COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62100 Organisationseinheit: 46 Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Die revolutionäre Kraft des Netzes Facebook, Twitter und Co- Wie politisch sind die neuesten Medien? Autor : Christian Grasse und Vera Linß Redakteur : Jana Wuttke Sendung : 21. April 2011 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Atmo 1 Proteste in Kairo 0´08 Sprecher 2 Kairo am 25. Januar 2011. Zehntausende Demonstranten strömen auf den Tahir-Platz, Tausende gehen in anderen Städten Ägyptens auf die Straße. Sie protestieren gegen Präsident Husni Mubarak, für Freiheit und Demokratie. Ausgelöst hatte die Demonstrationen u. a. die Facebook-Gruppe "We are all Khaled Said", benannt nach dem 28jährigen Blogger, der im Juni 2010 von Polizisten zu Tode geprügelt worden war. Sprecher 1: Innerhalb kurzer Zeit war es der Facebook-Gruppe "We are all Khaled Said" gelungen, im Internet zehntausende User um sich zu versammeln. Für den 25. Januar, einen Feiertag, ruft die Gruppe zu Demonstrationen auf. Sprecher 2 Es ist der Beginn der ägyptischen Revolution. Atmo 2 Proteste in Kairo Sprecher 1: Für viele Internetaktvisiten und Theoretiker ist dies ein weiteres Indiz für die These: Revolutionen und Aufruhr der jüngeren Zeit sind dem Internet zuzuschreiben. Das omnipräsente Medium liefert Informationen aus allen Teilen der Gesellschaft. Es erlaubt es, sich auszutauschen und Protest zu organisieren. "Facebook-Revolution" ist der Begriff, der das Phänomen auf den Punkt bringen soll. Doch wie viel seiner revolutionären Kraft kann das Internet tatsächlich in die reale Welt transportieren? Die Argumente, Theorien und Zuschreibungen bewegen sich zwischen Cyberutopie und Netz-Pessimismus. O-Ton 1 Apolte "Der Begriff "Facebook-Revolution" ist natürlich ein Schlagwort gewesen, der mehr versprochen hat am Ende, als er wirklich künftig auch einhalten wird." Sprecher 2: ...sagt Thomas Apolte, Professor für Wirtschaftspolitik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sprecher 1 Das sieht der Aktivist Wael Ghonim anders. Für ihn spielte Facebook eine zentrale Rolle bei der Revolution. Als Initiator der Facebook-Gruppe "We are all Khaled Said" war er Zeuge, wie aus Protest im Netz eine handfeste Revolution wurde. Ohne das Internet wären die Umbrüche in seinem Land nicht passiert, erklärte Ghonim am Tag des Rücktritts von Präsident Husni Mubarak. O-Ton 2 Wael Ghonim "This revolution started online... Overvoice-Sprecher: Diese Revolution hat im Netz begonnen, sie hat mit Facebook begonnen. Ich habe schon immer gesagt: Wenn du eine Gesellschaft befreien willst, gib ihr einfach das Internet. ... just give them the Internet." Sprecher 1: Auch die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni kann sich die Revolution in ihrem Land ohne das Netz nur schwer vorstellen. Seit 2007 bloggt sie über die politische Situation in Tunesien. Sie berichtete über Repression und Zensur des Ben Ali Regimes. O-Ton 3 Lina Ben Mhenni (OV) "I think if internet wasn't there..." Overvoice-Sprecherin: Ich denke, wenn das Internet nicht gewesen wäre, hätte die Revolution nicht gesiegt oder es hätte viel länger gedauert." "...a longer time to succeed." Sprecher 2 Zehntausende Tunesier schlossen sich im Netz zusammen. Viele der Facebook-Gruppen hatten während der Revolution mehr als 20000 Mitglieder. Die beliebtesten Protestseiten bei Facebook wurden sogar von über 100000 Menschen unterstützt. Auch wenn viele Befürworter aus dem Ausland kamen: Im tunesischen und ägyptischen Netz haben sich hunderttausende Menschen ausgetauscht und für revolutionäre Aktionen verabredet. Auf die Frage "Geht ihr am 25. Januar demonstrieren?" antworteten auf Facebook innerhalb weniger Tage 90.000 Ägypter mit Ja. Die Rolle des Online-Netzwerkes für den