KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Verlassene Geschichten Das frühe Prosawerk des Siebenbürgers E. Schlattner Autor : Beate Ziegs Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 17.07.2012 Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Orthographie und Grammatik in den Zitaten entsprechen den Quellen, denen sie entnommen sind. MUSIK Musik kurz frei, dann weiter unter Text ZITATOR Ein Mensch stieg den steilen, gedehnten Berghang in die Höhe. () Neben ihm sprang in mächtiger Wölbung die Fläche der Sprungschanze in den Abgrund. Sie war glatt gestampft. Die absinkende Sonne warf ihr Licht auf das körnig grobe Band, das böse gleißte. () Das abgemagerte Gesicht () war knabenhaft jung. Große fiebernde Augen () brannten darin. () In dünnen Zügen nur pump- ten die Lungen Luft in den Körper. Er achtete nicht darauf. Unablässig hastete er weiter.1 ERZÄHLERIN Gernot ist ein schmächtiger, lungenkranker Proletarier aus ärmsten Verhältnis- sen. ZITATOR Ihre Habseligkeiten füllten kaum die Wohnküche, die die Mutter in einem ho- hen und verzweigten Haus mit verschachtelten Höfen gemietet hatte. () Un- zählig viele [Menschen] () waren es, die in nebeneinander und übereinander geschichteten Stuben hausten, darinnen sie selbst nebeneinander und über- einander geschichtet ihre kargen Stunden verbrachten.2 ERZÄHLERIN Hin und wieder kommt Wilhelm vorbei: ein stämmig gewachsener Arbeiterjun- ge mit Schultern so breit und fest wie Brücken. Leidenschaftlich lehnt er sich gegen die Unterdrückung seiner Klasse auf und beschwört das Bild einer grundlegend erneuerten und gerechten Gesellschaft herauf. Gernots wahre Hoffnung aber ist Elisabeth. ZITATOR Ein junges Geschöpf, aufgewachsen in der giftigen Luft elterlichen Zwistes in einem gepflegten Haus, in dem Geld alle Lebensfragen zu lösen hatte.3 ERZÄHLERIN Die Liebe zu dem Mädchen wird zur Metapher für den Versuch, aus eigener Kraft die Niederungen der Herkunft hinter sich zu lassen und in eine andere, bessere Welt emporzusteigen. Aber Gernots Verfassung verschlechtert sich; irgendwann beginnt er Blut zu spucken. Als er Elisabeth, die er für seine ein- zige Rettung hält, um Unterstützung bittet, weist diese ihn rüde ab. ZITATOR Die glasfeste Luft, in die sein Körper einschoß, staute sich, zerbrach, hämmer- te auf ihn ein, bohrte sich in seine Haut. () Sein Mund, gräßlich aufgerissen, suchte vergeblich Luft in seine zitternden Lungen zu saugen. () Zu spät kam der entsetzte, erdrosselte Schrei der Sinne: Luft! Luft!! Luft!!! Das Gehirn hatte seine letzte Kraft verpfändet. - ersticke. Ein halber, stürzender Gedanke.4 Musik noch einmal kurz hoch, dann weg O-TON 1: Eginald Schlattner Odem habe ich geschrieben in Erinnerung an eine Klassenschülerin, die blon- de Cornelia, die so in ihre Geige verliebt war, dass sie keinen Blick dafür hat- te, dass andere in sie verliebt waren und die mich einmal so schnöde abge- wiesen hat - "Eher hänge ich mich auf, als mit dir Freund zu sein!" -, dass ich tags darauf, es war Januar, zwei Tage wirklich ins Schneegebirge gegangen bin und eine gefährliche Nacht draußen verbracht habe. ERZÄHLERIN Eginald Schlattner, geboren 1933, ist einer der letzten Siebenbürger Sachsen, die nach dem Ende des Ceausescu-Regimes Rumänien nicht verlassen ha- ben. Er arbeitete als Ingenieur, studierte dann Theologe, wurde Dorfpfarrer in Rothberg/Rosia und ist seit über 20 Jahren als Gefängnisseelsorger tätig. 