COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur 16.8.2009 "Sommernacht, jetzt" - Judith Hermann und der Pop der neunziger Jahre Von Helmut Böttiger Stimmen: Autor Zitatorin (nur für 2 Zitate) O-Ton-Band 1-50 (+ O-Ton 51: Musikstück von "Poems for Laila") Musik: 1. "Sommerhaus, später"-CD: - Track 4: Edwyn Collins - Track 11: P.J. Harvey - Track 6: J.S. Bach: Das wohltemperierte Klavier 2. Massive Attack: Blue Lines. Track 1: Safe from Harm. Evtl. auch: Track 6: Unfinished Sympathy 3. Tom Waits: Rain Dogs (Archivnummer 39-03339). Daraus vor allem: Track 17: Downtown Train. Evtl. auch: Track 1, Track 10. Dazu evtl von Tom Waits auch Filmusiken zu "Down by law" und "Night on Earth" 4. David Bowie: Hunky Dory (Archivnummer 90-09194) -Track 1: Changes -Track 4: Life on Mars? Dazu evtl. von David Bowie auch die Filmmusik zu "Die Kinder vom Bahnhof Zoo" 5. The Beatles: Weißes Album. CD 1, Track 13: Rocky Rackoon 6. Poems for Laila: Another Poem for the 20th Century (LP Archivnummer 80-40652, =O-Ton 51) 7. Beach-Boys: Pet Sounds, daraus das Eröffnungsstück "Wouldn't It Be Nice" Hinweis an die Regie: Die O-Töne sind ausschließlich von Judith Hermann. Es gibt dabei zwei Kategorien, die unterschiedlich hörbar gemacht werden sollten: 1. O-Töne aus einem Interview mit ihr ("JH"), 2. O-Töne der Autorin aus Hörbüchern mit Lesungen ihrer Texte sowie andere öffentliche Äußerungen ("Lesung", "Kompass", "LCB"). Gelegentlich werden diese beiden Kategorien von O-Tönen nur durch Musik getrennt. Deswegen sollten die beiden O-Ton-Sorten einen deutlich unterschiedlichen Raum haben. ___________________________________________ Regie: Musik. Massive Attack: Safe from Harm. O-Ton 1: JH 22:15-22:25 Es ist das Lebensgefühl zwischen 25 und 30. Und das hatte ganz viel mit Musik zu tun. Regie: Musik. Massive Attack O-Ton 2: Lesung "Sommerhaus, später" (JH, anderer Raum) Wir hörten Massive Attack und rauchten und fuhren die Frankfurter Allee wohl eine Stunde lang rauf und runter, bis Stein sagte: "Verstehst du's?" Regie: Musik. Massive Attack (länger stehenlassen) O-Ton 3: JH 59:10-1:00:00 Also das ist ein Zustand, der absolut markiert ist von so einem emotionalen Stillstand. Man fühlt eigentlich überhaupt nichts mehr. Und es ist eben alles so ganz und gar gegenwärtig. Dann hat die Frankfurter Allee so in der Nacht durch diese Architektur der Stalin-Bauten was ganz Mächtiges, und ich fand auch immer, natürlich weil's mir auch unbekannt war, dass es mir im Grunde die Möglichkeit gab, dass ich mich fremd fühlen konnte, eine Fremde in der eigenen Stadt, ich hätte auch in einer ganz anderen Stadt sein können. Die Gebäude sehr groß, wir in diesem Auto sehr klein. Durch dieses immerzu Fahren, rauf und runter, wird eigentlich auch gar nicht mehr darüber nachgedacht, ob man irgendwo bleibt, man bleibt eben nicht, sondern man ist in Bewegung und niemandem irgendetwas schuldig, sich selbst nicht und jemand anderem auch nicht, und dabei raucht man auch noch die ganze Zeit. Regie: Musik. Massive Attack Autor: Im September 1998 erscheint "Sommerhaus, später" von Judith Hermann, ein kleines Taschenbuch im S. Fischer-Verlag. Zur Buchvorstellung in einem Café in Ostberlin kommt nur eine Handvoll Zuhörer, fast alle sind Freunde der Autorin. Niemand ahnt, dass sich dieses Bändchen innerhalb weniger Wochen zu einem der größten Erfolge der deutschen Gegenwartsliteratur seit Jahrzehnten entwickeln wird. Judith Hermann, 28 Jahre alt, hat als erste den Ton einer neuen Generation getroffen, die in die Zeit nach dem Fall der Mauer hineinwächst, und zwar auf der westlichen Seite - eine Generation, der alles offen zu stehen scheint, die aber gleichzeitig sehr müde und überfordert ist. O-Ton 4: Lesung "Sommerhaus, später" (JH, anderer Raum) Er war dabei. Und auch nicht. Er gehörte nicht dazu, aber aus irgendeinem Grund blieb er. Er saß Modell in Falks Atelier, legte Kabel auf Annas Konzerten, hörte Heinzes Lesungen im Roten Salon. Er applaudierte, wenn wir applaudierten, trank, wenn wir tranken, nahm Drogen, wenn wir sie nahmen. Er war auf den Festen dabei, und wenn wir rausfuhren, sommers, in die schäbigen, schiefen, kleinen Landhäuschen, die sie bald alle hatten, und auf deren morschen Zäunen "Berliner raus!" geschmiert war, kam er mit. Und ab und an nahm ihn einer von uns mit ins Bett, und ab und an sah einer zu. Autor: Das "Wir", das hier spricht, ist nur scheinbar stark. Es gibt immer ein merkwürdig klebriges Gefühl am Gaumen, und die Luft ist ein bißchen stickig. Die Protagonisten in diesen Erzählungen haben alles schon gesehen, sie sind herumgekommen in den Geheimnissen, die die Welt einmal zu bieten hatte. Die Karibik ist ihnen genauso selbstverständlich geworden wie einzelne Straßenzüge in Lower Manhattan. Doch sie kommen mit ihren Erfahrungen nicht nach. Die Informationen werden gespeichert, und man steht ein bisschen daneben, weil man nicht so recht weiß, was man da tut. Deshalb ist in diesen Erzählungen immer ein Grauschleier spürbar, ein ständiger November. Wer ein karges Café am Helmholtzplatz betritt und unwillkürlich den Mantelkragen ein bisschen enger um die Schultern zieht, ist daheim. Regie: Musik. Tom Waits: Downtown Train Autor (auf Musik): Als Motto für die Erzählungen in "Sommerhaus, später" dienen zwei Zeilen aus einem frühen Lied von Tom Waits: O-Ton 5: JH 1:11:30-1:11:35 The doctor says, I'll be alright, but I'm feelin blue. Regie: Musik. Tom Waits: Downtown