Sturz des Regimes so stark hervorzuheben, sei jedoch unangemessen, betont der Verfassungsrechtler und Internetvordenker Lawrence Lessig. O-Ton 4 Lessig: "Well, I don't think it's fair to single out Facebook..." Overvoice-Sprecher: Ich denke nicht, dass es fair ist, Facebook herauszustellen. Und ich denke nicht, dass es fair ist, zu sagen, das Internet hätte die Revolution hervorgerufen. Aber ich denke, es ist fair zu sagen, dass das Internet diese revolutionären Bewegungen befeuert hat." ... The Internet fueled these revolutionary movements." Sprecher 1: Die Qualität des Netzes sieht Lessig besonders darin, Wahrheiten ans Licht zu bringen, die in autoritären Regimen verschleiert und manipuliert werden. Vor allem Wikileaks verkörpere diesen neuen Zugang zur Wahrheit. Auch Julian Assange glaubt: DER zentrale Auslöser für die revolutionären Umbrüche in Tunesien und Ägypten seien Wikileaks und die weltweit vernetzte Kommunikation. Gleich eine ganze Generation sei politisiert worden. O-Ton 5 Assange "As a result of our work and as a result of the communications through the internet..." Overvoice-Sprecher: Durch unsere Arbeit und durch die Kommunikationskanäle im Internet haben sich tatsächlich Mechanismen ergeben, mit denen junge Menschen Politik verändern können. Und damit meine ich nicht Parteien-Politik, sondern die Umverteilung von Macht. ... I mean to effect the dustribution of power." Sprecher 1: Assange sieht sich und sein Enthüllungsnetzwerk gern in der Rolle des Revolutions-Antreibers. Die von Wikileaks veröffentlichten US-Depeschen über die arabische Region hätten die Proteste angefeuert, so der Wikileaksgründer. Die Dokumente zeigten, dass im Falle eines Konfliktes zwischen Regime und Armee, die USA das Militär unterstützen würde. Erst dieses Signal hätte Aktivisten in Tunesien und Ägypten das notwendige Selbstbewusstsein gegeben, die Proteste auf die Straße zu bringen, argumentiert Assange. Sprecher 2 Auch im Iran wurden die Unruhen im Jahr 2009 dem Netz zugeschrieben. Damals war die Rede von der Twitter-Revolution. Dieses Positiv-Bild des Netzes kann Evgeny Morozow nur schwer nachvollziehen. Für den weißrussischen Medienwissenschaftler wird das Verhältnis von Netz und Revolution überschätzt. Er war einer der ersten, der gegen die revolutionäre Kraft des Netzes argumentierte. Seine kritische Haltung hat er bis heute beibehalten. O-Ton 6 Morozow "It was a very popular view in the 90ies..." Overvoice-Sprecher: Das war in den 90ern sehr populär zu sagen: Das Internet zerstört alle Grenzen, bringt Demokratie und unterstützt die Globalisierung. Aber das hat sich nicht erfüllt. Wir schreiben dem Internet Qualitäten zu, die es nicht hat. ... what it didn't have" Sprecher 1: Welche Qualitäten aber hat das Netz nun tatsächlich eingebracht in die Umwälzungen in der arabischen Welt? Noch fehlt es an belastbaren Daten und Analysen, die den Einfluss des Netzes auf Politik messbar machen. Was bisher über die Wirkung des Internets bekannt ist, basiert vor allem auf einer Ansammlung von Erfahrungen, Beobachtungen und Geschichten. Atmo 3 Proteste in Kairo Sprecher 2: Die Infrastruktur des Internets ist in Ägypten gut entwickelt. Um Investoren anzulocken, stand für Husni Mubarak Ende der 90er die Schaffung einer "ägyptischen Informationsautobahn" auf der Prioritätenliste. Das Regime ermöglichte sogar allen Ägyptern einen kostenfreien Zugang ins Netz, Internetcafés sind seitdem weit verbreitet. Anders als die klassischen Medien, die vom Regime zensiert wurden, gab es im Internet von Beginn an Redefreiheit. Sprecher 2: So entwickelte sich ein Netzwerk von Bloggern, das die Machenschaften des Regimes nach und nach aufdeckte und damit den Grundstein für die spätere Revolution gelegt hat, sagt der Journalist und Medienwissenschaftler Zahi Alawi: O-Ton 7 Zahi Alawi "Diese Revolution basiert auf einem langen Prozess. 