1998 erschien mit Der geköpfte Hahn der erste Band seiner Romantrilogie; 2000 folgte Rote Handschuhe, 2005 Das Klavier im Nebel. Die Romane er- zählen, wie der nationalsozialistische Fanatismus der Siebenbürger Sachsen den Untergang ihrer eigenen Welt herbeiführt; sie schildern die Zeit der Zwangsdeportationen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung eines frisch verhafteten Studenten zum willfährigen Werkzeug des Repressionsap- parates der rumänischen Diktatur unter Gheorghiu-Dej. Als Vorlage diente Eginald Schlattner seine weit verzweigte Familie - und sein eigenes Leben. Die Trilogie wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt, der Roman- cier selbst als ein Spätdebütant gefeiert, der wie ein Komet aus den Tiefen Transsylvaniens die internationale literarische Bühne erobert. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lag bis vor kurzem in einem großen Koffer auf dem Pfarrhof in Rothberg: von Mäusen angenagte Manuskripte aus einer bis dahin fast unbekannten Schaffensperiode des Autors. Darunter auch die Erzählung Odem, die Seite für Seite von der Zensur genehmigt war und Anfang 1958 veröffentlicht werden sollte. O-TON 2: Eginald Schlattner Es gibt kein biografisches, personenhaftes oder milieumäßiges Vorbild für die- se 100 Seiten, in die ich diese Geschichte verpacken musste im Kontext des sozialistischen Realismus, also einer Ideologie, die auch Vorgaben hatte für alles, was sich als Literatur ausweisen musste: Der Junge aus armen Verhält- nissen, der Vater Eisenbahnarbeiter, die Mutter Wäscherin - das gab es ja. Über arme Leute hat man gelesen. Man hat sie zwar nicht erlebt und nicht be- sucht, aber man hat darüber gelesen. Und ich habe mir dieses also dann so zusammenkonstruiert, dass ich mir sagte: "Damit kann die Zensur zufrieden sein." ERZÄHLERIN Im April 1956 hatte die deutschsprachige Tageszeitung Neuer Weg ein Preis- ausschreiben ausgelobt. In der Ausschreibung hieß es unter anderem: ZITATORIN Wenn wir heute auch mit einiger Genugtuung auf einen weitaus günstigeren Stand des literarischen Schaffens in deutscher Sprache blicken können als früher, dürfen wir uns dennoch der Tatsache nicht verschließen, dass unsere Literatur noch hinter dem stürmischen Entwicklungsschritt des neuen Lebens zurückgeblieben ist. () In immer höherem Masse verlangen [unsere Werktä- tigen] nach der künstlerischen Gestaltung der fortschrittlichen und revolutio- nären Traditionen der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen ().5 O-TON 3: Michaela Nowotnick Diese proletarische Kultur gab es im rumäniendeutschen Umfeld im Grunde genommen nicht. Und das war ein tatsächliches Problem, weil man die Lite- ratur neu erfinden musste. Also man musste neue Themen heraussuchen, die irgendwie aus diesem proletarischen Umkreis kamen. Und man musste neue Autoren finden. ERZÄHLERIN Michaela Nowotnick, Literaturwissenschaftlerin aus Berlin. Sie verwaltet den Vorlass von Eginald Schlattner und hat den Inhalt des Koffers mit den von Mäusen angenagten Manuskripten ausgewertet. Herausgekommen ist eine zweibändige Werkausgabe, die im Schiller-Verlag erschienen ist. Band I unter dem Titel der gleichnamigen Erzählung Odem, Band II unter dem Titel Mein Nachbar, der König. Verlassene Geschichten. Zu jedem der insgesamt sieben Texte hat Michaela Nowotnick eine Einführung geschrieben, in der sie auch auf die Entstehungsgeschichte eingeht. O-TON 4: Michaela Nowotnick Jetzt war für Schlattner natürlich das Problem: Wo kriegt man den Proletarier her? Bei Odem ist es so, dass er sich ganz stark an Fallada orientiert hat. Er lässt es in Kronstadt ansiedeln, in Brasov, und beschreibt dann die großen Hinterhöfe mit den hohen Häusern und den wie Bienen summenden Fenstern - und das gibt es in