Train O-Ton 6: Lesung "Sonja" (JH, anderer Raum) (auf Musik) Sie hatte vielleicht fünfzig Leute eingeladen, ich war mir sicher, dass sie mit den wenigsten wirklich befreundet war. Aber es war eine Zusammenstellung von Gästen, Gesichtern und Charakteren, die dazu führte, dass dieses alte Mietshaus an der Spree sich irgendwann von der Wirklichkeit zu lösen schien. Empfindungen dieser Art sind mir eigentlich fremd, doch manchmal - sehr selten - gibt es Feste, die man nicht vergisst, und Sonjas Fest war ein solches. Aus drei oder vier fast leeren Zimmern schien Kerzenlicht, irgendwo sang Tom Waits, ich war überhaupt nicht betrunken, und dennoch begann alles - zu schwimmen. Autor: Irgendwo singt Tom Waits. Das ist kein Zufall. Tom Waits singt in "Sommerhaus, später" sehr oft, das braucht gar nicht ausdrücklich benannt zu werden. Alles scheint durchdrungen von einer leicht atonalen, vom Country herkommenden Musik, ein bisschen schräg und schwebend. Sie entspricht der Atmosphäre dieser ersten Jahre nach dem Fall der Mauer in Berlin, und sie entspricht dem Lebensgefühl der jungen Judith Hermann, das sie in ihren Erzählungen in einem so suggestiven Ton umkreist. Das scheinbar Unbestimmte und Vage, die schwebenden, ungreifbaren Stimmungen in ihren Texten haben gleichzeitig etwas verblüffend Konkretes. Regie: Musik. Tom Waits O-Ton 7: JH 17:49-19:03 (auf Musik) Die hatte so was Unordentliches und Provisorisches (...). Mir kommt so vor - die ganze Stadt war ja eben so provisorisch, ne Aufbruchstimmung, und das hatte alles etwas Provisorisches und so was Unvollkommenes. Und in dem Unvollkommenen lag natürlich ne ganz große Schönheit. Und dieses Tom Waits-Stück erschien mir damals ähnlich. Es war alles ein bisschen nächtlich. Das passte zum Tom Waits, dass der eben auch so nächtliche Musik machte. Das passte zu Berlin. Das hatte alles so was von der immer vernebelten und verregneten Düsternis, also dieser Zeit, wenn ich mich erinnere, dann scheint mir das alles immer neblig und düster gewesen zu sein. (...) Ich hatte eigentlich immer diese Neigung zum Verhangenen, Dämmerigen und Verdämmerten, und dann war Tom Waits die genau richtige Begleitmusik. Autor: Das Elternhaus von Judith Hermann in Westberlin ist stark von klassischer Musik geprägt. Ihr Vater arbeitet als freier Journalist beim Sender Freies Berlin, er schreibt kleine Features und Beiträge zu philosophischen Themen. O-Ton 8: JH 29:45-29:58 Er war ziemlich viel zu Hause und studierte lange und las viel und spielte zwischendurch Klavier für sich. Autor (zunächst frei, dann auf Musik: Bach, Das wohltemperierte Klavier): Auch Judith Hermann nimmt früh Klavierunterricht, sie spielt ihre ganze Jugend hindurch Klavier und entscheidet sich bald, Musik zu studieren - an der Hochschule der Künste. Das Klavier ist ihr Hauptinstrument. O-Ton 9: JH 24:20-24:45 Ich nahm an, es würde mich irgendwohin führen. (...) Und dann hab ich mich (...) für dieses Lehramtsstudium beworben, für das man schon ganz schön viel können muss. Bin dann beim zweiten Mal genommen worden. Mit Beethoven, Schostakowitsch und Bach. Autor: Judith Hermann zieht nach der Schule aus ihrem Elternhaus aus - genau im Jahr 1989, dem großen Umbruchsjahr, in dem die Mauer fällt. Da fällt etwas sehr subjektiv Biographisches mit den äußeren politischen Umständen zusammen: der Wechsel ist persönlicher wie allgemeiner Natur. Wenn sie beschreibt, was sie erlebt, was sie fühlt, wie sie sich wahrnimmt, erfasst sie unwillkürlich die gesellschaftliche Atmosphäre gleich mit. Regie: Musik. David Bowie: Changes (Refrain, länger stehenlassen. Kann als eine Art Jingle benutzt werden) O-Ton 10: JH 13:47-15:16 (zunächst noch über David Bowie. Dann leiser Übergang zu Tom Waits, aus "Rain Dogs", z.B. Track 1 "Singapore") Ich kann mich erinnern, und das war vielleicht so etwas wie ein Initiationserlebnis, dass ich Freunde hatte, und die hatten einen weißen Mercedes-Benz. Und mit diesem alten weißen Mercedes-Benz sind wir nach Potsdam gefahren, ziemlich häufig, und haben ganz lange Spaziergänge gemacht in Sanssouci in diesem Park, und auf der Fahrt von Berlin-Neukölln, wo ich damals wohnte, (...) nach Potsdam hörten wir in diesem weißen Mercedes-Benz Tom Waits - und zwar die "Rain Dogs" von Tom Waits, diese "Rain Dogs"-Platte, und die hörten wir rauf und runter. Das war eine Zeit, in der man - das gibt's heute überhaupt nicht mehr - dass man unentwegt immer wieder ein- und dieselbe Platte hört, als würde einem das auch in einem endlosen Dialog eine ganz ganz lange Geschichte erzählen oder so, das hatte so eine komische ausgedehnte Gültigkeit. Man konnte das eben immer hören die ganze Zeit, es wurde einem nicht zuviel. Wir haben das in diesem Auto gehört, wir haben unsere Wohnungen und WGs bezogen und haben die Zimmer gestrichen und haben diese Musik aus so einem Kassettenrecorder gehört, während wir die Zimmer strichen, daran kann ich mich erinnern. Wir haben gekocht und haben die "Rain Dogs" gehört und haben auf dem Balkon gesessen und unentwegt diese Kassette gehört. Autor: Es ist eine Zeit der Verheißungen, aber auch eine der großen Verunsicherungen. Um 1990 fühlt man sich in Berlin wie im Auge des Taifuns. O-Ton 11: JH 36:30-38:41 (auf Musik von Tom Waits) Es war wirklich wie ein so aufgehobener - alles, was festgestanden hatte, war eben aufgehoben und war in so ner Warteschleife, und dann passierte ja erstmal ne ganze Weile, vielleicht ein, zwei, drei