2005 kamen die meisten Blogger aus Ägypten und sie haben angefangen, die Regierung zu kritisieren, Gesetze zu kritisieren und was gegen die Regierung zu unternehmen. Es hat Jahre gedauert bis die Leute in der Lage waren, diese Demonstrationen gegen die Regierung so präsent, so aktiv und so stark zu mobilisieren, zu organisieren, dass sie letztendlich auch zum Sturz von Ben Ali und Mubarak geführt haben." Sprecher 1: Ein Netzwerk von engagierten, politischen Bloggern und Reportern entwickelte sich schon Jahre vor der Revolution. Die so entstandenen Onlinemedien boten eine alternative Berichterstattung, fernab von staatlich diktierten Inhalten. Dadurch etablierte sich eine digitale Gegenöffentlichkeit, von deren Erfahrungen und Enthüllungen die später aufkeimende Protest-Bewegung profitierte. Diesen Eindruck bestätigt auch die ägyptische Journalistin Noha Atef. Sie beobachtet die arabische Bloggerszene und berichtete selbst über Missstände in ihrem Land. O-Ton 8 Noha Atef "The Internet was used for many purposes during the revolution..." Overvoice-Sprecherin "Das Internet wurde auf verschiedenste Weise genutzt während der Revolution. Am wichtigsten war es natürlich, Neuigkeiten zu verbreiten. Über Korruption und staatliche Gewalt zum Beispiel. Außerdem gab es schon seit Beginn der Demonstrationen 2008 immer wieder Berichte von den Protesten, welche Fortschritte der Widerstand gegen das Regime gemacht hat und so weiter. Das hat viele Menschen motiviert, sich auch zu engagieren. So entstand nach und nach eine Bewegung." "And this connection, of course, has an impact on building a movement... " Sprecher 1: Wer seine Internetverbindung verschlüsselt und auf Klarnamen verzichtet, kann sich im Netz weitgehend anonym bewegen. Auch die große Masse der Onlineunterstützer vermittelt eine gewisse Sicherheit. Zumindest das Gefühl von Sicherheit. Auch wenn der Protest anfänglich nur im Netz stattfindet, kann er sich in der realen Welt fortsetzen, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Apolte. O-Ton 10 Apolte "Über das Internet kann man das hinbekommen, eine Aktion, wo dann von vornherein sehr viele Menschen mit einem Schlag auftauchen, zu koordinieren, zusammenkommen zu lassen und dazu kann das Internet eine große Hilfe sein, weil es solche Schwellenwerte gibt, ab denen dann das Risiko, das man eingeht, wenn man sich auch noch dazugesellt, nur noch sehr gering ist. Dafür kann das Dienste leisten, soviel, das ist erheblich, aber mehr ist es auch nicht. " Sprecher 1: Menschen, die die Aufstände im arabischen Raum erlebten und mitorganisierten, haben diese theoretisch beschriebenen Schwellenwerte der Beteiligung ganz persönlich erfahren. Die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni wurde jahrelang von der Polizei beobachtet und drangsaliert. Es wurde alles getan, um die Furcht vor dem System zu schüren. O-Ton 11 Lina Ben Mhenni "Last year with to other bloggers..." Overvoice-Sprecherin: "Im vergangenen Jahr habe ich zusammen mit zwei anderen Bloggern eine Demonstration gegen Zensur organisiert. Es ist uns gelungen, zum ersten Mal die Barrieren der Angst zu überwinden. Über das Internet konnten wir die Leute dazu bringen, auf die Straße zu gehen. Das war das erste Mal, dass so etwas in Tunesien passiert ist." "...first time it happened in Tunesia." Sprecher 2: Die Verwendung von Online-Technologien könnte demnach zu einer Stärkung der Protestkultur führen. Denn die Mittel zur Herstellung und Veröffentlichung von Inhalten sind weltweit verbreitet. Gleichzeitig sinken die Kosten für die Bereitstellung der digitalen Technik und Infrastruktur. Der Internetvordenker und Juraprofessor Lawrence Lessig thematisiert bereits seit Jahren die demokratisierende Kraft der digitalen