COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 3. März 2008, 19.30 Uhr Schlechte Karten für Kassenpatienten Zweiklassenmedizin in Deutschland Von Ingrid Füller Musik (schnell, darauf:) Zitator Kassenpatienten gegenüber Privatpatienten deutlich benachteiligt: Zitatorin Keine Arzttermine am Ende des Quartals Zitator Längere Wartezeiten in der Praxis Zitatorin Wartezimmer erster und zweiter Klasse Zitator Weniger Leistungen trotz Praxisgebühr und Zuzahlungen Zitatorin Kein Zugang zu hoch qualifizierten Spezialisten Zitator Zu frühe Entlassung aus dem Krankenhaus Zitatorin Neue Organe bald nur noch gegen bares Geld? Musik (weg) Spr. vom Dienst Schlechte Karten für Kassenpatienten Zweiklassenmedizin in Deutschland Eine Sendung von Ingrid Füller Autorin Deutschland driftet auseinander - auch im Gesundheitswesen. Da Privatpatienten zunehmend mehr Privilegien genießen, fühlen sich gesetzlich Versicherte oft als Pa- tienten zweiter Klasse. Welches Ausmaß die Sorge über die Zweiklassenmedizin annimmt, zeigt der ?Gesundheitsreport 2007? des Instituts für Demoskopie in Allens- bach und des Finanzdienstleisters MLP: Zitator 76 Prozent der Befragten sind skeptisch, dass die Regierung langfristig eine gute Gesundheitsversorgung für alle sicherstellen kann. Zitatorin 72 Prozent erwarten, dass die Leistungen weiter reduziert und auf eine Grundversor- gung begrenzt werden. Autorin Seit etlichen Jahren halten die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung mit den Ausgaben kaum noch Schritt. Arbeitslosigkeit und Geburtenrückgang bewirken, dass immer weniger Geld in die Kassen fließt. Gleichzeitig steigen die Ausgaben kontinuierlich an, bedingt durch den medizinischen Fortschritt, der hohe Kosten ver- ursacht, und den wachsenden Anteil älterer und damit krankheitsanfälliger Men- schen. Rund neunzig Prozent der Bevölkerung sind Mitglied der gesetzlichen Kran- kenversicherung. Während die restlichen zehn Prozent als Privatpatienten nach wie vor Anspruch auf eine umfassende medizinische Versorgung haben, müssen Kas- senpatienten immer mehr Leistungen aus eigener Tasche bezahlen - oder aber dar- auf verzichten. O-Ton 1 (Montgomery) Wir haben ganz eindeutig in Deutschland eine Zweiklassenmedizin. Autorin Dr. Frank Ulrich Montgomery, stellvertretender Präsident der Bundesärztekammer. O-Ton 2 (Montgomery) Ich bezweifle gleichwohl, dass der medizinische Standard ein anderer ist und dass Patienten mit akuten Beschwerden schlechter oder langsamer behandelt werden, wie es immer wieder unterstellt wird von der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir re- den also von Komfort. Hier gibt es in der Tat einen Unterschied. Und da muss ich sagen, auch in der Eisenbahn, wenn Sie zweiter Klasse fahren, fahren Sie dieselbe Strecke wie in der ersten Klasse, aber mit einem anderen Komfort. (Stimme oben) Autorin Doch geht es wirklich nur um Komfort? O-Ton 3 (Lauterbach) Wir wissen beispielsweise, dass gesetzlich Versicherte und privat Versicherte, was Arzneimittel angeht, ganz anders behandelt werden. Autorin Professor Karl Lauterbach, Gesundheitsökonom und Autor des Buches ?Der Zwei- klassenstaat? O-Ton 4 (Lauterbach) Wir wissen, dass viele privat Versicherte auch aufwendiger behandelt werden, dass eine aufwendigere Diagnostik gemacht wird, dass andere Geräte zum Einsatz kom- men. Somit ist es nicht der Komfort, das kommt hinzu, aber die private Krankenversi- cherung bewirbt ja ihr eigenes Produkt damit, dass es eine bessere Versorgung gibt, eine Versorgung erster Klasse. Autorin Infolge der diversen Gesundheitsreformgesetze der vergangenen Jahre mussten ge- setzlich Versicherte bereits