beruf: Kaufmann. Sprachaufnahme am 14. Juli 1926 im Zellengefängnis Moabit. Sprecherin Lombroso glaubt, immer wieder dieselben Anomalien zu entdecken: massige Kiefer, eine fliehende Stirn und angewachsene Ohrläppchen. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hält sich die Vorstellung einer "Verbrecherphysiognomie" hartnäckig, sowohl in der Wissenschaft, als auch in der Bevölkerung. O-Ton Meyer-Kalkus Physiognomik verbindet sich mit der Erwartung einer Wissenschaft des Individuums, also dessen, was eigentlich den wissenschaftlichen Kategorisierungen sich entzieht. Dieses Interesse steht nun freilich im Zusammenhang mit Charakterologien, mit Typologien, mit Rassenforschungen, um, seien es Individuen, ganze Kulturen, soziale Gruppen, ethnische Gruppen zu charakterisieren im Hinblick auf ihre konstanten Eigenschaften. Wissenschaftliche Ambitionen, denen wir heute äußerst skeptisch gegenüberstehen, sind sie doch zum guten Teil aufgesogen worden von Rassenlehren und Charakterologien, die konstitutiv für die nationalsozialistische Ideologie geworden sind. Sprecherin Bereits 1921 erscheint das Werk "Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene? von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz, in dem erbliche Charakterunterschiede zwischen "Germanen" und Juden festgestellt werden. Und wie die Rasse sei auch das Verbrechen vererbbar. Bereits kurz nach seinem Erscheinen avanciert das Buch für mehr als zwanzig Jahre in Deutschland wie auch im Ausland zum Standardwerk. Adolf Hitler soll es 1923 während seiner neunmonatigen Festungshaft in Landsberg zu den rassenhygienischen Passagen in "Mein Kampf? inspiriert haben, dessen erster Band im Jahr darauf erscheint. Musik Dreigroschenmusik Sprecherin Auch die Stimmphysiognomik - ein Begriff, den bereits Lichtenberg im 18. Jahrhundert geprägt hat - fördert die Hoffnung, den Menschen objektiv "lesbar" zu machen. Grundlage dafür ist die Phonetik, also die Wissenschaft über die gesprochene Sprache in all ihren Ausformungen. Zwischen 1880 und 1914 erlebt diese einen Aufschwung, befördert durch die neuen Aufzeichnungsmöglichkeiten mittels Edison-Phonograph und Schnittmaschine. Man untersucht die Stimme und ihre Erkrankungen, aber auch Melodik, Rhythmik und Tonfall von Sprache sowie ihre emotionale Ausdruckskraft. Nicht verwunderlich also, dass Staatsarchivar Dr. Petrikovits von der Polizeidirektion Wien im Jahr 1926 für den Katalog der "Großen Polizeiausstellung Berlin" schreibt: Zitator In seinen allgemeinen Zügen drückt sich das Seelenleben einer bestimmten Gruppe aber nur in der Sprache aus. Bei den Worten der "Gaunersprache" - wie bei jedem Wort überhaupt - schwingen Empfindungs- und Wertgefühle sowie eine bestimme Willensrichtung stets mit. So tritt denn besonders in seiner Sprache das Seelenbild des Gauners klar zu Tage. Sprecherin Natürlich hat auch die moderne sozialdemokratische Berliner Polizeiführung der 1920er Jahre Lombrosos Vorstellung vom "geborenen Verbrecher" gekannt. Auch für den, der dieser Theorie nicht folgt, klingt sie zweifellos verführerisch. Welche Vereinfachung der Polizeiarbeit wäre es, den Charakter eines Menschen und seine Neigung zum "Verbrechertum" an seinem Gesicht, an seiner Körperhaltung oder an seiner Stimme ablesen zu können! So sind mit den Stimmaufnahmen der Straftäter anfangs wahrscheinlich zwei Hoffnungen verbunden: den einzelnen Täter klar zu identifizieren, zugleich aber auch durch seine Sprechweise und seine Wortwahl Auskunft über seinen Charakter zu erhalten. Diese Hoffnungen lassen sich die Ministerien des Innern und der Justiz einiges kosten. Allerdings wird der Versuch weder wiederholt noch ausgeweitet. Über die Gründe lässt sich nur mutmaßen: fehlende Gelder, ein zu hoher Aufwand oder einfach die Erkenntnis, dass dieser