Technologie. Davon sind nicht der Journalismus und die Musik- und Filmindustrie beeinflusst, sondern auch zunehmend die Politik. O-Ton 13 Lawrence Lessig "The Internet made it practical to widely spread communication of events..." Overvoice-Sprecher: "Das Netz hat es einfacher gemacht, darüber Informationen zu verbreiten, wie die Verhältnisse sich ändern sollten. Diese Informationen konnten von den Regierungen nicht blockiert werden. Und es wurde möglich, Menschen zu organisieren auf eine Weise, wie das vor den Zeiten des Internets nahezu unmöglich war. Diese beiden Aspekte, die hier zusammenkommen, muss man betrachten, wenn man diese Revolutionen im Mittleren Osten verstehen will." "..that is significant how this revolution has happened in the middle east." Sprecher 1: Das Internet hat für die Revolutionen in Ägypten und Tunesien eine Rolle gespielt. Doch wie ausschlaggebend war das Netz tatsächlich? Schließlich fanden bereits vor dem digitalen Zeitalter Revolutionen statt. Und umgekehrt gibt es Regime, in denen die Menschen unzufrieden sind und das Internet hoch entwickelt ist und in denen dennoch keine Proteste durchs Netz initiiert werden können. Atmo 4 Zusammenschnitt CNN/BBC/AlJazeera/Tagesschau Sprecher 1: Nachrichten, die uns über die Entwicklungen im Internet erreichen, sind aus Sicht der Revolutionäre nicht nur positiv. Denn auch Regierungen wissen die neuen Medien für sich zu nutzen. In Ländern wie Saudi-Arabien, Kasachstan, China, Russland und vielen anderen ist zwar die technische Infrastruktur gut entwickelt. Doch Internetzensur und offene oder verdeckte Attacken der Regierungen gegen Blogger schränken die Handlungsfreiheit im Netz empfindlich ein. Diese Entwicklung wird sich verschärfen, warnt der belorussische Medienwissenschaftler Ewgeni Morozow. Er geht davon aus, dass in der Zukunft viele Staaten dem russischen und chinesischen Modell folgen werden, um das Netz zu kontrollieren und demokratische Entwicklungen zu verhindern. O-Ton 15 Morozow "They try to have their own domestic champions..." Overvoice-Sprecher: "Sie versuchen, inländische Unternehmen zu etablieren und Ausländer zu vertreiben. Sei es mit Cyberattacken, wie es der Fall bei Google in China gewesen ist. Sei es, indem man die Steuern erhöht oder andere Tricks anwendet. Damit will man verhindern, dass ausländische Unternehmen wie Facebook oder Google sich in Ländern ausbreiten, wo sie genutzt werden könnten, um politischen Protest zu organisieren." "...for organizing political protest." Sprecher 2: Doch selbst, wenn solche Maßnahmen Internetaktivisten nicht abschrecken - eine Garantie dafür, dass aus dem Netz Proteste nach außen getragen werden, gibt es aus Sicht des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Apolte keinesfalls. Dafür seien die Voraussetzungen für die Entstehung von Widerstand viel zu komplex. O-Ton 16 Thomas Apolte "Damit es dazu kommt, dass Protestaktionen entstehen, muss natürlich zunächst mal eine gewisse Unzufriedenheit in der Bevölkerung bestehen mit der herrschenden Situation. Aber das ist bei Weitem nicht alles, weil es Länder gibt, die seit Jahren und Jahrzehnten mit Unterdrückungsregimen leben, die wesentlich schlimmer sind, als das Ägyptens, wo sich überhaupt nichts tut.. Vor allen Dingen muss dazu kommen, dass die Bevölkerung, die Menschen, die da protestieren, die Zukunft des Regimes, gegen das sie protestieren, als nicht sehr rosig einschätzen." Sprecher 1: Das Internet kann die Protestierenden dabei unterstützen und ihnen helfen, sich abzusprechen. Das Netz hilft also dabei, vorhandene gesellschaftliche Strömungen zu erkennen und zu kommunizieren. So werden anfänglich zaghafte Protestbewegungen im Netz aufgegriffen und durch Resonanzeffekte verstärkt. O-Ton 17 Thomas Apolte "Es geht hier um Ort und Zeit, es geht um