Kronstadt nicht. Das gibt es in ganz Siebenbürgen nicht. So etwas gab es noch nicht mal in Bukarest damals in dem Sinne. Das ist dem Lektorat so nicht aufgefallen. Sie haben manchmal ein bisschen korrigiert dahingehend, das Haus ist nicht so hoch und das Kind kann nicht so hoch gucken und so. ERZÄHLERIN Die Grenzen zwischen Lektorat und Zensur waren fließend. Schriftsteller und Lyriker waren ständigem Argwohn und Unterdrückung ausgesetzt. Vor allem in der Willkürherrschaft unter Gheorghiu-Dej war es völlig unberechenbar, wer heute als regimetreu und morgen als innerer Feind galt. So konnte es eine Frage des Überlebens sein, auf Bestellung zu reimen und zum Beispiel eine Ode auf Stalin zu dichten. Als Newcomer hatte Eginald Schlattner nicht mit derlei Repressalien zu rechnen. Allerdings bestand das Lektorat auf inhalt- lichen Änderungen. O-TON 5: Michaela Nowotnick Zu der Hauptfigur Gernot gibt es ja noch die Parallelfigur Wilhelm. Der sollte bei Schlattner ursprünglich im Kugelhagel beim Streik ganz groß untergehen. Und das hat ihm das Lektorat komplett rausgestrichen, weil man Wilhelm wohl noch für den Klassenkampf brauchte. Den konnte man jetzt nicht so einfach untergehen lassen im Nichts. (lacht etwas) Und die Mutter von Gernot, die war dem Lektorat zu sehr als Lumpenproletarierin beschrieben. Und das steht auch direkt als Randbemerkung: Die Mutter stammt nicht aus dem Lumpen- proletariat, sondern ist eine echte Proletarierin; und die müsse man jetzt so und so darstellen. ERZÄHLERIN Beim Preisausschreiben der Zeitung Neuer Weg reichte Eginald Schlattner die Erzählung Gediegenes Erz ein. Darin fordert er die Minderheit der Siebenbür- ger Sachsen dazu auf, sich der Mehrheit zu öffnen und macht Vorschläge, wie man sich in das volksdemokratische Rumänien eingliedern kann, ohne die ei- gene Identität zu verlieren. Es ist ein Weckruf. ZITATOR "Wir erwachen in den Wirren eines Aufbruchs. () Du staunst - wie viele -, daß die glatte, gepflegte Promenade einem rauhen Weg gewichen ist. Heute Weg - morgen Straße." Und dann fügte [Helmut] entschlossen hinzu: "Warum sollen wir es nicht sagen? Das Leben vieler von uns ist unbequemer, rauher, härter, das Leben von uns allen aber ist sauberer und gerader gewor- den, und wir sind wieder alle gleich."6 ERZÄHLERIN Was wie plumpe Propagandaliteratur anmuten mag, ist in Wirklichkeit Aus- druck einer existentiellen Seinsfrage, mit der die rumäniendeutsche Minder- heit damals konfrontiert war. In den 1930er Jahren hatte sich Rumänien aus- senpolitisch dem nationalsozialistischen Deutschland zugewandt; 1938 wur- den sämtliche Organisationen der Rumäniendeutschen politisch gleichge- schaltet und zur "Deutschen Volksgruppe" zusammengeschlossen, die ab 1940 direkt der Hoheit Berlins unterstand. Bis zum 23. August 1944 war Ru- mänien ein Verbündeter Hitlers. An diesem Tag jedoch wechselte das Land in Anbetracht der vorrückenden Roten Armee die Fronten. O-TON 6: Eginald Schlattner Und in dem Augenblick waren wir als Deutsche Volksgruppe eine Fünfte Ko- lonne. Wir haben viele Rechte verloren, zivile Rechte, wir durften nicht wählen; man hat uns sofort alles beschlagnahmt. Radio, Fahrräder, dann Autos usw. MUSIK Musik steht als Zäsur kurz frei, dann unter Text ausblenden ERZÄHLERIN Das literarische Preisausschreiben fiel in eine kurze Phase politischen Tau- wetters, die sich vor allem nach dem Tode Stalins 1953 bemerkbar machte. Rumänische Zeitungen und Verlage hatten wieder deutschsprachige Abteilun- gen, auch Kulturarbeit in deutscher Sprache war wieder möglich. Schlattner selbst, der damals in Klausenburg