Weg eine Sackgasse ist. O-Ton Willy B. Ein Mensch mag in seinem Unverstande, fern in den Engpässen einer Wildnis eine böse Tat begehen, es hilft nichts, die Sandkörner sehen ihn! - sagt Emerson. O, du armer und gequälter Mensch, fasse darum ein Herz, wenn du eine gesetzeswidrige Tat begangen hast, nimm deine Strafe auf dich und umso leichter wird es dir möglich sein, nach Verbüßung derselben wieder ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Zitator Willy B., 35 Jahre, Straftat unbekannt. Geboren in Berlin, katholisch, Realschule. Beruf: Kaufmann. Sprachaufnahme am 19. Juli 1926 im Kasino der Strafanstalt Plötzensee, Berlin. Sprecherin Auch von Seiten der Lautabteilung werden Zweifel am Sinn der Unternehmung angemeldet. Im Sitzungsprotokoll des Jahres 1926 wird die Anfrage vermerkt, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Aufnahmen mit den Straftätern erwachsen seien. Als Doegen dies unbeantwortet lässt wird beantragt, einen Fachmann hinzuziehen, um den offenen Sachverhalt zu klären. Doegen stimmt dem Antrag zu. In den Protokollen der folgenden Jahre findet sich allerdings kein weiterer Hinweis auf eine solche Untersuchung. O-Ton Meyer-Kalkus Eine der wirklichen wissenschaftlichen Fortführungen der Stimmphysiognomik findet sich bei Karl Bühler in den Zwanziger Jahren, anfang der Dreißiger Jahren. Karl Bühler macht in Wien um 1928/29 stimmphysiognomische Radioversuche. Er verteilt also an die Radiohörer in Wien einen Fragebogen, den sie ausfüllen sollen im Hinblick auf acht verschiedene Sprecher, die jeweils ein Gedicht von Schiller rezitieren. Die Frage von Alter und Geschlecht wird zu über 90 Prozent korrekt beantwortet. Im Hinblick auf soziale Situation und Beruf gibt es auch einen erstaunlich hohen, bis zu 60 Prozent reichenden Quotienten. Im Hinblick auf das Charakterliche wird der Fehlerquotient dann immer höher. Bühler ist überrascht, dass einige Hörer sogar die Farbe der Krawatte von einigen Sprechern richtig erraten können oder die Augenfarben. Zufallstreffer oder tatsächlich objektive Korrelationen? Musik - Dreigroschenmusik ("Der Mensch lebt durch den Kopf, der Kopf reicht ihm nicht aus.") Sprecherin Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten müssen die beiden Sozialdemokraten Staatssekretär Wilhelm Abegg und der ehemalige Berliner Polizeipräsident und preußische Innenminister Albert Grzesinski 1933 emigrieren. Professor Wilhelm Doegen wurde bereits im Juli 1930 suspendiert, angeblich wegen Veruntreuung von Haushaltsgeldern. Ab Oktober 1931 kann er zwar wieder wissenschaftlich arbeiten, die Verwaltung der Lautabteilung wird jedoch der Universität unterstellt. Eine seiner letzten Sprachaufnahmen ist 1932 eine Prophezeiung des berühmten Hellsehers, vielleicht aber auch genialen Betrügers Hanussen. O-Ton Hanussen Die letzten Jahre bedeuteten den Niedergang der Kultur, trotzdem sie ein Aufschwung der Technik waren. Vielleicht wird es jetzt gerade anders werden. Ich glaube, dass sich die Menschen in vielen Dingen wieder dem Primitiven nähern werden; dass die Sehnsucht, die in Jedem von uns lebt, Mensch zu sein und nicht Maschine, sich erfüllen wird. Das wird sich auch politisch auswirken. Speziell in Deutschland sind wir, das glaube ich frohen Herzens sagen zu dürfen, am Ende der furchtbarsten Kriege angelangt, die je ein großes, freies und fleißiges Volk erschüttert hat. Sprecherin Und was wird aus den 24 Strafgefangenen, deren Stimmen sich bis heute erhalten haben? Nur wenige Spuren lassen sich verfolgen. O-Ton Fritz H. Veranlasst durch meine zwanzigjährige Internierung und aus Verzweiflung über das kein Ende finden derselben, benutze ich diese mir bietende Gelegenheit, um aus dem Totenhaus einen Hilfeschrei in die Welt gelangen zu lassen. Seit dem Jahr 1906 bis heute ununterbrochen