Jahre lang, vier, wenig. Es passierte natürlich ganz viel. Aber für mich, die ich zwanzig Jahre alt war, da ist ja sowieso die Zeit so sehr - man steht ja im Zentrum aller Dinge. Alles, was um einen herum passiert, passiert ausschließlich in Bezug auf einen selber. Und Zeit läuft ja ganz anders als heute. Und wenn ich an die Zeit denke, habe ich das Gefühl, dass es einen langen Stillstand gab. In dem ich ganz viel Zeit hatte, mich ganz langsam zu bewegen. (...) Ich weiß nicht, wir waren irgendwie - also so in Stimmungen. Wir haben über nichts nachgedacht. Wir waren glaub ich sehr egozentriert und jeder auch in bestimmter Weise jeder für sich so isoliert. Also wir haben uns inszeniert und haben über unsere Stimmungen nachgedacht. Über so Atmosphäre, Lichtverhältnisse oder so was. Also so etwas rein - ziemlich Konturloses. Das Abschreiten von Plätzen. (...) Wir waren immer alleine in Sanssouci. Es war niemand je in diesem Park außer uns. Ich fand's gut, einen Weg entlangzulaufen und die andern Drei gingen einen anderen Weg und dann sah ich die aus der Ferne. Regie: Musik. Massive Attack, Track 1: Safe from Harm. O-Ton 12: Lesung "Sonja" (JH, anderer Raum) (auf Musik) Wir zogen von einer nächtlichen Bar in die nächste, tranken Whisky und Wodka, und manchmal löste sich Sonja von meiner Seite, setzte sich an einen anderen Platz an der Bar und tat so, als würde sie mich nicht kennen, bis ich sie unter Lachen zurückrief. Sie wurde ständig angesprochen, entzog sich aber immer und stellt sich mit stolzer Miene wieder neben mich. Mir war das völlig egal. Ich fühlte mich durch ihre seltsame Attraktivität geschmeichelt, ich beobachtete sie mit beinahe wissenschaftlichem Interesse. Manchmal, denke ich, hätte ich mir gewünscht, sie mit einem dieser Verehrer verschwinden zu sehen. Sie aber blieb in meiner Nähe, solange, bis es draußen hell wurde und wir die Bar verließen, die Augen gegen das graue und strähnige Morgenlicht zukneifend. (...) Heute denke ich, dass ich in diesen Nächten wohl glücklich war. Ich weiß, dass sich die Vergangenheit immer verklärt, dass die Erinnerung besänftigend ist. Vielleicht waren diese Nächte auch einfach nur kalt und in zynischer Weise unterhaltsam. Heute aber kommen sie mir so wichtig vor und so verloren, dass es mich schmerzt. Autor: Die ersten Jahre nach 1989 sind für Judith Hermann die Jahre des Musikstudiums. O-Ton 13: JH 23:30- 24:00 (zunächst frei, dann auf J.S. Bach, Wohltemperiertes Klavier, Sommerhaus-CD, Track 6) Ich hatte (...) die Vorstellung eines irgendwie künstlerisch gearteten Daseins. Ich wusste gar nicht, was das sein soll, das war nur in meinem Kopf so festgesetzt. Ich glaub, es hieß nichts anderes als: Ich möchte mich nicht entscheiden. Ich möchte auch nicht unbedingt etwas leisten. Ich war relativ disziplinlos auch und dann dachte ich, ich hab immer schon Klavier Klavier gespielt, seit 14 Jahren spiele ich Klavier, und ich war einigermaßen musikalisch. Autor: Doch das Studium verläuft etwas anders, als sie es sich vorgestellt hat. Man sitzt Tag für Tag in der Hochschule, von früh bis spät, vor dem Klavier und übt. Ein anderes Leben gibt es nicht. Man muss mit dem Klavier wirklich zusammensein wollen. O-Ton 14: JH 26:00-27:40 (zunächst frei, dann auf J.S. Bach, Wohltemperiertes Klavier) Ich kann mich erinnern, dass ich einmal rauskam aus der HDK, und es hatte draußen geschneit, und es war alles weiß und ich hatte es gar nicht mitgekriegt. Ich hab nicht einmal aus dem Fenster gesehen gehabt den ganzen Tag. Und auf diese schwarz- weiße Tastatur, ohne dass ich dabei ne besonders große Freude empfunden hätte. Da hab ich deutlich das erste Mal gedacht, dass ich etwas falsch mache. (...) Diese Besessenheit hab ich nicht. Ich bin nicht besessen genug. Ich bin zu unruhig. Ich bin nicht einig genug mit mir selber. Regie: Musik. David Bowie: Changes (Refrain, als eine Art Jingle). Autor: Nach zwei Jahren bricht Judith Hermann ihr Musikstudium ab. Ihr Interesse verlagert sich, es verlagert sich auch auf eine andere Musik. Es ist nicht nur Tom Waits. O-Ton 15: JH 19:25-20:00 (zunächst frei, dann auf The Beatles, Rocky Raccoon) Ich erinnere mich, dass das zweite Album, das wir ständig gehört haben, das Weiße Album der Beatles war. Dass an meiner Tür an meiner Wohnung - ich hatte zeitweilig eine Mitbewohnerin - da stand an der Tür mein Name, ihr Name und der dritte Name an der Tür war "Rocky Raccoon". Ich erinnere mich daran, dass der Postbote mich irgendwann fragte, wer Rocky Raccoon sei und warum der niemals Post kriegen würde - ganz schön, für uns war das so: das wär's gewesen, so mit Rocky Raccoon zu leben, das war irgendwie das Lieblingslied, das konnten wir auch auswendig und hörten das immerzu. Das war sozusagen der euphorische Anteil. Regie: Musik. The Beatles, Rocky Raccoon. O-Ton 16: JH 1:31:18-1:31-35 Man machte Musik an, wenn man weg ging! Wenn man aus dem Haus ging, machte man Musik an und ließ die Musik laufen, wenn man losging. Ich bin ganz oft losgegangen und habe die Tür zugemacht und in der Wohnung lief die Musik, und ich ging los und konnte die Musik noch unten im Haus hören, und dann war ich aus'm Haus. Autor: Im Jahr 1989 macht eine Westberliner Band von sich reden. Im September nimmt sie ihre erste Platte auf, und diese Platte ist für die nächsten ein, zwei Jahre so etwas wie der Soundtrack dieser Stadt. Sie steht für eine unbestimmte Sehnsucht nach den neuen Weiten des Ostens. O-Ton 17: JH 45:09-45:15 Es gab so Balkananklänge. Balalaikamusik war das eben. Regie: Musik. Poems for Laila: Another Poem for the 20th Century. O-Ton 18: JH 44:22-44:44 (auf Musik): Gerade die erste Platte hat man damals ganz oft auch irgendwie woanders gehört. Es war eine Stimme und eine Musik, die zu dieser Zeit wirklich so ganz parallel auf diese Zeit raufgeschrieben gewesen ist. Autor (auf Musik): Judith Hermann begegnet Nicolai Tomás, den Sänger der Gruppe "Poems for Laila". O-Ton 19: JH 39:45-40:10 Also, als ich ihn kennenlernte, wusste ich nicht, dass er Musik - als ich ihn kennenlernte, trug er einen Trompetenkoffer, und dann wusste ich, dass er ein Musiker ist. Das hat mich wahrscheinlich angezogen. Aber ich wusste nicht, was für Musik er macht. Regie: Musik: Poems for Laila: Another Poem for the 20th Century (frei stehen lassen) O-Ton 20: JH 45:42-45:50 Ich fänd am schönsten das Another Poem for the 20th Century. Da singt er ganz alleine zur Gitarre. Das ist ganz schön. Wirklich schön. Regie: Musik: Poems for Laila: Another Poem for the 20th Century (frei stehen lassen) O-Ton 21: JH 40:10-41:31 (auf Musik): Dann haben wir geheiratet ein Jahr später, und ich bin eine ganze Weile mit dieser Band auf Tour gewesen, aber nicht als Musikerin, sondern als so Merchandising und Tour-Management-Person. (...) Das war eine ganz romantische Eingebung, und wir haben auch ganz romantisch in Las Vegas geheiratet, in der Little White Wedding Chapel. Und wir wurden getraut von jemand, der aussah wie Elvis Presley in seinen letzten Jahren, und das sollte auch so sein, weil Nicolai ein ganz großer Elvis- Verehrer gewesen ist, bis heute ist, und es ganz schön fand, sich von Elvis Presley trauen zu lassen. Das war sicherlich romantisch, aber es war auch ganz ernst gemeint, und wir haben diese Heirat auch hier in Deutschland anerkennen lassen. Also ich war jung, aber ich - tja, was soll ich sagen - ich war nicht blöde. Ich war nicht überspannt. Und ich habe auch nicht noch mal geheiratet. Ich habe nur dieses eine Mal geheiratet. Regie: Musik: Poems for Laila: Another Poem for the 20th Century (frei stehen lassen) O-Ton 22: Lesung "Sonja" (JH, anderer Raum) Als der Monat verstrichen war, packte ich einen kleinen Koffer und fuhr nach Hamburg. Ich machte der völlig überraschten Verena einen atemlosen Heiratsantrag, und sie nahm ihn an. Ich blieb drei Wochen lang, reiste mit ihr zu meinen Eltern und verkündete unsere Hochzeit für den März des kommenden Jahres. Verena buchte eine Hochzeitsreise nach Santa Fe, stellte mich ihrer entsetzlichen Mutter vor und teilte mir mit, dass sie meinen Namen aber nicht annehmen werde. Regie: Musik. Poems for Laila. O-Ton 23: JH 45:12-45:20 Das machte eben dann gen Osten die Grenzen auf und das war möglicherweise das, was so in diese Zeit gepasst hat. Autor (auf Musik): Das Buch "Sommerhaus, später" nimmt bereits in seiner äußeren Erscheinung die unbestimmten Sehnsüchte auf, nach Balalaikaklängen und den noch nicht ausgemessenen, weiten Projektionsflächen des Ostens. Auf dem Einband sieht man ein russisch anmutendes Holzhaus, mit gedrechselten und geschnitzten Ornamenten, die an entfernte Meere und Seen zu gemahnen scheinen, und das Autorenfoto von Judith Hermann auf der Innenseite ist berühmt geworden - nicht zuletzt durch den Pelzkragen, der inmitten der Kälte und des in Berlin übermächtigen, allgegenwärtigen herbstlichen Graus ein wenig Wärme und Geborgenheit verspricht. Auf den Lesungen von Judith Hermann, die völlig überfüllt sind, tauchen verblüffend viele weibliche Zuhörer mit solchen Pelzkragen auf. Und gleich die erste Geschichte des Buches, "Rote Korallen", beginnt mit dem Bild der einsamen Urgroßmutter in St. Petersburg: O-Ton 24: Lesung "Rote Korallen" (JH, anderer Raum): Das Licht in der großen Wohnung auf dem Malyi-Prospekt war ein Dämmerlicht, es war ein Licht wie auf dem Grunde des Meeres, und meine Urgroßmutter mag gedacht haben, dass die Fremde, dass Petersburg, dass ganz Russland nichts sei als ein tiefer, dämmeriger Traum, aus dem sie bald erwachen werde. O-Ton 25: JH 50:40-52:20 Und dann fuhren eben diese Autos. Also diese Autofahrten, die gingen dann nicht nur nach Potsdam, sondern weiter, aus Berlin raus dann ins Umland. (...) Dieser ungewisse Horizont, den hatte es schon immer gegeben, und plötzlich konnte man in ihn so hineinfahren. (...) Es war wie so eine komische Hülle um meine Stadt herum. Meine Stadt kam mir natürlich groß vor, und dann ging es aus ihr raus und dann plötzlich war sie so klein und ich ging aus ihr raus und fuhr so in dieses Ungewisse hinein. Mit Musik. Regie: Musik. Edwyn Collins: Never know a girl like you before (Sommerhaus- Soundtrack Track 4) O-Ton 26: Lesung "Bali-Frau" (JH, anderer Raum) Christiane jedenfalls hat an diesem Abend, an dem du nicht mitkommen wolltest, vor mir getanzt. Sie drehte das Radio auf und tanzte zu Never know a girl like you before, Cheerleadergesicht, offenes rotes Haar, sie lachte, sie sah sehr schön aus. Regie: Musik. Edwyn Collins: Never know a girl like you before (Sommerhaus- Soundtrack Track 4) O-Ton 27: Lesung "Bali-Frau" (JH, anderer Raum) Die Stimme von Edwyn Collins klang brüchig, ich rauchte drei Zigaretten hintereinander. Regie: Musik. Edwyn Collins: Never know a girl like you before (Sommerhaus- Soundtrack Track 4) O-Ton 28: Lesung "Sommerhaus, später" (JH, anderer Raum) Stein hatte für jede Strecke eine andere Musik, Ween für die