Hydrologie studierte, gründete 1957 den "Literaturkreis Josef Marlin". Dieses Forum, in dem unter dem wachsamen Au- ge der Rumänischen Arbeiterpartei neuere deutschsprachige Literatur gelesen und diskutiert wurde, kann als ein Vorläufer der "Aktionsgruppe Banat" be- zeichnet werden, die 1972 ins Leben gerufen wurde und zu der zeitweilig auch Herta Müller gehörte. Ähnlich wie später die "Aktionsgruppe", wurde auch Egi- nald Schlattners Literaturkreis von der Securitate wegen vermeintlicher "anti- sozialistischer Umtriebe" gewaltsam aufgelöst. Das letzte Treffen fand im Mai 1958 statt. Bis dahin war der Literaturkreis für weit über 100 Studenten eine zentrale Plattform inmitten einer Periode gesellschaftlichen Umbruchs. O-TON 7: Eginald Schlattner Da ging es jetzt nicht unbedingt um die Zukunft des Sozialismus aus sächsi- scher Sicht gesehen, sondern umgekehrt: um die Zukunft von uns Sachsen im Sozialismus. Das war das Primäre: Was aus uns wird, nicht, was aus dem So- zialismus wird, der sowieso wurde. ZITATOR "Ob wir es diesmal schaffen werden?" Jetzt () zieht Armin, der in der Mitte, in dem gequälten, rauchigen Schein der Lampe sitzt, die Blicke zu sich. () "Ob wir als Schlacke auf die Abraumhalde der Geschichte geschaufelt wer- den, oder ob wir noch soviel gediegenes Erz in uns haben, um als Edelstoff abzustechen, wenn auch nur als winziges, jedoch eingefügtes Korn, das im riesigen Bau einer gestalteten Welt ein kleines, aber zweckhaftes Spant zu werden vermag." () Es ist sehr still in der Stube. Wie ernst sie sitzen, jeder in den Atem eigener geschauter Gedanken gehüllt.7 ERZÄHLERIN Eginald Schlattner gewann den vierten Platz in der Kategorie "Skizzen, Erzäh- lungen, Novellen und Literarische Reportagen". Mit den ersten Plätzen wurden Andreas Birkner, Paul Schuster und Hans Bergel bedacht. Alle drei waren zu der Zeit bereits bekannt und renommiert, Eginald Schlattner hingegen ein völ- liger Neuling. Das fiel auch dem Staatsverlag für Literatur und Kunst auf - ru- mänisch "Editura de Stat Pentru Literatura Si Arta", kurz ESPLA genannt - und nahm Eginald Schlattner unter Vertrag. Michaela Nowotnick: O-TON 8: Michaela Nowotnick Es gab ja durchaus verschiedene Verlage im Rumänien der 1950er Jahre; und der bedeutendste ist dieser Editura de Stat Pentru Literatura Si Arta. Und der hat hauptsächlich Autoren veröffentlicht, die schon einen gewissen Ruhm und Ruf hatten wie Andreas Birkner und Erwin Wittstock, also Leute, die sich auch verkauft haben. Die hatten auch ein ganz großes Vertriebssystem - klar, als Staatsverlag - und hatten auch Lizenzausgaben, die sie in die DDR geschickt haben. Also da gab es einen regen Austausch. Und das ist tatsächlich er- staunlich, dass Schlattner als absoluter Debütant gleich beim Staatsverlag an- genommen werden sollte. ZITATORIN Bucuresti, den 4. März 1957. Lieber Genosse Schlattner! Wir haben nun Ihr sehr interessantes und schönes Manuskript "Gediegenes Erz" lektorisiert und beeilen uns, ihnen dieses und das Ergebnis unserer ein- gehenden Analyse zukommen zu lassen (). Wir möchten betonen, dass wir gerade Ihre besonders eigenwüchsige, kühne Sprache sehr wohl als eines der starken und lebendigen Ausdrucksmittel Ihrer schriftstellerischen Begabung würdigen. () Sollten Ihnen manche der Anmerkungen als allzu streng und tra- ditions- bzw. Duden-hörig erscheinen, so liegt es selbstverständlich bei Ihnen, das organisch Gewachsene Ihres Stils nicht zu opfern. () Wir schließen aus Führung und Wesensart Ihres Stils auf ein sehr verantwortungsbewusstes Sprachgefühl, das durch angeborene Aufrichtigkeit und