erhebliche Einschnitte hinnehmen. Untersuchungen zur Früherkennung diverser Krankheiten wurden ebenso aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichen wie zum Beispiel die Kostenübernahme für Brillen oder bestimmte Maßnahmen in der Zahnmedizin. Rezeptfreie Medikamente gehen grundsätzlich zu Lasten der Versicherten. Darüber hinaus müssen Kassenpatienten Praxisgebühren und Zuzahlungen für verschreibungspflichtige Arznei-, Heil- und Hilfsmittel entrichten. Doch damit nicht genug. Wer gesetzlich versichert ist, bekommt die Zweiklassenme- dizin oft schon zu spüren, bevor er überhaupt eine Praxis betritt. Zitator Laut einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK aus dem Jahre 2007 werden gesetzlich Versicherte gegenüber privat Versicherten beim Zugang zu nie- dergelassenen Ärzten erheblich benachteiligt. Zitatorin Trotz akuter Beschwerden musste jeder vierte gesetzlich Versicherte mindestens zwei Wochen auf einen Termin beim Arzt warten. Bei privat Versicherten mit akuten Beschwerden traf dies nur für 7,8 Prozent der Patienten zu. Autorin Ein Beispiel: Eine Kassenpatientin bekam trotz heftiger Schmerzen, ausgelöst durch einen akuten Rheumaschub, keinen Termin bei ihrem Arzt. Erst in drei Wochen sei wieder etwas frei, ließ die Sprechstundenhilfe die Patientin wissen. O-Ton 5 (Rheumapatientin) Für mich war?s sehr schlimm, dass ich keine Hilfe hatte. Rheumapatienten sind auch depressive Patienten. Und für mich bedeutete das, dass ich hier in der Wohnung ge- sessen habe und versuchte, mit den Medikamenten, die ich zu Hause hatte, meine Schmerzen in Griff zu bekommen und gleichzeitig auch mein Gemüt. Autorin Dazu Heinz Windisch vom Verband der Krankenkassen: O-Ton 6 (Windisch) Das ist für mich ein Skandal erster Güte, denn insbesondere solche Patienten, chro- nisch Kranke, die leiden per se. Und wenn die dann akut Probleme haben, wenn man die dann vertröstet, dann muss ich mir wirklich ernsthaft als Arzt die Frage stel- len, ob ich dem Eid, den ich geschworen habe, noch gerecht werde. Autorin Wer als Kassenpatient gar einen Termin bei hoch qualifizierten Spezialisten verein- baren möchte, wird fast immer scheitern. Denn die, so schreibt Karl Lauterbach in seinem Buch ?Der Zweiklassenstaat?, behandeln gesetzlich Versicherte nur in abso- luten Ausnahmefällen. Dr. Frank Ulrich, Montgomery, Vizepräsident der Bundesärz- tekammer, weist diese Behauptung zurück. O-Ton 7 (Montgomery) Es stimmt schlicht und einfach nicht, dass gesetzlich Versicherte von der hochklassi- gen modernen Medizin abgeschnitten sind. Das sind wilde Thesen, die dazu dienen sollen, ein Buch zu propagieren. Atmo 2 (Lauterbach) Soll sich doch jeder hier im Saal dem Selbsttest unterziehen und ruft einen bekann- ten Universitätsprofessor an und meldet sich als AOK-Versicherter und hätte gern einen Termin. Autorin Karl Lauterbach auf einer Veranstaltung der Hamburger SPD zum Thema ?Soziale Gerechtigkeit: Atmo 2 (Lauterbach) Soll sich doch jeder hier im Saal dem Selbsttest unterziehen und ruft einen bekann- ten Universitätsprofessor an und meldet sich als AOK-Versicherter und hätte gern einen Termin. Soll doch jeder den Test machen. Da geht es nicht darum, in welchem Zimmer man dort liegt oder wie das Wartezimmer aussieht, sondern es wird schlicht und ergreifend keinen Termin geben. Autorin Zahlreiche Spezialisten behandeln vornehmlich oder ausschließlich Privatpatienten. Doch bei bestimmten schweren Erkrankungen wie zum Beispiel Bauchspeicheldrü- senkrebs kann das Sterberisiko der Patienten davon abhängen, ob sie von Spitzen- chirurgen oder von weniger erfahrenen Ärzten operiert werden. Ein Gramm Gehirn eines