Landstraßen, David Bowie für die Innenstadt, Bach für die Alleen, Trans-AM nur für die Autobahn. Regie: Musik. Edwyn Collins: Never know a girl like you before (Sommerhaus- Soundtrack Track 4) O-Ton 29: JH 52:00-54:00 Im Grunde ist dieses ins Auto-Steigen und eine Kassette Einlegen und Gas geben und Losfahren, das ist so, dass man sich unentwegt die eigene Filmmusik sozusagen komponiert oder zusammenstellt. Man ist immerzu der Hauptdarsteller in seinem ganz eigenen Road-Movie und in dem Moment, in dem die Musik angeht, bestimmt die Musik, was jetzt zu fühlen ist. Man sucht es sich ein bisschen aus, indem man die oder die Kassette einlegt. Und dann spielt die Musik und man folgt ihr. Man folgt ihr auch mit dem Gefühl und dem Bewusstseinsszustand. Das haben wir gemacht. Nichts anderes haben wir und ich gemacht, und nichts anderes hab ich später gedacht, wenn ich die Leute aus "Sommerhaus, später" diese oder jene Musik hab hören lassen. Und ich hab's mir beim Schreiben so leicht gemacht, wie wir es uns vielleicht (...) in der Realität leicht gemacht haben. Anstatt zu beschreiben, wie es genau gewesen ist, mit dem Auto von Berlin in Richtung Angermünde immer geradeaus auf dieser total deprimierenden Landstraße - das hab ich nicht beschrieben, weil es auch ganz schwer ist zu beschreiben. Ich hab gesagt, die hören diese und jene Musik. Regie: Musik. David Bowie, Life on Mars? (Refrain, frei stehen lassen) Autor: Die Zeit mit "Poems for Laila" ist die Zeit des ersten Aufbruchs von Judith Hermann. Doch es folgen noch weitere. O-Ton 30: JH 41:44-42:50 Es kann sein, dass dieses permanente Erleben von Nicolais Alltag, der ganz - Nicolai lebte wirklich ein Musikerleben, also der war eben Musiker. Bis heute ist es eben sein Beruf und er übte das aus und er liebte das und es war seine Leidenschaft. Und er beschäftigte sich von früh bis spät mit nichts anderem, und je deutlicher ich das sah, desto deutlicher sah ich, dass es meines nicht ist. Und ne Zeitlang war das auszuhalten und miteinander in Einklang zu bringen. Ich konnte gut mit ihm und dieser Band auf Tour gehen und hab das auch gut gefunden und war glücklich damit. Und irgendwann hatte ich aber deutlich das Gefühl, ich müsse was Eigenes und dann tatsächlich in doppelter Hinsicht - in Hinsicht auf die Ablösung von meiner Familie und auch auf die Ablösung von ihm, von Nicolai, müsse ich eben was Eigenes finden. Etwas machen, was nur mit mir zu tun hat und nicht noch mit irgendjemand anderen sonst. Regie: Musik. David Bowie, Changes (Refrain, als eine Art Jingle. Vor nächsten O- Ton ausblenden) O-Ton 31: Kompass, Track 3, 0:45-1:07 Auch im Hof Nr. 26 grünt es. Männertreu, Geranien und Rosen gedeihen auf Beeten, eingerahmt von Pflastersteinen. Auf dieser Seite ist die Mauer bemalt, zwischen Rhododendron-Büschen leuchten Gartenzwerge, und auf einem kleinen Schuppen hält ein Porzellanhund Wacht. All das verdanken die Mieter ihrem Hauswart Werner Finesske. Autor: Judith Hermann bewirbt sich an einer Berliner Journalistenschule und wird angenommen. O-Ton 32: Kompass, Track 1, 16:28: chinesische Musik. O-Ton 33: Kompass, Track 1, 2:53-3:09 Feng Shui lehrt, die positiven bzw. negativen Einflüsse aus der Umwelt zu erkennen und damit umzugehen. Angefangen von der Wahl des Wohnortes über den Hausbau, das Einrichten des Domizils bis hin zur Stellung des Schreibtischees und des Bettes. Regie: Kompass, Track 1, 16:28: chinesische Musik. O-Ton 34: Kompass, Track 1, 1:32-2:01 Feng-Shui-Berater: Um zu verhindern, dass das jetzt stehenbleibt und der Raum stickig wird sozusagen, haben wir hier nen neuen Abzug geschaffen, hier durch das Nachbarfenster, um den wir ein rotes Tesa-Band drumrumgeklebt haben, und die Sachen funktionieren ein bisschen auch - die wirken aufs Unterbewusstsein. Judith Hermann: Deswegen sollte Shi dazu angeregt werden, in das Haus einzudringen und es auf verschlungenen Wegen zu durchfließen, bevor es das Haus auf der entgegengesetzten Seite wieder verlässt. Regie: Kompass, Track 1, 16:28: chinesische Musik. O-Ton 35: JH 1:25-1:34 Diese Beiträge die ich gemacht habe (...) fürs Deutschlandradio, die hab ich mit ner Bandmaschine geschnitten. Autor: Judith Hermann landet beim Radio. Mehr als ein Jahrzehnt später, im Sommer 2009, blickt sie in einer Zweistundensendung am Samstagabend zurück. O-Ton 36: LCB, CD 1, 25:09-25:39 + 26:39-27:45 -(...)Ich wollte Reisereportagen schreiben, das war das, was ich eigentlich machen wollte, und hab dann aber versagt in der Reporterklasse, also ich hab ganz schlechte Reportagen geschrieben, und dann wurde ich sozusagen ans Radio verwiesen und stellte dann plötzlich fest, dass ich im Radio ganz glücklich war. (...) -Wie kam es dazu, dass Sie als Reisereporterin versagt haben, was bedeutet das? Wurden Sie einfach auf eine Reise geschickt und... -(...)ich durfte mir ein Thema suchen und ich habe eine Reportage geschrieben über eine Kaserne in Werneuchen, die verlassen war. Also da ist alles schon angelegt, was dann später in den Büchern --- eine verlassene ehemalige russische Kaserne, und da war überhaupt kein Mensch mehr. Aber auf dieser Kaserne gab es einen, der war wirklich besessen, einen Fluglehrer, einen ehemaligen NVA-Piloten, der dort davon träumte, eine große Utopie hatte, eine Flugschule aufzumachen und den Leuten das Fliegen beizubringen. Und bis es soweit war, grasten da die Schafe auf dem Hangar. Und fuhr seine kleine Tochter mit dem Dreirad über die