interniert, bin ich jetzt ein kranker Mann, dazu noch ein bitterlich enttäuschter, ein Mann, dem die Welt arg mitgespielt hat und der sich vielleicht auch selbst übel mitspielte. Zitator Fritz H., 48 Jahre alt, Dieb. Geboren in Leipzig, evangelisch, Bürgerschule. Beruf: Graveur. Sprachaufnahme am 14. Juli 1926 im Lehrerzimmer des Zellengefängnisses Moabit. Sprecherin Zwei Jahre später schreibt derselbe Fritz einen Brief an Wilhelm Doegen. Er gibt seinen Beruf nun mit "Bildhauer" an und erinnert den Herrn Professor an ihre Bekanntschaft aus dem Zellengefängnis. Er sei auf freiem Fuß, aber verarmt, halb verhungert und krank und habe ein Romanmanuskript geschrieben. Ob der Herr Professor hierfür nicht einen Verleger finden könne? Doegen lässt seine Sekretärin antworten, dass er bedaure, in dieser Hinsicht nichts tun zu können und schickt das Manuskript zurück. Danach verliert sich Fritz H.s Spur in den Berliner Archiven. Der andere Fritz, der notorische Fassadenkletterer, erlangt hingegen einige Bekanntheit. Als "Gentleman-Einbrecher" geistert er durch Gazetten und Bücher der 20er Jahre. O-Ton Fritz W. Ich habe nur sehr reiche Leute bestohlen und habe mich vorher über die Vermögensverhältnisse genau unterrichtet. Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass das Motiv meiner Taten keinesfalls Habgier gewesen ist, denn ich habe für mich selbst, im Verhältnis zum Erlös, sehr wenig Geld verbraucht. Sprecherin Wie stark physiognomische Urteile bereits in den Köpfen verankert sind, zeigt der Artikel, den der jüdische Journalist Paul Felix Schlesinger über Fritz W. schreibt. Schlesinger, genannt Sling, notiert in der Vossischen Zeitung: Zitator Dieser ausgezeichnete Einbrecher hat nach seiner eigenen Erinnerung etwa 55 Einbrüche ausgeführt. Er hat Werte von zwei Millionen Mark erbeutet, und er hat dafür 42.000 Mark gelöst. Ein kleiner, schmaler Bursche. Das glatt zurückgestrichene Haar lässt nicht viel Stirn sehen, zeichnet aber die Konturen des hochgewölbten Schädels schwungvoll nach. Das glatt rasierte Gesicht ist eher jünglingshaft. Die ausgesprochen diebische Nase springt kühn und spitz hervor, der Mund versteht zu lächeln, die Augen sind verschlagen, listig, klug und kühn. Man glaubt ihm, der sich sprachlich fehlerlos, gewandt und mit einer gewissen Beredsamkeit ausdrückt, dass er aus bürgerlichen Kreisen stammt. O-Ton Meyer-Kalkus "Wir urteilen stündlich nach der Stimme und wir irren stündlich nach der Stimme." Wie das Lichtenberg schon im 18. Jahrhundert deutlich gesagt hat. Stimmphysiognomik als Wissenschaft? Nein, der Traum ist ausgeträumt und so ist es auch interessant zu sehen, dass die Stimmphysiognomiker, vor allen Dingen die Schüler im Umkreis der Leipziger Schallanalyse allesamt gewissermaßen vom Nationalsozialismus aufgesogen werden, dass aber die eigentliche Stimmphysiognomie als wissenschaftliches Thema um 1930 erledigt ist. Es gibt natürlich objektivierbare Bestandteile, im Hinblick auf Alter, auf Geschlecht, auch auf Krankheit, Befindlichkeiten. Aber alle Urteile, die darüber hinausgehen, und die wir gar nicht hindern können, dass wir sie treffen, all diese Urteile sind natürlich extrem täuschungsanfällig und haben häufig viel mehr mit uns selber zu tun, als mit den Personen, über die wir urteilen. O-Ton Lied Max M. In der Welt und allen Landen, gibt es Räuberbanden ... Musik - Dreigroschenmusik O-Ton Gustav V. Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe. - Sprecherin Stimmphysiognomik und Verbrecherjagd in der Weimarer Republik. Ein Feature von Sabine Weber Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks, 2007 Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff und Ulrich Lipka Ton und Technik: Alexander Brennecke Regie: Wolfgang Rindfleisch Musikende Redaktion: Marcus Heumann 23