die Zahl der Personen, die voraussichtlich daran teilnehmen könnten, das kann man auch im Internet sehen, und ganz zu Anfang geht´s auch darum, überhaupt erstmal zu erfahren, wie viele Menschen gibt es eigentlich, die erstens ähnlich wie ich eine gewisse Unzufriedenheit haben, 2tens, wie viele von denen hätten wohl das Bedürfnis, diese Unzufriedenheit mal offen zu artikulieren und drittens, wie viele hätten unter welchen Bedingungen dann auch den Mut, sich da zusammen zu finden. Und das sind Informationen, die man haben muss, die man aber nicht hat, wenn man kein Medium hat, indem alle diese Informationen zusammenlaufen." Sprecher 2: Weil viele Regime wissen, wie gefährlich das für sie sein kann, haben sie Vorsorge getroffen. Schließlich lehrt auch die Erfahrung von Tunesien und Ägypten: Wer das Netz nicht dirigiert, kann schnell die Macht verlieren. Als Musterbeispiel für eine - bislang sehr wirkungsvolle - Überwachung des Netzes gilt China. O-Ton 19 Thomas Apolte "Es hat ja die Ereignisse von 1989 gegeben und seitdem hat man das sehr systematisch betrieben, das Regime zu stabilisieren, weil man genau wusste, wo die Gefahr steckt. Und das hat man aus den verschiedensten Gründen in den arabischen Ländern glaube ich übersehen. Man kann tatsächlich ein Zeichen dafür sehen, dass mindestens bestimmte Regime dort erhebliche Schwächen aufweisen." Sprecher 1: Lässt sich daraus schließen, dass starke Diktaturen die revolutionäre Wirkung des Netzes "neutralisieren" können, indem sie kontinuierlich Gegenmittel einsetzen? Für Morozow ist das - mit Blick auf Russland zum Beispiel - bereits jetzt der Fall. O-Ton 20 Ewgeni Morozow "They are watching in real time..." Overvoice-Sprecher: "Sie können in Echtzeit beobachten, was passiert. Wenn man ein Land wie Russland nimmt, das riesig groß ist, da war es in der Vergangenheit schwer herauszufinden, was in Sibirien passiert ist. Jetzt hat man Blogger, die decken Missstände auf, die zeigen, welche Bürokraten korrupt sind. Und dadurch weiß natürlich die Regierung, was schief läuft, kann effektiver handeln und korrupte Leute rausschmeißen. Aber das führt nicht zu einer größeren Demokratisierung. Vorher wurden Gelder im lokalen Bereich verschoben, jetzt passiert das eben auf nationaler Ebene." "...now it's stolen on the national level." Sprecher 1: Die Regierungen passen ihre Politik den Entwicklungen im Internet an. Auf eine Weise, dass aus Morozows Sicht sogar offen ist, ob das Netz überhaupt ein Plus für demokratische Bewegungen bringt. Allerdings: Alle Mutmaßungen darüber sind rein spekulativ. Bisher habe man gerade mal ein Prozent der Informationen, die man brauche, um eine fundierte Theorie über die Wirkung des Internets zu bilden. O-Ton 21 Ewgeni Morozow "It would help if we know exactly..." Overvoice-Sprecher: "Es wäre hilfreich, wenn wir genau wüssten, wie der Fluss von Informationen autoritäre Staaten beeinflusst. Wir wissen nicht, ob Diktaturen tatsächlich profitieren von all den News, die online geteilt werden. Wir wissen nicht, ob sie die Fotos, die publiziert wurden vom Protest in Teheran, tatsächlich nutzen, um Protestierende zu identifizieren. Wir haben bisher nur zu viele Annahmen getroffen, weil das Internet ein sehr junges Werkzeug ist. Wir haben Theorien ohne Datenbasis formuliert." "...we just had to made theories without any data." Sprecher 1 Die wenigen Daten sind ein Problem. Und die Daten, die existieren, lassen sich nicht auf das gesamte Internet übertragen. Das Wissenschaftsmagazin Digital Icons hat mehrere Studien über die Auswirkungen digitaler und elektronischer Technologien auf die Politik im russischen Raum veröffentlicht. Ein Ergebnis: Besonders Politikern gelingt es, Profit aus den Möglichkeiten des Internets zu schlagen und die eigene politische Agenda im Netz besonders