Rollbahn. Und das Gras wucherte irgendwie über die Platten, und ich verlor mich glaub ich dermaßen - ich hatte so eine Fülle von Bildern, dass ich mich nicht entscheiden konnte und alle auf einmal in diese Reportage reingesteckt habe, und das war zuviel. Wirklich zuviel. Regie: Musik. David Bowie: Life on Mars (Refrain, länger stehenlassen) Autor: Was in der Luft liegt, ist Anfang der neunziger Jahre nicht mehr zu verkennen. Judith Hermann zieht es immer stärker nach Ostberlin. O-Ton 37: JH 46:58- Also Poems for Laila war tatsächlich so ganz doll Westberlin. Und die Volksbühnenszene war eben ganz doll Ostberlin. Und es gab - ich wohnte in der Solmsstraße in Kreuzberg - und ich arbeitete dann, also als ich anfing aufzuhören, Musik zu studieren und mich aus den Touren mit Poems for Laila so rauszog, musste ich dann irgendwie selber Geld verdienen und arbeitete in einer Kneipe in Ostberlin, in der Husemannstraße im Prenzlauer Berg. Regie: Musik. David Bowie. Filmmusik zu "Die Kinder vom Bahnhof Zoo" O-Ton 38: JH -49:08 (auf Musik): Und dann fuhr ich immer mit der U-Bahn bis zur Stadtmitte und Stadtmitte stieg ich um die U2 die heute bis zur Vinetastraße fährt. Und damals, das gibt es heute auch noch, sieht aber heute anders aus, gibt es einen ganz langen Gang zwischen dieser Westberliner Linie und der Linie, die dann nach Ostberlin ging. Einen ganz langen Tunnel durch den man entlangmusste, um die Linie zu wechseln. Und das war ein Tunnel, ein Gang, der war ziemlich verrottet und heruntergekommen und sehr schlecht beleuchtet, ganz lang und dunkel und irgendwie auch so nasskalt. Und es hatte so eine künstlerische Aktion gegeben, dass an den Wänden links und rechts die Namen der Weltstädte in Lautschrift standen: Madrid Budapest Barcelona Paris Tokio New York. Und ich kann mich daran erinnern, dass ich immer von Westberlin nach Ostberlin durch diesen Tunnel ging, also von Kreuzberg zum Prenzlauer Berg hin, und das Gefühl hatte, ich gehe auch wirklich durch so ne Zeitmaschine. Also wie so ein Tunnel so tatsächlich ein Verbindungsglied zwischen der einen und der anderen Welt. Es war wirklich so zwei Welten ganz doll. Und dieses Gehen durch den Tunnel und an diesen lautschriftlich geschriebenen Weltstädten vorbei hatte etwas irre Theatralisches. Ich wurde jedes Mal vollkommen meiner eigenen Identität enthoben. Ich konnte absolut während dieser hundert Schritte jeder sein und nicht ich selber. Autor: Diesen Weg durch den Tunnel hat Judith Hermann in ihren literarischen Texten nie beschrieben. Aber dies "irre Theatralische" findet sich in vielen Momenten in "Sommerhaus, später". Die "Volksbühne" am Rosa-Luxemburg-Platz spielt eine große Rolle in diesem Buch. Anfang der neunziger Jahre konzentriert dieses Theater alles, was an Widersprüchlichem in Berlin aufeinanderstößt; hier sammeln sich alle Energien, das Anarchische, das Chaotische, das Durcheinanderwirbeln der Zeiten. O-Ton 39: Lesung "Bali-Frau" (JH, anderer Raum) Im Sternenfoyer waren lange Tische aufgebaut, es gab unwahrscheinliches Essen und Kühlschränke voll von Wodka und vereisten, kleinen Gläsern, sie hatten eine russische Blaskapelle engagiert und Rotlicht eingeschaltet. Regie: Musik. David Bowie (Filmmusik zu "Die Kinder vom Bahnhof Zoo") O-Ton 40: Lesung Bali-Frau (JH, anderer Raum) (auf Musik): Ich sagte: Du kokst zuviel, und er sagte: Wo ist er, dieser Regisseur. Der Regisseur stand an der Bar. Er war groß und dick und verkommen, er rauchte eine Zigarre und trank Whisky, er hatte diesen verlotterten Altmännersex, dem Christiane sich nie entziehen konnte, und er war berühmt. Ich deutete mit dem Finger auf ihn und sagte: Das ist er und Markus Werner brach in hysterisches Gelächter aus und sagte: Natürlich. Ich sah den Regisseur an, ich dachte an die zahllosen Regisseure und Dramatiker und Schauspieler und Bühnenbildner, die an Christianes und meinem Küchentisch gesessen, unter unserer Dusche gestanden, in unseren Betten gelegen hatten, ich dachte an ihre Stimmen auf unserem Anrufbeantworter, an ihre nächtlichen Schläge gegen unsere Tür, an die zerschmissenen Gläser und ungelesenen Briefe; ich dachte, dass immer irgend etwas nicht genug war, auch diesmal würde irgend etwas nicht genug sein. Regie: Musik. David Bowie. O-Ton 41: JH 49:08-50:10 (auf Musik) Und in Ostberlin war eben alles ganz anders. Ich kellnerte in dieser Kneipe in der Husemannstraße und kriegte dort Kontakt zu einer ganz gewissen Szene in Ostberlin, die fast ausschließlich aus Ostberlinern bestand, ein bisschen so eine Künstler - halb semi-intellektuell-Literaten-Szene. Und über die gelangte ich dann an die Volksbühne. Und dann gab es ne ganze Zeit, in der ich mich eigentlich in zwei Welten aufhielt, so'n bisschen fast so, na ja, es war sehr zweigeteilt. Es gab wirklich dieses alte Kreuzberg, in dem ich mich ganz beheimatet und fast schon so kindlich wohl und zuhause und behütet fühlte, und dann gab es das sehr wilde und nächtliche Ostberliner Leben, was mich anzog und was mich ein bisschen gefährdete und dem ich mich vielleicht doch seelisch mehr verwandt fühlte. Regie: Musik. David Bowie: "Life on Mars?" (Refrain, frei stehenlassen). Autor: Die Zeit als Szenegängerin in der Volksbühne - das ist wie ein zweiter Aufbruch von Judith Hermann. Regie: Musik. David Bowie. "Changes" oder "Life on Mars?" O-Ton 42: JH 1:24:17-1:26:13 (auf Musik) Ja, die Hunky Dory war das. Die haben wir auch gehört, ganz viel. (...) Ich