Spezialisten kann mehr helfen als eine tonnenschwere Bestrahlungskolonne, schreibt Karl Lauterbach in seinem Buch. Dennoch sei für neunzig Prozent der Be- völkerung der Weg zu solch hoch qualifizierten Medizinern versperrt. O-Ton 8 (Lauterbach) Sie brauchen eine Überweisung, und diese Überweisung muss einen so interessan- ten Fall beschreiben, also kein Routinefall, dass ein Universitätsprofessor dies be- handeln möchte. Wenn er es nicht will, dann wird er es nicht tun. Autorin Doch es geht nicht nur um Zugang zu renommierten Universitätsprofessoren. Kas- senpatienten haben oft schon Probleme, rechtzeitig einen Termin bei einem nieder- gelassenen Facharzt zu bekommen, sagt Dr. Michael de Ridder, leitender Arzt der Rettungsstelle im Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg. O-Ton 9 (de Ridder) Das kann ich hier aus meiner Rettungsstelle bestätigen. Wir werden nämlich häufig mit Überweisungen konfrontiert, die ein niedergelassener Arzt, meist Allgemeinarzt, zu uns tätigt für eine spezielle Untersuchung, von der er glaubt, sein Patient würde die hier sofort bekommen, weil draußen die Endoskopie, die Gastroskopie, das Be- lastungs-EKG beim niedergelassenen Facharzt evtl. Wochen, ja Monate dauert, was hier in Berlin schon zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen Krankenkassen und Ärzteschaft geführt hat. Und das ist ein ganz klares Zeichen einer unterschiedli- chen Versorgung im Sinne einer Zweiklassenmedizin, dass Wartezeiten für Privatpa- tienten i. d. R. ganz, ganz kurz sind und für den gesetzlich Versicherten Wochen und Monate dauern können. Autorin Der Grund für das Verhalten der Ärzte liegt in der so genannten Budgetierung. Das bedeutet: Gesetzliche Krankenkassen bezahlen für jeden Versicherten einen festen Betrag pro Quartal, unabhängig davon, wie oft der Patient die Praxis aufsucht. Au- ßerdem gibt es Obergrenzen für die Verordnung von Medikamenten. Ein Arzt, der das Arzneimittelbudget überschreitet, läuft Gefahr, die Kosten aus eigener Tasche bezahlen zu müssen. Da die Budgets oft schon lange vor dem Ende des Quartals erschöpft sind, behandeln viele Ärzte im dritten Monat des Quartals keine Kassenpa- tienten mehr. Böse Zungen reden vom ?Quartalsurlaub der Ärzte?. Dr. Frank Ulrich Montgomery: O-Ton 10 (Montgomery) Das alles sind natürliche Entwicklungen, wenn man intelligenten Menschen, und Ärz- te sind intelligente Menschen, eine absurde Zahlensystematik aufnötigt, und sie mit festgesetzten und gedeckelten Budgets, die in einem Quartalsrhythmus laufen, kon- frontiert. Man muss sich doch nicht wundern, wenn intelligente Menschen das tun, was man ihnen unter der Überschrift Wettbewerb und Marktwirtschaft aufnötigt. Und nun zu glauben, dass nur die Ärzte so liebe, gute Menschen sind, dass sie sich auf der einen Seite immer wieder deckeln und runterfahren lassen in ihren Einkünften durch Wettbewerb und Budgetsystematiken, aber auf der anderen Seite sich noch so verhalten, als ob alles bezahlt würde. So viel Gutmenschentum kann man von nie- mandem erwarten in diesem Land. Da muss man doch auch einfach mal die Kirche im Dorf lassen und einfach mal sagen Ärzte sind auch nur Menschen und verhalten sich rational und vernünftig. Autorin Anders als bei gesetzlich Versicherten kann der Arzt bei Privatpatienten jede Leis- tung uneingeschränkt abrechnen. Dazu noch zu einem doppelt bis dreimal so hohen Gebührensatz. Kein Wunder also, dass Ärzte sich bemühen, diese zahlungskräftige Klientel zu halten und sie nicht an die Konkurrenz zu verlieren. Sie bieten ihnen be- vorzugt Termine an oder gar ein getrenntes Wartezimmer, zu denen gesetzlich Ver- sicherte keinen Zutritt