über Blogs zu verbreiten. Die Autoren der Studien - u. a. Wissenschaftler der Nationalen Technischen Universität der Ukraine - zeichnen ein überwiegend negatives Bild von der demokratisierenden Kraft des Internets. Aber kann man den russischen Raum mit dem arabischen Raum vergleichen? Digitale Infrastruktur, Medienkompetenz, Pressefreiheit, die generelle politische Situation, all das müsste in eine wissenschaftliche Betrachtung einfließen. Diese Variablen sind in vielen Ländern im kontinuierlichen Wandel. Zudem durchläuft die digitale Welt selbst eine ständige Veränderung. Sprecher 2: Der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht, Professor an der Freien Universität Berlin, hat trotz dieser schwierigen Forschungsbedingungen die Rolle des Internets für die Mobilisierung von Menschen untersucht. Zumindest mit Blick auf Westeuropa kommt er zu einem Fazit: O-Ton 22 Dieter Rucht "Wäre das Internet das geniale Mittel der politischen Mobilisierung, dann hätten wir parallel zur Nutzung des Netzes auch einen Anstieg der Proteste und der Zahl der Protestierenden. Das ist nicht der Fall." Sprecher 2: Kurz vor dem Irakkrieg 2003, bei den Demonstrationen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 und im Vorfeld des Europäischen Sozialforums 2006 in Athen hatten Rucht und seine Mitarbeiter mit Aktivisten gesprochen. Ihre Frage lautete: "Durch welche Medien wurden Sie motiviert, sich an diesem Protest zu beteiligen?" O-Ton 23 Dieter Rucht "Und da zeigte sich durchgängig, dass die Onlinemedien keine zentrale Rolle spielten. Sie wurden genutzt, aber die Prozentsätze liegen zwischen 10 und 15 Prozent, dagegen die konventionellen Medien spielten eine weitaus größere Rolle. Und wenn es um Überzeugungsprozesse ging, also wer hat dich letzten Endes dazu gebracht, dich für das Thema zu interessieren und da auch mitzumachen, da spielten Freunde, Verwandte, Bekannte, die weitaus größte Rolle." Sprecher 1: Die Wirkung des Netzes hält der Protestforscher demnach für überbewertet. Allerdings lassen sich die empirischen Ergebnisse seiner Studien nicht auf das weltweite Netz übertragen. Die Rolle der konventionellen Medien in Westeuropa ist nicht mit denen in Tunesien oder Ägypten zu vergleichen. Zwar hinterfragen in Europa viele Blogger auch kritisch die traditionelle Medienberichterstattung, die meisten Inhalte sind jedoch als Erweiterung und Ergänzung zu den Inhalten der klassischen Medien zu sehen. Im arabischen Raum dagegen bietet das Netz oft die einzige Alternative zu den staatlich kontrollierten Medien. Der Soziologe Dieter Rucht sieht aber auch noch einen anderen Grund dafür, warum in den Medien immer wieder die Rede von einer Facebook- oder Twitter-Revolution ist. O-Ton 25 Dieter Rucht "Ich glaube, dass die Überschätzung des Internets auch damit zusammenhängt, dass zunächst mal westliche Journalisten sich für die Vorgänge interessieren. Und was tun sie? Sie setzen sich vor den Computer und recherchieren. Das ist ihre primäre Quelle. Das führt zu einer Überrepräsentanz dieser jungen Leute, die verstärkt das Internet nutzen und wiederum zu einer Überrepräsentanz der Leute, die technisch versiert sind und die dann auch die Kontakte suchen oder sich als Kontakt anbieten." Sprecher 2: Wie weit auch immer Schein und Realität auseinander liegen mögen: Bisher fehlen vor allem messbare Daten und Forschungen. Die Wissenschaft hat sich noch nicht ausreichend mit dem Netz und dessen möglichen Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft befasst. Zwar gibt es einige Forschungen für den US-amerikanischen Raum sowie einige Veröffentlichungen zum politischen Einfluss digitaler Technologien in Russland, Eurasien und Mitteleuropa - aber wenn es um die Frage der Rolle des Netzes im arabischen Raum geht, ist die Erkenntnislage dünn. Sprecher 1: Doch nicht nur für spezifische Regionen fällt es schwer Aussagen zum Einfluss der digitalen Medien zu formulieren. Auch grundsätzlich fehlt es an theoretischen Modellen eines Netzaktivismus, sagt der US-amerikanische Medienwissenschaftler David Parry von der Universität Texas in Dallas. O-Ton 26 David Parry "I think there is a need for a theory..." Overvoice-Sprecher: "Auf jeden Fall brauchen wir eine Theorie dafür, wie das Internet politischen Aktivismus transformiert. Ich würde das nicht unbedingt als eine Theorie des Netzaktivismus bezeichnen, schließlich finden die Aktivitäten nicht nur im Internet statt. Ich denke, wir brauchen theoretische Modelle dafür, wie man das Internet am besten dafür nutzen kann, Ziele umzusetzen." "...to accomplish its goals." Sprecher 1: Egal ob Kritiker oder Befürworter: Einig sind sich fast alle Beobachter darin, dass man sich bei der Betrachtung der digital vernetzten Gesellschaft endlich davon verabschieden muss, Online- und Offlinewelt voneinander zu trennen. Online und Offline seien überholte Begriffe, wenn es um die moderne Gesellschaft gehe, betont David Parry. Längst seien beide Welten miteinander verschmolzen. O-Ton 27 David Parry "For long time people have talked..." Overvoice-Sprecher: "Lange Zeit hat man so diskutiert, als könnte man eine Grenze ziehen zwischen Offline- und Onlinewelt, als wären es 2 voneinander getrennte Welten. Inzwischen ist ziemlich deutlich geworden, dass wir eine Sphäre haben und das ist die soziale Sphäre. Und darin enthalten sind Online-Bestandteile, die das Handeln in der sozialen Sphäre unterstützen. Die Online-Welt separat zu betrachten, führt zu Missverständnissen über ihre Rolle." "...how those operate." Sprecher 1: Im Internet werden alternative Öffentlichkeiten geschaffen. Zwar würden so vorerst losere Verbindungen zwischen Menschen aufgebaut, diese könne man allerdings schnell aufwerten, indem man Wechselwirkungen mit anderen Teilen der sozialen Sphäre etabliert. Dadurch könne schnell eine kritische Masse erzeugt werden, die ein gemeinsames Ziel verfolgt, so Parry. Genau das hat die ägyptische Journalistin Noha Atef bei den Aufständen in Kairo beobachtet. O-Ton 28 Noha Atef "The protesters were asking you to film them and they where asking you to upload it to the internet..." Overvoice-Sprecherin: "Bei den Protesten in Ägypten gingen Demonstranten, die selbst keinen Internetzugang hatten, auf Blogger und Internetnutzer zu und baten darum, dass ihre Meinung im Netz veröffentlicht wird. Denn das Internet war DIE Alternative zu den staatlichen Medien. Die Leute wollten sich mitteilen, sie suchten nach einer Plattform. Dadurch entstand eine Art Wechselwirkung und Zusammenarbeit zwischen Online und Offline-Aktivisten." 0´30 "... people who are taking an action offline are looking for people who are online and people who are taking an online action are looking for the ones offline. Atmo 5- Unruhen Sprecher 1: Aber was geschieht nun, nach den Umbrüchen? Trägt die Euphorie des Netzes auch zur Etablierung neuer, stabiler, im besten Fall demokratischer Strukturen bei? Noha Atef erkennt schon jetzt, kurze Zeit nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, eine zumindest digitaler gewordene, politisch engagiertere Gesellschaft. O-Ton 31 Noha Atef "The interesting thing is that after the revolution the number of internet users just went high..." Overvoice-Sprecherin: "Das interessante ist, dass die Internetnutzung seit der Revolution stark zugenommen hat. Es gibt nun 2 Millionen neue Internetzugänge in Ägypten. Die Zeit, die die Menschen im Netz verbringen, hat sich sogar verdoppelt. Außerdem gibt es viele politische Gruppen, die sich online mit Menschen austauschen. Es sieht so aus, als wäre das Leben in Ägypten digitaler geworden. In Tunesien nutzen immer mehr