langgewohnte Zucht und Pflege jeder Manier und Effekthascherei abhold ist."8 ERZÄHLERIN Aus dem Arbeitsprotokoll des Lektorats der ESPLA. Der recht salbungsvollen Einleitung folgt eine lange Liste mit Korrekturvorschlägen. Zum Beispiel wird kritisiert, dass das Reflexivpronomen "sich" zu oft kurz vor der Satzaussage steht. ZITATORIN Es scheint dies aber eine Eigenheit der gehobenen Sprache im siebenbür- gisch-sächsischen Sprachraum zu sein, die nicht selten in Schrift und Rede sächsischer Pfarrer zu finden ist. Auf ein nicht sächsisches Ohr wirkt diese Ausdrucksweise jedoch störend ().9 ERZÄHLERIN Auch an der siebenbürgisch-sächsischen Art der Verneinung nimmt das Lek- torat Anstoß: aus "Nicht weiß man" möge er doch bitte "Man weiß nicht" ma- chen und zudem Saxonismen wie den Begriff "Paradeiser" für "Tomaten" un- terlassen. Desweiteren wird der junge Nachwuchsstar belehrt, dass die häufi- ge Verwendung von Auslassungspunkten zu einer "großen Unart" im Rumäni- schen geworden sei, die unter keinen Umständen ins Deutsche übernommen werden dürfe. Kurzum: So sehr ihm einleitend nahegelegt wird, das "organisch Gewachsene" seines Stils nicht zu opfern, wird genau das letztlich von ihm er- wartet. Eginald Schlattner hatte kaum Einwände - was sein Schaden nicht sein sollte: Beide Erzählungen sollten 1958 im Staatsverlag veröffentlicht wer- den; in den Zeitungen waren sie bereits abgekündigt. Aber dann wird Eginald Schlattner am 28. Dezember 1957 verhaftet. Einige Wochen später nimmt die ESPLA den Druckauftrag zurück, sodass die Erzäh- lungen erst fast 55 Jahre später in den Buchhandel gelangen. Den Grund sei- ner Verhaftung kann Eginald Schlattner bis heute nicht nennen. O-TON 9: Eginald Schlattner Das ist ein Rätsel bis heute. Ich kann Ihnen keine Antwort geben. MUSIK Musik steht als Zäsur kurz frei, dann weiter unter Text ERZÄHLERIN Eginald Schlattner ist auf dem Weg zur Universität, als er inhaftiert wird. In sechs Monaten hätte er seine Staatsprüfung zum Hydrologen ablegen sollen. Stattdessen folgen zwei Jahre und zwei Tage Untersuchungshaft im Gefäng- nis der Securitate in Kronstadt, damals "Stalinstadt". Sieben Quadratmeter, kaum Licht, kein Hofgang, Nachtverhöre. Er wird so lange zermürbt, bis er sich schließlich freiwillig zu den Verhören meldet und 1959 als einer von mehreren Belastungszeugen im Hochverratsprozess gegen die fünf Schrift- steller Andreas Birkner, Harald Sigmund, Hans Bergel, Wolf von Aichelburg und Georg Scherg auftritt. Sie werden zu insgesamt 95 Jahren Haft verurteilt, 1968 allerdings als nicht-Regime-feindlich rehabilitiert. Musik kurz hoch, dann weg Aber auch Eginald Schlattner wird verurteilt: wegen Nichtanzeige von Hoch- verrat. Er erhält zwei Jahre Zuchthaus, auf die die Untersuchungshaft ange- rechnet wird. Sein Vermögen wird beschlagnahmt. Und es werden ihm für fast 11 Jahre die Bürgerrechte aberkannt. Das bedeutet unter anderem, dass er sein Studium erst 1969 abschließen darf und sich lange Zeit als Tagelöhner durchschlagen muss. Später wird sich Eginald Schlattner der Zeit seiner Haft als dem dunkelsten Kapitel seiner Biographie in seinem Roman Rote Handschuhe stellen. Ohne Beschönigung, Erklärung oder Verklärung seines Verhaltens. International macht der Roman als "hochbrisantes Dokument" und Portrait einer "diaboli- schen Epoche" Furore. Vor allem aus den Kreisen der nach Deutschland ausgewanderten Siebenbürger Sachsen schlägt ihm jedoch überwiegend Feindschaft entgegen. Oder ist es Neid, weil die Roten Handschuhe so er- folgreich sind? Jedenfalls ist immer wieder von "Verrat" die Rede, obwohl laut "Gesetz