haben. Atmo 3 (HNO-Praxis in Hamburg-Horn) (Telefonläutern ? Hals-Nasen-Ohren-Praxis Dr. Heinrich, Guten Tag ?. Könnten Sie in einer guten halben Stunde noch mal anrufen, es ist im Moment ganz voll.....) (Dar- auf folgender Text:) Autorin Dr. Dirk Heinrich betreibt eine Praxis in Hamburg-Horn, einem Stadtteil mit einer ho- hen Arbeitslosenquote und vielen Migrantenfamilien - überwiegend Menschen also, die gesetzlich versichert sind. Um die wenigen Privatpatienten zu halten, die es in Horn gibt, hat der Hals-Nasen-Ohren-Arzt diesen vor zwei Jahren ein separates klei- nes Wartezimmer eingerichtet, ein in dezenten Blautönen gestalteter Raum mit mo- dernem Ambiente. Auf bequemen Freischwingern sitzen zwei Patienten, die sich in der Praxis sichtbar wohl fühlen. O-Ton 11a (Privatpatientin) Das ist natürlich eine sehr angenehme Atmosphäre hier. Man sitzt angenehmer. Ich hab? heute gar keinen Termin gehabt offiziell, und man bot mir an, hier zu warten, damit ich drankomme. Das ist natürlich schon ein Komfort. O-Ton 11b (Privatpatient) Als Privatpatient ist der einzige für mich existierende Unterschied, dass man tatsäch- lich schneller Termine bekommt und auch, wie die Dame schon sagte, wenn Proble- me existieren, dass man einfach dazwischen geschoben wird und in einem Extra- raum sitzt, so dass die anderen nicht unbedingt mitbekommen, dass da was zwi- schengeschoben wird, ohne einen großen Problemfall zu haben. Autorin Die Ehefrau des Arztes, die in der Praxis mitarbeitet, fügt hinzu: O-Ton 12 (Frau Heinrich) Ich denke, das würde einfach auch Unruhe stiften, die Leute gucken schon, wer kommt nach mir? Und wenn jemand, der nach ihnen kommt, vor ihnen drankommt, auch wenn das manchmal medizinische Gründe hat, das sehen die Patienten manchmal nicht ein, und dann entsteht Unruhe. Und um diese Diskussion zu vermei- den, ist dieses zweite Wartezimmer sicherlich auch sinnvoll. Autorin Dr. Heinrich betont, dass er nicht der einzige Arzt in Hamburg ist, der zwei Warte- zimmer anbietet. Aber so ziemlich der einzige, der bereit sei, offen darüber zu spre- chen. O-Ton 13 (Heinrich) Das ist vielleicht der Unterschied. Ich kenne viele Kollegen, die zwei Wartezimmer haben, weil die wirtschaftliche Situation uns zwingt, Privatpatienten so zu pflegen, dass sie uns erhalten bleiben, weil im Grunde die Privatpatienten es uns heute noch ermöglichen, Praxen wie z.B. hier in Horn, einem sozialen Brennpunkt, zu betreiben. Die Einnahmen aus den gesetzlichen Krankenkassen sind in den letzten Jahren der- art abgesunken, dass eine wirtschaftliche Praxisführung mit nur Kassenpatienten nicht mehr möglich ist in solchen Stadtteilen. Autorin Sein Budget sei bereits nach zwei Monaten aufgebraucht, sagt Dr. Heinrich. Im drit- ten Monat des Quartals arbeite er umsonst und sei nur noch sozial tätig. Dennoch will der Hals-Nasen-Ohren-Arzt dem Trend vieler Kollegen nicht folgen, die ihre Pra- xen in sozial schwächeren Stadtteilen schließen und sich in wohlhabenden Vierteln niederlassen. Um aber in Horn bleiben zu können, müsse er Privatpatienten einen besonderen Service bieten. O-Ton 14 (Heinrich) Ich hätte mich ja auch in einem der besseren Stadtteile von Hamburg niederlassen können. Insofern tut es einem natürlich besonders weh, wenn man das machen muss. Aber ich mache es, weil ich sonst meinen Kassenpatienten, und das sind häu- fig arme Patienten, gar nicht mehr helfen kann. Atmo 4 (HNO-Praxis an der Rezeption) (Guten Tag, die Kleine hat Halsschmerzen?..Wartezeit haben Sie mitgebracht?. - darauf folgender Text) Autorin Im etwas schlichter eingerichteten Raum für gesetzlich Versicherte sitzen an diesem Vormittag acht Patienten. Fünf