Leute Wikis, um Ideen für neue staatliche Institutionen zu entwickeln. Ich glaube ähnliches wird auch in Ägypten passieren. Schon jetzt nutzen viele Menschen Youtube und Foren, um Ideen für einen politischen Neuanfang zu diskutieren. Ich glaube, dass das Internet in Ägypten in den nächsten Jahren eine große Rolle im politischen Leben spielen wird." "... I think the internet could play a greater role in the policital life in Egypt in the next few years." Sprecher 1: Denkbar ist aber auch, dass das Internet seine - wie es der Weißrusse Ewgeni Morozow bezeichnet - dunklen Seiten weiter ausbaut. In Zukunft werden Staaten demnach durch die Neuen Medien auch neue Instrumente der Kontrolle entwickeln. Zu gefährlich sei das Netz für Diktaturen. Sprecher 2 Thomas Apolte von der Universität Münster. O-Ton 35 Thomas Apolte "Und aus diesen Gründen haben totalitäre Regime eine strukturelle Angst vor Medien und insbesondere solche leicht anarchischen Medien wie das Internet, wo man sich individuell austauschen kann, wo man sich verabreden kann und wo es einen Wettlauf zwischen Sicherheitskräften und potentiellen Oppositionellen gibt, unter denen sicherlich immer welche dabei sind, die sich sehr gut mit der Technik des Internets auskennen. Und das macht den Herrschern in totalitären Systemen aus ihrer Perspektive zu Recht Angst." O-Ton 36 Sifry "So, the question of our time I think is..." Overvoice-Sprecher: "Die Frage ist, welche Entwicklung wir beobachten werden. Es wird immer Leute geben, die Angst vor solchen Veränderungen haben und Proteste unterdrücken oder niederschlagen. Ich glaube, da kommt in Zukunft ein großer Konflikt auf uns zu, was diese beiden Richtungen angeht. Und ich kann nicht sagen, welche Idee sich letztendlich durchsetzen wird." "... and I don't know which one will win." Sprecher 2: Dass sich Netz und Politik vereinen lassen, sieht Sifry vor allem in der Open Data Bewegung, also in der Bereitstellung und öffentlichen Auswertung behördlicher Informationen. Am wichtigsten sei es, die Schnittstellen zwischen Staat und Gesellschaft konsequent auszubauen. Nur so könne man einen bevorstehenden Konflikt vermeiden. Sprecher 1 Wie genau dieser Dialog aussehen und unter welchen technologischen Voraussetzungen er stattfinden könnte, ist allerdings umstritten. Der Soziologe Dieter Rucht, befürchtet eine Überforderung der Politik. O-Ton 37 Dieter Rucht "Man darf auch nicht vergessen, dass eine intensive Nutzung des Netzes Probleme auf der Seite der Politik, der Empfänger hervorruft. Denn die haben auch nur eine begrenzte Verarbeitungskapazität. Es gibt dann bei diesem explodierenden Informationsfluss am Ende Restriktionen auf Seiten derer, die diese Informationen verarbeiten müssen aber auch auf Seiten derer, die angesprochen werden, sich an politischen Aktivitäten zu beteiligen Sprecher 1: Es besteht die Gefahr einer Inflation des Aktivismus im Netz. Denn es ist davon auszugehen, dass die Anzahl von politischen Gruppen, Forderungen und Kampagnen weiter wachsen wird. Insofern muss in der Zukunft nicht die Frage beantwortet werden, ob das Netz das Potenzial besitzt, Einfluss auf Politik auszuüben, sondern wie genau man die bestehenden Werkzeuge und Netzwerke aufbaut, aufrechterhält und koordiniert. Einen solchen Prozess kann man nicht per se für das Netz beschreiben. In Ägypten und Tunesien - so scheint es - besaß die Formel, um mit dem Netz erfolgreich einen politischen Wandel einzuleiten, die richtigen Variablen. Welche politische Rolle die digitale Vernetzung in Zukunft dort spielen wird ist ebenso offen, wie die Frage, ob das Internet auch in anderen Diktaturen helfen kann, eine politische Wende einzuleiten. Denn die Wirkung des Netzes wird immer davon abhängig sein, in welchem politischen und sozialen Kontext die Menschen darin agieren. 1