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Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, steht neben den besetzten Gleisen, etwas blass vom Schlafentzug der letzten Tage, dicke, warme Jacke, Wollmütze. Selbstbewusst: OT 1 Ehmke: Es sind im Moment 7.000 Menschen auf der Bahnstrecke. Und die Polizei hat eingeräumt in Einzelgesprächen, dass für sie diese Situation nicht händelbar ist. Wir haben natürlich Angst, dass, wenn sie denn räumen, es nur unter Einsatz von Gewalt geht, möglicherweise wieder Pfefferspray eingesetzt wird. Aber diese 7.000 Leute verhalten sich ja vorbildlich. Es ist eine friedliche Sitzblockade und wir haben jetzt die Kirchenvertreter eingeschaltet: es muss ein Gespräch mit der Polizeieinsatzleitung geben über diese Situation, denn das ist nicht mehr händelbar. Atmo Samba-Musik Neben Ehmke steht Hauptkommissar Marco Bussler von der Bundespolizei. Der so genannte Konfliktmanager tritt von einem Bein aufs andere, beim Sprechen stößt auch er kleine Atemwölkchen aus, so kalt ist es. Die Stimmung ist entspannt, man kennt sich: OT 2 Konfliktmanager: Herrn Ehmke kennen wir ja auch schon seit ein paar Jahren. Es wird jetzt ein Verantwortlicher an den Runden Tisch gehen und wird über die Forderungen und Modalitäten sprechen. Also wir könnten uns ein friedliches, freundliches Wegtragen vorstellen, wenn das eine Option wäre. Atmo Blockade Fast handzahm wirkt Hauptkommissar Bussler. Und der Protest auf der Schiene sehr routiniert, gelassen. Atmo Beginn der Räumung Am Ende werden 7.000 Menschen von den Gleisen gehoben. Die Polizei lässt sich Zeit, geht mit Augenmaß vor - zumindest solange die vielen Fernsehkameras laufen. OT 4 räumende Polizisten: So. Auch für Sie: die Sitzblockade wurde aufgelöst. Kommen Sie jetzt freiwillig mit? - Nein. - Na, denn: Tragen ... Atmo Räumung Auch wenn es am Rande zu einzelnen Ausschreitungen kommt - die Protestbewegung im Wendland gegen die Castor-Transporte und das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben ist erfolgreich wie keine zweite. Und sie hat einen langen Atem: seit 35 Jahren leisten die Menschen Widerstand. Durch gewaltfreie Aktionen und zivilen Ungehorsam. OT 5 Demogesänge: Wir bleiben hier! Wir bleiben hier! ... Mit den Gorleben-Gegner und ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mag es heute keiner mehr aufnehmen. Nicht mal der sonst so entschlossene Bundesumweltminister Norbert Röttgen. Atmo Gerhart-Hauptmann-Platz Hamburg Ganz am Anfang steht dagegen die Occupy-Bewegung. Sie organisiert weltweite Camps, ist international vernetzt - und dennoch bisher nur bedingt erfolgreich. Das Hamburger Camp der Kapitalismus - und Globalisierungskritiker mit seinen 20 Zelten wirkt morgens früh um elf fast verlassen. Von den zehn, fünfzehn Menschen, die dort die Stellung halten, ist nichts zu sehen. Mitten in der Innenstadt, auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, vis-á-vis zur HSH-Nordbank und zum Thalia-Theater liegen Flugblätter der Protestierer auf Biertischen, Blumen stecken in leeren Limo-Flaschen. Im Infozelt läuft ein Video: kritische Beiträge über die globale Finanzwirtschaft. Geschäftsleute und Menschen mit großen Einkaufstüten überqueren den Platz. Sagen ihre Meinung: OT Banker / Passant: Es ist so ein bisschen Folklore. Es ist manchmal ganz sinnvoll, dass auf Missstände aufmerksam gemacht wird, aber es ist glaube ich nicht der richtige Weg! / Für mich ist das nichts ... Ich bin ja nun auch älter und da sollen sie mal ein bisschen protestieren, ist auch in Ordnung. Aber man wird das nicht ändern. Dieses ganze System kann man ja auch nicht ändern! Stefan sieht das anders. Der Soziologie-Student ist der Sprecher des Occupy-Hamburg-Camps. 