von ihnen verweigern die Antwort auf die Frage, ob sie sich durch die getrennten Wartezimmer benachteiligt fühlen. Nur drei sind zu ei- nem knappen Statement bereit. O-Ton 15a (1. Patient) Ich fühl mich nicht unterschiedlich behandelt. Nö, stört mich nicht. O-Ton 15b (2. Patient) Ja, das ist in Ordnung, ich fühle mich wohl hier. Und die Behandlung ist in Ordnung. O-Ton 15c (3. Patientin) Wie wir merken, dieser Arzt hat keine Unterschiede, egal privat oder egal so. Ich füh- le mich ganz gut, ja. Autorin So weit so gut. Doch sind unterschiedliche Wartezimmer beim Arzt tatsächlich ver- gleichbar mit Bahnreisen erster und zweiter Klasse? O-Ton 16 (Lauterbach) Es ist eine Form der Diskriminierung, die ich für unerträglich halte, wenn der gesetz- lich Versicherte, der ja allein das Solidarsystem bezahlt, in einem kargen Wartezim- mer lange sitzt und wartet, derweil der privat Versicherte, der am Solidarsystem nichts bezahlt, gleich durchgeht, es ist ungerecht und diskriminierend. Autorin Karl Lauterbach O-Ton 17 (Lauterbach) Ein gut verdienender gesetzlich Versicherter bezahlt jeden Monat 250 Euro für die Wenigverdiener, die auch versichert sein wollen. Der gleich gut verdienende privat Versicherte bezahlt nichts und wird vom Arzt auch noch hofiert. Das ist falsch. Dann müssen wir es halt so machen, dass die Ärzte sich entscheiden müssen, ob sie nur noch gesetzlich oder nur noch private Patienten behandeln. Das könnte ich verste- hen. Dann müssten allerdings diese Ärzte auch mit den wenigen Privatpatienten komplett auskommen. Autorin Wer sich als gesetzlich Versicherter vom Arzt oder von seiner Krankenkasse un- gerecht behandelt fühlt, steht häufig auf verlorenem Posten. Doch es gibt Institutio- nen, die Rat und Unterstützung bieten, zum Beispiel die Verbraucherzentralen oder die Unabhängige Patientenberatung Deutschlands, kurz UPD genannt. Dabei han- delt es sich um ein neues Projekt, das in einem Modellverbund deutschlandweit 22 Beratungsstellen anbietet. Die neutrale und unabhängige Einrichtung wird gemäß Sozialgesetzbuch V von den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen fi- nanziert. Atmo 5 (Telefonansage der UPD) Autorin In jeder Beratungsstelle der UPD sind drei Mitarbeiter beschäftigt, die für unter- schiedliche Kompetenzbereiche zuständig sind: für medizinische, sozialrechtliche und sozialpädagogische Fragen. Dr. Christine Klemm arbeitet als Ärztin in der Ham- burger Patientenberatung. Dort gehen hauptsächlich Beschwerden von gesetzlich Versicherten ein. Viele beklagen sich, weil sie zu lange auf einen Arzttermin warten müssen oder am Quartalsende die nötigen Medikamente nicht mehr bekommen. An- dere suchen Rat, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden sollen, obwohl die Operationsnaht noch nicht verheilt ist oder weil die Krankenkasse ihnen eine Re- habilitationsmaßnahme oder eine bestimmte Arzneimitteltherapie verweigert. Außer- dem gibt es Fälle, die auf gezielte Diskriminierung älterer Patienten hinweisen. Dass solche Fälle keine Ausnahmen sind, geht aus einer Studie der Universität Bremen hervor, die kürzlich veröffentlicht wurde. Christine Klemm von der Unabhängigen Pa- tientenberatung Deutschlands: O-Ton 18 (Klemm) Da hatte sich ein Ratsuchender bei uns gemeldet, 63 Jahre alt, neu an Altersdiabe- tes erkrankt, Typ II Diabetes, der im Allgemeinen erst bei älteren Leuten auftritt. Beim Diabetes weiß man ja, dass es sehr wichtig ist, die Lebensführung entsprechend an- ders zu gestalten: Diät vielleicht, Bewegung, mit dem Insulin, wenn man es nehmen muss, zurechtzukommen, all diese Dinge. Dafür gibt es spezielle Diabetes- Schulungen. Und diesem