zur Aufarbeitung der Verbrechen der Securitate" Aussagen, die unter dem Druck der Haft gemacht wurden, nicht als Kollaboration gelten. Und ob- wohl die Akten erst vor einigen Jahren freigegeben wurden und noch lange nicht ausgewertet sind. Michaela Nowotnick gehört zu den wenigen, die sich die Mühe gemacht haben, sie genau zu studieren. O-TON 10: Michaela Nowotnick Es gibt Dossiers, die weit vor seiner Verhaftung angelegt wurden. Also was man mit Sicherheit sagen kann ist, dass er schon lange vor seiner Verhaftung observiert wurde. Und sicher ist auch, dass er diese Rolle, als Zeuge auszusa- gen im Schriftstellerprozess, nicht von Anfang an zugeschrieben bekommen hat. Zumindest war die Idee gewesen, ihn selber auch als Schriftsteller zu ver- haften, also quasi als sechsten Mann. Aber wie genau das jetzt zusammen- hängt und warum man es als wirkungsvoller erachtete, ihn als Zeugen aussa- gen zu lassen und nicht als Schriftsteller zu verhaften, da weiß man bislang zu wenig überhaupt über die Arbeit der Securitate. ERZÄHLERIN Nach seiner Entlassung 1959 wird ihm jede Möglichkeit, seinen schon begon- nenen Weg als Schriftsteller fortzusetzen, verwehrt. Er schreibt trotzdem wei- ter. Zum Beispiel die Erzählung Das Apfelbett, die ebenfalls zu den von Micha- ela Nowotnick herausgegebenen Verlassenen Geschichten gehört. ZITATOR Es passierte am Samstag und war ein Malheur, man konnte es nur so nennen. Wahrlich, eine böse Stunde, die jegliches Maß und jegliche Ordnung verleug- nete.10 ERZÄHLERIN Das Desaster, von dem hier die Rede ist, tritt in Gestalt einer jungen Pfarrers- frau auf, die sich außerstande zeigt, sich so zu benehmen wie es ihrem Stand gebührt. Das ist für den ebenfalls noch jungen Pfarrer um so peinlicher, als er neu im Dorf ist und seine Würde erst noch beweisen muss. Kein Wunder also, dass er ständig an seiner Frau herummäkelt. ZITATOR "Dorothea", zischte der Pfarrer, "nimm dich zusammen. Schau, dort kommt der Herr Kurator." Gut, daß ich trotz der Hitze den Anzug genommen habe, dachte er bei sich, und, hoffentlich benimmt sich Dorothea manierlich. "Sei also freundlich, mein Kind, und lächle, lächle ..." "Wenn es mir kommt", antwortete sie. 11 ERZÄHLERIN Es kommt ihr nicht. Schlimmer noch: Als er ihr später in aller Ausführlichkeit darlegt, was sie bei der Begegnung mit dem "Herrn Kurator" alles falsch ge- macht hat, bricht sie mitten auf dem Dorfplatz einen Streit vom Zaun. ZITATOR Sie hörte ihm zu, fast genauer als er sich selbst. Denn plötzlich unterbrach sie ihn, und ihre Stimme war ganz heiß: "... und dann habe ich den Herrn Kurator angegähnt und auch noch seine Kuh dazu verführt, das unanständige Vieh, und dann ..." "Das habe ich schon erwähnt", fiel er ihr ins Wort. "Nein, das hast du noch nicht erwähnt." "Ich werde mich ja erinnern, was ich gesagt habe." "Du erinnerst dich eben nicht, wie es sich zeigt", sagte sie. "Also ich, der ich den ganzen Tag rede, werde doch wissen, was ich rede." "Gar nicht weißt du, was du redest. Und überhaupt nicht, was du mit mir re- dest. Denn so wie mit mir, so redest du mit niemandem auf der Welt. Daß es zum Himmel schreit." "Wohin schreit es?" "Zum Himmel!" rief Dorothea. "Schrei bitte nicht so. Siehe, die Leute werden aufmerksam. () Sollten wir nicht lieber zu Hause im Amtszimmer ..." "Das ist es ja: Im Amtszimmer, im Amtstone, so redest du mit mir, deiner Frau, von früh bis abends und auch noch in der Nacht und auch noch im Traum." "Aber Dorothea, beruhige dich, mein Kind, sieh die Leute ..." "Gar nicht: mein Kind. Und nicht: Dorothea! Meine Mutter sagt mir Dorle. Und die Leute - laß