27 Jahre alt, die braunen Haare schauen unter seiner Mütze hervor. Er ist vom ersten Tag an mit dabei: OT Stefan: Wir sind hier an unserem Info-Point. Hier vorne haben wir unseren "Umsonst-Laden", es ist ein "Umsonst-Tisch" ... Da liegen sehr viele Bücher drauf: was Menschen vorbeibringen, was sie nicht mehr brauchen. Und schauen dann nach, was sie gerne hätten. Man nimmt etwas, man bringt etwas, komplett bargeldlos, nur zum Tausch. Eine ziemlich einfache Form für das bargeldlose Existieren! Bücher, ein altes Kartenspiel, ein Kochtopf und eine Vase sind im Angebot, daneben liegt eine der typischen Masken, wie sie Anhänger der Hacker-Gruppe Anonymous tragen, mit dem eingefrorenen Grinsen. Banner und Plakate hängen an den Zelten: "Merkel, Du bist nicht unsere Königin!" steht darauf oder "Leben vor Profit!". Abends und an den Wochenenden, erzählt Stefan, ist hier mehr los. Dann wird diskutiert und dann entstehen Ideen für neue Aktionen. Stefan erinnert sich an die Höhepunkte: an den Protest beim Lebensmittelkonzern Unilever und die Blockade des neuen riesigen Apple-Ladens am feinen Jungfernstieg: OT Stefan: Als wir Unilever die Weihnachtsfeier versaut haben, das war sehr, sehr lustig! Eigentlich war die Feier bis 21 Uhr 30 angesetzt und um 20 Uhr waren die meisten Menschen schon weg! Hatten keine Lust mehr, auf der Weihnachtsfeier zu bleiben und sich zu unterhalten. Die Apple-Aktion hat ziemlich viel Spaß gemacht! Das Ganze mal zu thematisieren: dass die Elektronikindustrie eigentlich unter menschenunachtsamen Bedingungen herstellt und produziert! Und das hat gut geklappt, ist Stefan überzeugt. Ein älteres Pärchen steht mittlerweile an der Info-Bude, studiert die ausliegenden Flugblätter, lauscht den Video-Vortrag eines amerikanischen Professors. OT Besucher / Besucherin: Ich habe früher eine Anti-AKW-Bürgerinitiative mit gegründet im Ruhrpott und habe vor Kalkar gestanden und Brokdorf. Und hier erkenne ich so ein bisschen was wieder! Aufbruchsstimmung, nicht alles sich gefallen lassen. ((/ Man hat ja über Jahre hinweg vermisst, irgendwo auch so ein bisschen kultivierte Widerstandsaktionen und ich finde das einfach toll, wie die das machen! So, auf diese Art, aufmerksam zu machen, finde ich, muss man unterstützen!)) Stefan lächelt verlegen, erzählt den beiden noch mehr von den nächsten Aktionen, vom Leben im Camp, von der Offenheit im Umgang miteinander und von den vielen Themen und Missständen, über die sie aufklären wollen: es geht um die Finanztransaktionssteuer, den europäischen Rettungsschirm, um Mindestlöhne, Steuergerechtigkeit, Hartz IV, um Ökologie und Ausbeutung. Gegen diese Fülle an Themen wirkt das Ziel der Anti-Atom-Bewegung fast banal: Abschaltung aller Atomanlagen weltweit, und zwar sofort. So einfach. Das Ziel von Occupy bleibt dagegen schwer fassbar. Auch für Stefan, den Sprecher des Hamburger Camps: OT Stefan: Das ist eine sehr, sehr interessante Frage. Wenn wir am Ziel angekommen wären ... das dauert noch, das dauert noch Jahre. Das Bewusstsein zu schaffen, dass es im Grunde genommen kein Rechts und Links gibt, sondern, im Grunde genommen, nur Mensch-Sein! Atmo Rollschränke Quietschen Atmo Schritte Wie lange die junge Occupy-Bewegung sich halten wird, welche