Patienten war die Teilnahme an der Schulung verweigert worden mit dem Hinweis auf sein Alter. Es würde nämlich nur unter 60jährigen ge- währt, die Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Autorin Erst nachdem die Unabhängige Patientenberatung sich eingeschaltet hatte, war die zuständige Krankenkasse bereit, die Kosten für die Diabetesschulung des 63jährigen zu tragen. Die Mitarbeiterinnen der UPD klären Patienten über ihre Rechte auf und helfen ihnen, Anträge bei Leistungsträgern zu stellen oder einen Widerspruch zu formulieren, wenn eine Maßnahme abgelehnt wurde. Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht, räumt Christine Klemm ein. Doch in vielen Fällen führe die Unterstüt- zung der UPD dazu, dass Patienten Leistungen erhielten, die ihnen vorher verwei- gert worden seien. O-Ton 19 (Klemm) Das ist auch ein Teil unserer Aufgabe, die Menschen zu unterstützen, zu bestärken, ihre Interessen wirklich wahrzunehmen und ihre Autonomie an der Stelle zu stärken. Wir ändern ja im Moment nicht das System. Im Moment beraten wir einzelne Ratsu- chende, aber da wir eben ein deutschlandweiter Verbund sind, haben wir schon die Möglichkeit, Beschwerden zu sammeln und den Finger darauf zu legen und auch auf höherer Ebene diese Erfahrungen einzubringen Autorin Bislang kommen Benachteiligungen gesetzlich Versicherter vor allem in der ambu- lanten Medizin vor. Doch es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie auch im stati- onären Bereich spürbar werden. Schon heute gibt es Kassenpatienten, die sich zum Beispiel über eine zu frühe Entlassung aus dem Krankenhaus beklagen. Seit dem Jahr 2004 hat sich die Finanzierung der Krankenhäuser geändert. Das neue System nennt sich Diagnosis related groups - kurz DRG. Es soll zu einer kürzeren Liegedau- er führen, da die Krankenhäuser für eine bestimmte Leistung nur noch einen festen Betrag vergütet bekommen. Dr. Michael de Ridder vom Vivantes-Klinikum Am Urban in Berlin: O-Ton 20 (de Ridder) Es gibt heute im Zeitalter des so genannten DRG-Systems, in dem Patienten nach Diagnosen unabhängig von ihrer Liegedauer bezahlt werden von den Kassen und nicht wie früher nach der reinen Liegedauer, dieses Problem, dass Patienten zu früh entlassen werden. Was dann zur Folge hat, dass sie wieder aufgenommen werden müssen und dass nachbehandelt werden muss. Tatsache ist, dass es das gibt, wel- ches Ausmaß das hat, darüber liegen mir keine Zahlen oder keine Detailinformatio- nen vor. Aber es kommt vor, und es ist natürlich Teil dieses ganzen Zuges im Ge- sundheitswesen, dass die ökonomische Seite eine größere Bedeutung bekommen hat und die reine Patientenversorgung, die sich nur streng nach dem Bedarf des Pa- tienten richtet, droht zu kurz zu kommen in Zukunft. Atmo 6 (Jingle Frontal 21 ? darauf folgender Text) Autorin Welche Ausmaße die Zweiklassenmedizin in einzelnen Fällen schon heute annimmt, zeigten Medienberichte im vergangenen Jahr. Gleich zwei deutsche Unikliniken wa- ren in den Verdacht geraten, privat Versicherte und Selbstzahler bei der Vergabe von Spenderorganen zu bevorzugen. In einer anonymen E-Mail an die Staatsanwalt- schaft Kiel wurden schwere Vorwürfe gegen das Uniklinikum Schleswig-Holstein er- hoben. Dort würde das Transplantationsgesetz gebrochen, hieß es, da vor allem wohlhabende Patienten aus dem arabischen Raum Spenderorgane bekämen. Auch in Essen soll ein honoriger Mediziner Selbstzahler bei Transplantationen bevorzugt haben. Das ZDF-Magazin Frontal 21 berichtete vom Fall des Chefchirurgen Chris- toph Broelsch am Klinikum Essen, der einer krebskranken Kassenpatientin einen schnelleren Operationstermin versprochen habe - sofern sie zu einer Mindestspende von 7.500 Euro bereit sei. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft in zahlreichen Fällen wegen des Verdachts der Patientenerpressung und Vorteilsnahme. Heinz Windisch vom Verband der Krankenkassen wirft die Frage auf? O-Ton 21 (Windisch) ... in welche Richtung wir uns da bewegen. Irgendwann wird dann nur noch der Pati- ent behandelt, wenn das überhand nimmt, der Geld auf den Tisch des Hauses legen kann, und alle anderen, die bleiben auf der Straße. Autorin Wer privat versichert und schwer erkrankt ist, braucht sich um eine optimale Therapie nicht zu sorgen. Dagegen steht Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung laut Sozialgesetzbuch V nur eine Behandlung zu, die ?wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig? ist. Die zum Teil extrem hohen Kosten für neuartige Di- agnose- und Operationsverfahren oder für Hightech-Medizinprodukte übernehmen die gesetzlichen Kassen in der Regel nur, wenn es keine preiswerten Alternativen gibt. Eine Standardtherapie gilt jedoch so lange als ausreichend, bis neue Verfahren sich eindeutig als besser erwiesen haben. Doch es kann Jahre dauern, bis die erfor- derlichen Studien ausgewertet sind und neue Maßnahmen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden. Privatpatienten profi- tieren schneller von modernen Methoden, die zum Beispiel in der Krebstherapie wir- kungsvoller und schonender sein können als herkömmliche Verfahren. Kassenpati- enten müssen warten, bis ein neues Mittel für die jeweilige Indikation zugelassen ist. Die Ärztin Christine Klemm von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschlands nennt ein Beispiel: O-Ton 22 (Klemm) Das war der Fall einer Frau mit einem Leberzellkarzinom, besonders dramatisch weil sie sich als langjährige Krankenschwester eine Hepatitis C Infektion im Dienst zuge- zogen hatte, dann lange eine chronische Leberzirrhose gehabt hat und dann auf die- sem Boden einen Leberkrebs bekommen hatte. Diese Patientin hatte alle zur Verfü- gung stehenden Therapien ausgeschöpft, es war nicht besser geworden, der Tumor war nicht zurückgegangen. Und sie wollte gern therapiert werden mit einem Medika- ment, das für Nierenkrebs bereits zugelassen war in Deutschland, für Leberkrebs aber noch nicht. Es gab Studien aus den USA, die nahe legten, dass ein Erfolg zu erwarten ist, dass das Leben verlängert werden kann. Diese Patientin hat im Endef- fekt mit Unterstützung der UPD diese Therapie dann auch finanziert bekommen von ihrer Krankenkasse. Autorin Ob gesetzlich versicherte Patienten künftig in den Genuss moderner Therapien kommen werden, ist fraglich. Denn die bisherigen Sparmaßnahmen reichen nicht aus, um die chronische Finanznot der Kassen zu beheben. Seit Jahren wird in der Fachwelt über effektive Sanierungsmaßnahmen gestritten. Wiederholt forderten zum Beispiel Vertreter der Ärzteschaft, dass die Einnahmen aus der Tabak- und Brand- weinsteuer direkt in das Gesundheitswesen fließen, da Krankheiten, die durch Rau- chen und Alkoholmissbrauch entstehen, enorme Kosten verursachen. Der Gesund- heitsökonom Karl Lauterbach plädiert seit langem für die Abschaffung der zwei un- terschiedlichen Versicherungssysteme, die Patienten erster und zweiter Klasse er- zeugten. O-Ton 23 (Lauterbach) Nur in Deutschland gibt es eine private Vollversicherung für Beamte und für Gutver- diener, in die man nur kommt, wenn man ausreichend verdient, etwa 4.000 Euro pro Monat mindestens oder verbeamtet ist. Eine krasse Ungerechtigkeit. Ein Anachro- nismus aus der Zeit von Konrad Adenauer. Nichts, was sich zwangsläufig entwickelt, sondern etwas, was sich aus der