sie nur sehen und hören. Sie sollen alle wissen, wie ein Pfar- rer seine Frau behandelt." () Inzwischen hatte sich Volk um sie versammelt, neugierig auf die neuen Pfar- rersleut. "Wie gut sie sich unterhalten", äußerte eben ein Bauer im Dialekt. Und viele murmelten Zustimmung. Die Hochsprache war für das Kirchenvolk von feierlicher Fremdheit.12 ERZÄHLERIN Eginald Schlattner schrieb die Geschichte 1967, als er in Freck als technischer Zeichner arbeitete. Erst sechs Jahre später beginnt er das Studium der Theo- logie, und erst weitere fünf Jahre später, 1978, wird er Dorfpfarrer. Das Apfel- bett ist demnach eine erstaunliche Vorwegnahme seiner eigenen Zukunft. O-TON 11: Eginald Schlattner Ich muss sagen, dass ich jetzt Neues an mir entdecke, dass es mir auch ge- lungen ist, jenseits meiner persönlichen Erfahrungen und Betroffenheit fiktive Ereignisse, Vorkommnisse, auch Milieus so zu schildern, als ob sie real wä- ren. Und ich meine, jetzt, wo ich mich diesen Texten nähere, habe ich schon das Gefühl, dass hier manches vorgeformt ist, was dann in den Romanen sich ausgewirkt hat. ERZÄHLERIN 1968, elf Jahre nach dem jähen Abbruch seiner Karriere als Schriftsteller, versucht Eginald Schlattner wieder Anschluss an das literarische Leben zu gewinnen und bewirbt sich mit der Erzählung Jemand steht immer im Weg bei einem Wettbewerb der rumäniendeutschen Zeitschrift Neue Literatur. Aber er erhält nicht einmal eine Antwort - und gibt das Schreiben auf. O-TON 12: Eginald Schlattner Ein Jahr später habe ich den Ingenieur in der Tasche gehabt und hing auch nicht mit meinem Selbstwertgefühl von meinen Schreibereien ab, war auch froh, dass ich das jetzt hinter mir hatte. Es ist ja doch ein Gewurschtel und man muss sich überlegen und nachdenken. Und war eigentlich froh, dass ich jetzt ein schönes, ruhiges, bürgerliches Leben führen kann im Sozialismus, mit Tee trinken und mit Bücher lesen und mit Ausflügen und Frau und Tochter und Autochen und einem guten Posten in der Fabrik. ERZÄHLERIN Die Zäsur dauerte gut 20 Jahre. Mit den politischen Umbrüchen von 1989 und 1990, dem Sturz des Ceausescu-Regimes, beginnt Eginald Schlattners zweite Schaffensperiode. Der Exodus der Siebenbürger Sachsen macht vor Rothberg nicht halt: Plötzlich bleibt die Kirche leer. Schlattner flüchtet sich in Erinnerun- gen, schreibt auf, was droht verlorenzugehen. In dieser Zeit entsteht auch die Erzählung Mein Nachbar, der König, nach der der zweite Band der Werkaus- gabe benannt ist. Darin setzt sich Eginald Schlattner humorvoll damit ausein- ander, wie fremdartig Siebenbürgen und seine Bewohner auf Außenstehende wirken. Schauplatz ist ein zwar kirchliches, aber dennoch nobles Erholungs- heim in Österreich, in dem eines Tages ein älterer Herr und ein jüngeres Paar Logis nehmen. MUSIK Musik steht minimal frei, bleibt wie eine Atmo im Hintergrund ZITATOR Woher die drei neuen Gäste kamen und wer sie waren, blieb ungewiß. Ein je- der spürte, es sind Fremdlinge. Zugereiste von sehr anderswo. Woran nichts änderte, daß sie untereinander hochdeutsch sprachen. Wer spricht schon hochdeutsch in deutschen Landen? () Jedoch! Die Neunmalklugen wußten bereits alles: Arme Schlucker sind es - seht euch den klapprigen Mercedes an, der ist zwanzig Jahre alt. Und: Aus dem fernen Osten kommen sie, dort zieht man sich so vorsintflutlich an! Dunk- ler Zweireiher! Das ist bei uns nicht einmal beim Begräbnis Mode. Und immer sitzen sie zusammen, typisch rußisch, aber sie singen nie. Die Übergescheiten wußten es besser: Aus Afrika kommen sie, aus Rhode- sien, seht euch das Kennzeichen auf dem Auto