lieb sie, ich find sie wirklich toll, (...) so ne Musik die was merkwürdig Euphorisches hat, wo - das fand ich auch ganz jung, ganz optimistisch, ganz - wie so erleuchtet. So komisch auch, verrückt, natürlich klingt. Diese Platte haben wir damals viel gehört. Das ist der ganz junge David Bowie. (...) Obwohl ich das mit den Ostberliner Freunden gehört hab, David Bowie. Kann sein, dass die dann auch noch mal auf bestimmte Weise, auf andere Weise - ich hab mit denen viel Musik gehört, mit den Ostberliner Freunden. Viel David Bowie und Lou Reed und dann auch nochmal in einer dritten Phase Tom Waits. (...) Solche Sachen. Ich mich mich vielleicht einfach ein bisschen mit an den Rand gesetzt, zu deren Weise, dann 1990, 91, 92 Musik zu hören. Regie: Musik O-Ton 43: Lesung: "Bali-Frau" (JH, anderer Raum) Auf dem Stern in der Mitte der Tanzfläche hockte ein Mädchen und schlug immerzu den Kopf auf den Boden, ihre Stirn war blutig, und sie weinte und redete wirres Zeug. Das Buffet war leer. Auf dem roten großen Sofa vögelte eine Schauspielerin mit einem Bühnenarbeiter, der Bühnenarbeiter schwitzte und auf dem Rücken seines T- Shirts, an dem die Schauspielerin wie verzweifelt riss, war Mike Tyson abgebildet, der Holyfield ins Ohr biss. Regie: Musik. Polly Jane Harvey: To Bring you my Love (Intro, lange frei stehen lassen. Dann Stimme von P.J. Harvey) O-Ton 44: JH 1:31:05-1:31:14 Zum Teil haben wir so bestimmte Schreie von Polly Jane Harvey auf unserem Anrufbeantworter gehabt. Regie: Musik. Polly Jane Harvey: To bring you my love Zitatorin (auf Musik): Der Künstler legt eine CD ein. In den Lautsprecherboxen knackt es, Polly Jane Harveys Stimme kommt von sehr fern - Is that all there is? Depressionsmusik, denkt Marie und überlegt, ob sie das jetzt laut sagen sollte. Der Künstler kreist um sie herum, er sieht sehr selbstzufrieden und sicher aus, er beobachtet sie und zieht ein spöttisches Gesicht. Regie: Musik. Polly Jane Harvey: To bring you my love O-Ton 45: JH 1:27:44-1:29:15 Na, heute staun ich sowieso darüber, wie leichtfertig ich - aber ich find's auch gut. Das ist vielleicht auch das, was das Schreiben eines ersten Buches so für einen selber so auszeichnet, dass man das alles macht, man eignet sich das alles an. Wenn ich das heute so höre, ist es ein bisschen - richtig verlegen nicht, aber n bisschen verlegen macht es mich. Ich denke dann daran, woher ich das hab, und wo ich dieses Stück gehört habe, und was ich für das Stück empfand, und ein ganz klein bisschen beschämt es mich, das einfach so genommen zu haben und so mit reingesetzt zu haben in den Text. Zack, Stückwerk. Und dann schreib ich diesen Satz dahin "Depressionsmusik". Eigentlich ist es auch grob. Aber auf der anderen Seite find ich's eben auch gut. Erstens ist es sowieso nicht mehr rückgängig zu machen, zweitens ist es eben so bei den ersten Sachen, die man macht, glaube ich. Und es ist Depressionsmusik für mich damals gewesen hinsichtlich des Textes, als hinsichtlich des Satzes eben. Soll das alles sein? So, das fragen die sich ja da ständig angenervt und gelangweilt, diese Figuren aus diesem Buch, so, das war's jetzt oder was. Na, dann zieh ich mir mal die Jacke an. Und geh woanders hin. Und das ist irgendwie so ne Haltung, na, die - großartig, ja. Regie: Musik. Polly Jane Harvey: To Bring you my Love Zitatorin (auf Musik): Marie hört auf zu atmen, und er küsst sie auf den Mund. Marie ist sehr nüchtern. Er ist es wohl auch. Auf dem Bildschirm des Computers erscheint der Kuss, zeitverzögert und lautlos, graue Wiederholung eines Augenblicks. Marie schaut jetzt doch hin, am Gesicht, an den geschlossenen Augen des Künstlers vorbei auf den Bildschirm, auf dem sich sein Gesicht an ihres schmiegt, ihr Gesicht verdrängt, sie die Augen öffnet, in Schwarzweiß. (...) Im Zimmer ist es warm. Über dem Schreibtisch hängen Schichten von kleinen Papieren, der Künstler irgendwo im Süden, ein blondes, pausbäckiges Kind auf dem Arm. Es ist schade, denkt Marie, dass man die Dinge immer nur einmal zum ersten Mal sieht. Der Künstler zieht Marie vom Stuhl hinunter auf den Boden. Marie hat irgendwann nur noch ihre hochhackigen Stiefel an, und dann auch diese nicht mehr. Auf der Bildfläche des Computers ist eine Bücherwand zu sehen, die Rückenlehne eines leeren Stuhls, ein Fenster, draußen ein dunklerer Himmel. Regie: Musik. P.J. Harvey (vor der folgenden Autor-Passage ausblenden) Autor: Judith Hermanns Figuren merken nicht oft, wenn sie Dinge zum ersten Mal sehen, aber manchmal gibt es ein leichtes Frösteln. Im Gegensatz zu vielen Popautoren dieser Zeit steht bei ihr nicht die Pose im Mittelpunkt, sondern der Zweifel. Die Melancholie. 