Erfolge sie noch feiert, ist nicht absehbar. Kritiker warnen: der Bewegung fehlen klare Ziele und Strukturen. Atmo Rollschrank Wer sich dafür interessiert, warum manche Proteste mehr und andere weniger erfolgreich sind, der findet im Hamburger Mittelweg unendliches Material: im Hamburger Institut für Sozialforschung lagern Fotos, Briefe, Aufsätze und Filme in schweren Rollschränken: Atmo Büro / Radio Archivar Wolfgang Hertle, mit Brille und grauem Haarkranz, war selbst viele Jahre aktiv. In der Friedensbewegung und in der deutschen und französischen Anti-Atom-Bewegung. Vor der DIN A 4-großen Tafel an der Stirnseite eines Regals bleibt er stehen, liest vor, welche Protestbewegungen dort untergebracht sind: OT 7 Hertle: Das geht von Anti-Repression, Gefangenen-Solidarität, Bürgerrechtsbewegung, DDR-Opposition, dann ein größerer Bereich Friedensbewegung, Gegen-Rechts-Bewegung, Bürgerinitiativen, Stadtteilarbeit. Randgruppenarbeit, Erwerbslosen-, Gesundheitsbewegung, sehr, sehr viel Verschiedenes: militanter Widerstand, Studentenbewegung nicht zuletzt auch hier, die undogmatischen und anarchistischen Bewegungen, die Schwulen- und Männer-, Frauenbewegung ... Es ist so ziemlich alles hier vertreten. Atmo Büro / Radio In hellgrauen Pappkartons lagern die Flugblätter, Fotos, Sitzungsprotokolle und Strategiepapiere aus sechzig Jahren bundesrepublikanischer Geschichte. Wolfgang Hertle greift ins Regal, öffnet das Fenster ins Jahr 1960, zeigt Fotos vom ersten Ostermarsch der deutschen Friedensbewegung: OT 8 Hertle: Es sind Menschen auf einer Landstraße, die auch Transparente und Plakate zeigen: "Wir wollen gesunde Kinder, keine Krüppel!", hier in dem Fall von Bremen nach Bergen-Hohne. Das war nicht nur von Harburg aus, sondern eben auch von Anfang an beim ersten Ostermarsch ein Sternmarsch: von Bremen, von Hannover und von Hamburg aus. Atmo Blättern Atmo Büro / Radio Wolfgang Hertle durchblättert die schwarz-weiß Fotos mit leichtem Braunstich: Frauen und Männer der Sechzigerjahre, altmodische Frisuren, Baskenmützen, sperrige Kinderwägen, Frauen mit Kopftuch. Atmo Geraschel Atmo Büro / Radio Hertle sortiert die Fotos, packt sie zurück in den Karton. - Der erste Ostermarsch gegen Atomwaffen mobilisiert rund 1.200 Menschen, 1965, nur fünf Jahre später, gehen am Ostersonntag schon über 140.000 Bürger auf die Straße. Politisch aktiv ist damals auch der junge Wolfgang Hertle. Er engagiert er sich gegen die Notstandsgesetze, führt endlose Diskussionen in Politzirkeln, debattiert stundenlang über noch so kurze Passagen in Flugblättern. Und nach den mühsamen Debatten, erzählt Hertle zwischen den Archivregalen, mussten die Ergebnisse dann zu Papier gebracht werden, altmodisch, per Hand: OT 10 Hertle: Wenn ich das Ganze dann umsetzen muss in eine Matrize und die dann auf so einem Gerät dann durchnudele oder dann später mit dem Offset-Verfahren die Texte tippen und mit Lettra-Set die Überschriften baue und kompliziert noch irgendwelche Bilder reinbringe, ist das auch ein anderer Aufwand als wenn ich am Computer schnell was zusammenbastele. Und heute kann ja von sich aus jeder was rausschicken und wenn er geschickt ist, damit auch viele Leute erreichen ... ... heute pflegt Wolfgang Hertle seine Facebook-Seite, kümmert sich auf diese Weise um Blockadeaktionen an der Endlagerbaustelle in Gorleben und organisiert den Austausch mit französischen AKW-Gegnern. Er staunt über die Schnelligkeit, mit der heutzutage - mit Hilfe des Internets - bundesweit Großdemos auf die Beine gestellt werden. OT 11 Hertle: Früher hättest Du dazu einen Zugang zum Radio gebraucht und heute geht es eben über Facebook oder E-Mails. Spricht sich dann eben schnell rum ... Atmo Café-Geklapper Wie schnell sich heute politische Kampagnen starten lassen, wie das Internet Protest beschleunigen kann und Gegenmacht per Mausklick generiert, macht campact vor. 2004 gegründet, kämpft die Organisation gegen Tierquälerei in Mastbetrieben, gegen Steuerflucht in die Schweiz, die Vorratsdatenspeicherung und das Internetabkommen ACTA. Wie die Occupy-Bewegung kämpft auch campact für eine Börsensteuer, aber auch für gentechnikfreie Nahrung, für einen Komplettausstieg aus der Atomkraft und gegen ein Atommüllendlager im niedersächsischen Gorleben. Christoph Bautz ist Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation mit Sitz im kleinen Verden an der Aller. Leicht erkältet sitzt er in einem Café vor seinem Kräutertee, draußen rauscht der Verkehr über den Potsdamer Platz in Berlin. OT 12 Bautz: Campact hat mittlerweile 540.000 Menschen im Newsletter-Verteiler, heißt: der größte politische Verteiler mit, den es in Deutschland gibt. Und das ist natürlich auch eine Möglichkeit, wie wir diese Organisation am Laufen halten. Das heißt, immer, wenn wir konkrete Aktionen organisieren, zum Beispiel in den nächsten Tagen eine Zeitungsanzeige gegen die übermäßigen Kürzungen im Photovoltaikbereich veröffentlichen wollen, da fragen um Unterstützung. Und dann gibt's Tausende Menschen, die fünf Euro, die zehn Euro, die zwanzig Euro oder vielleicht auch mal hundert Euro geben. Und zusammen kommt da was zusammen, dass wir politische Kampagnen mit immer wieder Durchschlagskraft organisieren können. Atmo Balzac Bautz lehnt sich im Sessel zurück. 39 Jahre alt, Nickelbrille, braunes, strubbeliges Haar, Sweatshirt. Früher, im Biologie-Studium, reaktiviert er eine brachliegende Streuobstwiese und lernt, Projekte anzuschieben. Bautz ist damals schon gut vernetzt in der Jugendumweltszene und merkt immer wieder, was der außerparlamentarischen Bewegungen am meisten fehlt: Geld. Zusammen mit zwei Freunden hat er die Idee einer "Bewegungsstiftung", er holt sich Ratschläge und Ideen von Aktivisten aus den USA und 2002 nimmt die Stiftung ihren Betrieb auf, verfügt heute über ein Kapital von fünf Millionen Euro. Unterstützt werden einzelne Aktionen, Organisationen oder Einzelpersonen, die sich hauptberuflich um Protest und Gegenöffentlichkeit kümmern. Bautz ist dabei, als die globalisierungskritische Organisation attac an den Start geht und natürlich bei der campact-Gründung vor acht Jahren. OT 13 Bautz: Mittlerweile haben wir im letzten Jahr einen Etat von 2 Millionen Euro gehabt. Da ist sehr viel auch gespendet worden nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, wo wir dran beteiligt waren, in kürzester Zeit vier Großdemonstrationen aus dem Boden zu stampfen. Danach eine ganze Abfolge von Aktionen, die den politischen Prozess beteiligt haben und all das kostet natürlich immer wieder Geld und immer mehr Menschen sind bereit, uns da auch zu unterstützen. Immer wieder mit Spenden, sehr spontan, sehr konkret ... Atmo Balzac ... und auf diese Weise verdient Bautz sein Geld: 1.900 Euro netto, pro Monat. Reist hin und her, und plant Aktionen: heute geht es - mal wieder - um Gorleben. Gleich um die Ecke liegt das von Norbert Röttgen geführte Bundesumweltministerium, dort beraten die Umweltminister