an, RO. Der alte Mercedes? Reiche Snobs vom schwarzen Erdteil. Es soll dort auch Weiße geben.14 Musik steht noch einmal kurz frei, dann weg ERZÄHLERIN Ohne Zweifel hat Michaela Nowotnick einen kleinen Schatz gehoben, als sie den Koffer mit den Manuskripten fand. Das gilt vor allem für die frühen Texte. O-TON 13: Michaela Nowotnick Das, was man hier im Westen kennt, wo natürlich das hauptsächliche Lese- publikum ist für solche Texte, das ist die Zeit unter Ceausescu; also kaum je- mand weiß, dass es davor auch noch eine Zeit gab in Rumänien. Das Pro- blem ist die Archivlage. Zum Beispiel wäre es ja sehr interessant zu schauen, welche Manuskripte bei der Neuen Literatur oder beim Neuen Weg damals gelandet sind, die dann nicht gedruckt wurden. Aber da die Archive momen- tan nicht auffindbar sind, vielleicht sogar nie mehr auffindbar, kann man das nicht sagen. Das ist so wie ein großes Schwarzes Loch, in das man nur sto- chernd und vermutend hineinsehen kann. ERZÄHLERIN Unveröffentlichtes von Eginald Schlattner hat Michaela Nowotnick hingegen bereits auf dem Tisch. O-TON 14: Michaela Nowotnick Und zwar hat er so eine Art offizielles Tagebuch geschrieben, wo er die Erleb- nisse des Tages - zum Beispiel auch diese ganzen Wendezeit-Erlebnisse - und seine Anschauungen verarbeitet hat. Und da sind so kleine Prosatexte dabei herausgekommen; manchmal sehr essayistisch, manchmal sehr prosa- isch, manchmal mit Gedichten gespickt. Und dann gibt es natürlich auch noch die Predigten, die zum Teil sehr ausufernd bei ihm sind und wo er von der Person, die beerdigt wird, im Grunde genommen auf die gesamte Geschichte der Siebenbürger Sachsen kommt. (lacht etwas) Also dieser kleine Mikrokos- mos in dem großen Makrokosmos der Siebenbürger Sachsen. O-TON 15: Eginald Schlattner Hören Sie, wenn ich schreibe, fühle ich überhaupt nichts. Erstens habe ich kein Publikum vor mir. Ich habe nicht einmal mich selbst vor mir. Ich falle ein- fach aus der Zeit. ERZÄHLERIN Vielleicht so, wie auch der junge Pfarrer in der Erzählung Das Apfelbett "aus der Zeit" fällt, als er am Ende des langen, zermürbenden Tages voller Streite- reien mit seiner Frau kurz innehält, bevor er sich niedersetzt, um die Sonn- tagspredigt zu schreiben. ZITATOR Der Pfarrer stand genau zwei Glockenschläge still, die eben vom Turme ge- dämpft hereinglitten. Aber das war eine lange Zeit, denn die Turmuhr war sehr alt und sehr müde und nach einem jeden Schlag dauerte es, bis sie sich ras- selnd und röchelnd zu einem neuen entschloß.15 MUSIK Quellenangaben: 1) Michaela Nowotnick (Hg.), Eginald Schlattner. Odem. Schiller Verlag. Hermannstadt-Bonn 2012: 17f 2) Ebda.: 19, 20 3) Ebda.: 77 4) Ebda.: 110 5) Ebda.: 117f 6) Neuer Weg vom 03.11.1955, Einsicht in Zeitungskopie mit Hilfe von Michaela Nowotnick, siehe auch Michaela Nowotnick (Hg.): Eginald Schlattner. Mein Nachbar, der König. Verlassene Ge- schichten. Schiller Verlag. Hermannstadt-Bonn 2012: 179 7) Eginald Schlattner: "Gediegenes Erz" in Michaela Nowotnick (Hg.), Eginald Schlattner. Mein Nach- bar, der König. Verlassene Geschichten. A.a.O.: 72f 8) Ebda.: 73 9) Arbeitsprotokoll des Lektorats der E.S.P.L.A. vom 4.3.1957, Einsicht in Kopie mit Hilfe von Micha- ela Nowotnick, siehe auch dies., Eginald Schlattner. Mein Nachbar, der König ... a.a.O.: 187ff 10) Ebda. 11) Eginald Schlattner: "Das Apfelbett" in Michaela Nowotnick, Eiginald Schlattner. Mein Nachbar, der König ... a.a.O.: 92 12) Ebda.: 96 13) Ebda.: 100 14) Eginald Schlattner: "Mein Nachbar der König" in Michaela Nowotnick, a.a.O.: 140f 15) Eginald Schlattner: "Das Apfelbett" a.a.O.: 115 1