480 000 Mal wird "Sommerhaus, später" gleich in der ersten Phase verkauft, es wird in 17 Sprachen übersetzt - da dauert es eine Weile, bis Judith Hermann wieder ein neues Buch vorlegt. Im Jahr 2003 erscheint "Nichts als Gespenster" als gebundenes Buch, nicht mehr als Taschenbuch, und die Erzählungen, sieben an der Zahl, sind länger geworden und ausladender. Aber Erzählungen sind es immer noch. O-Ton 46: Lesung "Wohin des Wegs" (JH, anderer Raum) Obwohl es mich müde macht, immer und immer wieder die alten Geschichten zu erzählen, kann ich nicht widerstehen und erzähle sie doch. Autor: Da ist sie wieder, diese Verletzbarkeit. "Nichts als Gespenster" nimmt den Ton aus "Sommerhaus, später" auf. Es wirkt zunächst wie jene zweite Single, die die erste Single, die ein großer Hit war, kopiert. Aber es gibt einen Unterschied: es sind nun keine Fünfundzwanzigjährigen mehr, sondern Dreißigjährige, und es kommt keine Musik mehr vor. Nur noch das Motto des Buches stammt wieder aus einem Musikstück. O-Ton 47: JH 1:11:25-1:13:00 Also, "Sommerhaus, später" hat ja dieses Tom Waits: "The doctor says, I'll be allright but I'm feeling blue". Und das ist ja ein Stillstandsmotto. Und so was ganz Eindimensionales. Wenn man es vor den Ohren hat, das Beach-Boys-Stück, was das Motto für "Nichts als Gespenster" ist: "Wouldn't it be nice" - dann ist das so etwas Orchestrales. Also was ganz Strahlendes! Und heiter und verrückt optimistisch und so. Richtig glücklich, beglückte Musik, oder? (...) Und das weiß ich, dass ich so weit bei Bewusstsein war, das zu wollen. Aus der verstaubten, spinnwebdurchzogenen Tom Waits-Ecke da raus und eben so eine ganz strahlende, gleißend helle Musik im Vergleich zu der Dämmerung der Tom-Waits-Stücke als ein Motto fürs Buch haben zu wollen. Und der Text "Wouldn't it be nice if we could live here make this the kind of place where we belong" soll für mich das beschreiben, was die Figuren in "Nichts als Gespenster" umhertreibt, also so dann doch das Bedürfnis, aus dem Auto auszusteigen und die Kassette auszumachen und irgendwo anzukommen, wo man keine Stimmungsmusik mehr nötig hat. Regie: Musik. Beach-Boys: Wouldn't it be nice. Autor: Die Personen sind älter geworden und haben bestimmte Entwicklungen genommen. Doch letztlich sind es dieselben geblieben. Judith Hermann erfindet zwar etliche Figuren und Situationen, aber im Grunde erfindet sie nichts. Ihre Texte leben von Stimmungen und Atmosphären, die aus der Wirklichkeit destilliert werden und durch die Subjektivität der Autorin hindurchgegangen sind. O-Ton 48: JH 1:09:05-1:10:06 Es ist schon so, dass es dieses Lebensgefühl weiter fortsetzt. Dass das mehr oder weniger wohl Wiedergänger sind, Nachfolger. Also die Figuren aus "Nichts als Gespenster" Wiedergänger oder Nachfolger der Figuren aus "Sommerhaus, später". Ich bin einfach sehr eng gebunden an meine autobiographischen Anlagen. Es gibt diesen schönen Satz von Alice Munro, die es so zusammenfasst und sagt: in ihrem Schreiben sei die Anlage autobiographisch, aber nicht das Detail. Das find ich immer so ganz simpel und einleuchtend, und ohne meine Sachen mit Alice Munros Büchern vergleichen zu wollen, ist es bei mir wohl so gewesen. Dass die Gefühlswelten der Figuren aus "Nichts als Gespenster" meinem Leben entsprechen dann (...) so in den ersten Jahren ab 30. Autor: Judith Hermann zieht sich nach dem großen Erfolg, nach der großen Lesereise mit "Sommerhaus, später" völlig zurück. Als sie wieder in Berlin ist, sucht sie sich ein anderes Leben. Der Kontakt zur Volksbühnen-Szene reißt mehr oder weniger ab. Im Jahr 2001 wird ihr Sohn geboren, und ihm ist das zweite Buch "Nichts als Gespenster" auch gewidmet: "Für Franz". O-Ton 49: JH 1:33:50-1:34:34 Jetzt ist er bei Bob Dylan auch angelangt und geht aber grade wieder zurück zu den Beatles. Also er bewegt sich auf seinen kleinen Eisschollen so hin und her und entdeckt das so. Und was ich dann natürlich ganz schön finde ist, ihm zuzusehen, wie er so ein Lied hört wie "I can't get no satisfaction". Und dann holt er mich und sagt: Hör dir das mal an! Er ist 8. Also, und dann find ich es sehr schön, weil er's hört wie der erste Mensch. Also es ist ihm überhaupt nicht klar, dass es das Abgenutzteste von der Welt ist (...) und das ist wirklich schön. Ich kann es dann in dem Moment so hören, jedenfalls im Bruchteil einer Sekunde, wie er. Zitatorin: Es ist schade, denkt Marie, dass man die Dinge immer nur einmal zum ersten Mal sieht. Regie: Musik. Massive Attack, Track 1: Safe from Harm (länger frei stehenlassen). Autor: "Sommerhaus, später" - dies ist die mythische Zeit von Judith Hermann. Es ist die Zeit einer unwiederholbaren Musik. In ihren späteren Büchern, in "Nichts als Gespenster" und dem 2009 erschienenen "Alice", schreibt Judith Hermann die Porträts ihrer Generation fort, wie in Echtzeit. Sie werden langsam älter, sie müssen sich langsam entscheiden, sie stoßen überall auf die Zwänge des Alltags. Die Sätze sind jedes Mal raffinierter, die Szenen differenzierter, ausgefeilter, Judith Hermann schaut immer genauer hin. Ihre Bücher werden immer literarischer, doch ihre Figuren hören keine Musik mehr. Die Zeit von "Sommerhaus, später" wirkt heute sehr fern. Im Jahr 2001, drei Jahre nach dem sensationellen Debüt, erhält Judith Hermann den Kleist-Preis, und das ist für sie ein Schnitt. O-Ton 50: JH 1:07:30-1:08:21 Als ich den Kleist-Preis bekam, das war ja sehr viel später, da durfte ich eine ganz persönliche - heute scheint's mir merkwürdig - so wie eine Art Revue veranstalten im Deutschen Theater. Und da hab ich mir gewünscht, dass Jürgen Kuttner auftritt, und das tat er auch, und ich hab mir meine Freundin Christiane gewünscht, dass sie "Just a perfect day" singen sollte, und das tat sie auch. Und das war irgendwie - Schluss. Danach war wirklich Feierabend. Also das war so ne absolute - im Grunde wie fast schon so ne Travestie auf diese ganze Zeit für mich. (...) Das kulminierte irgendwie so darin: in Christiane und in Kuttner und im Deutschen Theater, und im anschließenden Komplett-Absturz in der Kantine des Deutschen Theaters, und danach waren wirklich die Lichter aus. Dann war was vorbei. Regie: Musik. Edwyn Collins: Never know a girl like you. 24