Privilegienpolitik von Konrad Adenauer entwickelt hat. Autorin Es sei an der Zeit, so Karl Lauterbach, eine Bürgerversicherung einzuführen, in die jeder einzahlen müsse, egal ob Arbeitnehmer, Beamter oder Selbständiger. Denn das verbreitere die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung und trage dazu bei, die Spaltung in Privat- und Kassenpatienten zu überwinden. O-Ton 24 (Lauterbach) Die privaten Krankenversicherungen könnten aus meiner Sicht Zusatzversicherun- gen anbieten, wo es dann tatsächlich nur um Hotelleistungen oder Service geht. Dann hätten wir eine gute Lösung. Autorin Auch auf der Ausgabenseite könnte nach Ansicht von Experten noch viel mehr ge- spart werden als bislang. Von 30 bis 50 Milliarden Euro ist die Rede, die in Leistun- gen verpuffen, von denen niemand wirklich profitiert. Dazu Dr. Michael de Ridder vom Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin: O-Ton 25 (de Ridder) Wenn wir Unterschiede vermeiden wollen, im Sinne einer Zweiklassenmedizin, müs- sen wir hier eingreifen: Ich sage nur überflüssige Herz-Katheder-Untersuchungen, ich sage überflüssige Röntgenuntersuchungen, ich sage überflüssige Arthroskopien, ü- berflüssige Medikamente. Wir kämen mit einem Stock von etwa 3 000 Medikamenten aus, wir haben aber immer noch 50 000. All dies könnte zurückgestutzt werden auf ein vernünftiges Maß. Und wir hätten mehr Ressourcen für die wirklich großen Her- ausforderungen, die unser Gesundheitssystem hat, nämlich die Zunahme der Popu- lation der älteren Menschen, ihrer Pflegebedürftigkeit und der sich hier auftuenden großen Bedarfe, die wir als zivile Gesellschaft erfüllen müssen. Autorin Werden keine Maßnahmen ergriffen, die die gesetzliche Krankenversicherung von Grund auf reformieren, drohen ihren Mitgliedern über kurz oder lang Rationierungen, die weitaus gravierender sind als die heute bereits üblichen. Musik (schnell, darauf:) Zitator Neue Hüftgelenke jenseits der Fünfzig? Zitatorin Dialyse bei über Sechzigjährigen? Zitator Zahnersatz für Rentner? Zitator Rehamaßnahmen für Arbeitlose? Zitatorin Organtransplantationen für 100.000 Euro? Zitator Krebsmittel für 50 000 Euro, die das Leben um einige Monate verlängern? Musik (weg) Autorin Noch werden solche Fragen in Deutschland nicht öffentlich diskutiert. Doch schon heute fordern Medizinethiker, die Bevölkerung in die Debatte über notwendige Ratio- nierungen einzubeziehen. Möglicherweise wird es nicht mehr lange dauern, bis ge- setzliche Vorgaben regeln, wem wann welche Leistungen noch zustehen. Dann wer- den die Heilungs- und Überlebenschancen kranker Patienten endgültig vom Versi- cherungsstatus oder vom privaten Vermögen abhängig sein. Schon heute leben pri- vat Versicherte, statistisch gesehen, zwischen fünf und sieben Jahren länger als ge- setzlich Versicherte. Das liegt nicht nur an der medizinischen Behandlung, sondern auch daran, dass privat Versicherte in der Regel über ein höheres Einkommen und eine bessere Bildung verfügen. Beide Faktoren wirken sich positiv auf die Gesund- heit aus. Wenn Kassenpatienten künftig nur noch Anspruch auf eine minimale medi- zinische Versorgung haben, ist für viele Geringverdiener, Alleinerziehende, Arbeitslo- se und für mittellose Rentner ein Weg vorgezeichnet, der vor einigen Jahren zynisch als ?sozial verträgliches Frühableben? bezeichnet wurde. Die Gesellschaft muss ent- scheiden, ob sie diese Entwicklung will - oder nicht. Spr. vom Dienst Schlechte Karten für Kassenpatienten Zweiklassenmedizin in Deutschland Von Ingrid Füller Es sprachen: Julia Mohn, Maria Hartmann und Gerd Grasse Ton: Andreas Krause Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1