gerade, wie ein Neustart bei der Suche nach einem Atommülllager aussehen könnte. Campact ist dabei und die Forderung ist ganz simpel: der Standort Gorleben soll sofort aufgegeben werden. OT 14 Bautz: Wir schauen eigentlich vor allem nach Trends: da gibt es plötzlich Hunderte Leute, die sagen: "Hier, an der Stelle, da habt ihr Euch aber ein bisschen vergriffen, da müsst Ihr nochmal nachfeilen!" Gibt es bestimmte Themen, die ganz häufig genannt werden? Wo Leute sagen: "Ja! An dem Thema, da muss doch campact jetzt rangehen!" Und wir haben dann halt Umfragen, wo wir umgekehrt Fragen reingeben: "Wie sieht für Euch ein vernünftiges Sozialversicherungssystem im Gesundheitsbereich aus? Wie sieht eine vernünftige Steuerpolitik aus, wie weit sollten die Steuern erhöht werden, an welcher Stelle, damit es wieder eine stärkere Umverteilung von oben nach unten gibt?" All solche Fragen, wo wir schauen: was denken die Leute? Und da entsprechend auch unsere Kampagnen darauf anpassen. Atmo Gang nach Draußen Atmo Rollkoffer Fünf Minuten später steht Bautz in seiner roten Windjacke vor dem Umweltministerium, die Polizei hat die Straße schon abgesperrt, alles ist gut vorbereitet. Denn der Protest im Netz, so Bautz, funktioniert nicht ohne die traditionellen Aktionen: ohne Straßenblockaden und lautstarke Kundgebungen. OT 16 Bautz: Jetzt kommt relativ bald die Frau Staatssekretärin. Und dann muss ich ein paar warme Worte finden, was denn genau unser Anliegen ist. Und danach fängt dann die Kundgebung an. Atmo Straße, Geplapper Bautz hält Ausschau nach seiner Kollegin Susanne Jacoby. Findet sie und bespricht mit ihr die letzten Details: 200 Menschen sind gekommen, aus Berlin und dem Wendland. Es könnten mehr sein. Mitten auf der Straße: ein haushohes aufgeblasenes X. Kleine benzingetriebene Generatoren laufen, liefern den Strom für die Lautsprecheranlage. Überall stehen knallgelbe Stahlfässer, akkurat aufgemalt das schwarze Radioaktivitätssymbol. - Es geht los: die Staatssekretärin im Bundesumweltministerium Ursula Heinen-Esser marschiert im Hosenanzug auf Bautz und Susanne Jacoby zu, schüttelt Hände, ist ausgesucht freundlich. Die Kameras laufen, Blitzlichtflackern. OT 17 Bautz / Heinen-Esser: Gut! Vielleicht können wir hier nochmal ... Für die Kameras! Wir haben hier als zweites einen Appell. Das möchte ich ihnen jetzt einfach beides überreichen! Atmo Blitzlicht Atmo Trillerpfeifen Auf den Zeitungsfotos ist am nächsten Tag die lächelnde Staatssekretärin zu sehen. In der Hand eine Mappe mit mehr als 60.000 Unterschriften und dem Deckblatt: "Kein Endlager in Gorleben!". - Unterstützt wird die Aktion auch von anderen Initiativen und dass auf der Veranstaltung medienwirksam das Label "campact" klebt, stört niemanden. Auch nicht Thorben Becker, den Sprecher des BUND. Die Stärken seines Vereins und die der Kampagnenprofis bei campact analysiert er ganz nüchtern: OT 18 Becker: Ich glaub, es ist schon mal was anderes, ob ich irgendwo Mitglied bin oder ob ich mich für eine Mailingliste eingetragen habe. Aber das ist schon ein Zeichen, dass campact wirklich sehr, sehr schnell gewachsen ist. Also, in der Größenordnung haben wir keine E-Mail-Verteiler! Die sind bei uns eher im Bereich von 100.000 plus. Aber 500.000 E-Mail-Verteiler haben wir nicht ... Wir arbeiten dran ... Atmo Trommeln Becker lächelt. Der Bund für Umwelt und Naturschutz hat nicht 500.000 Adressen im E-Mail-Verteiler, dafür aber über 480.000 zahlende Mitglieder. Die sich in Ortsgruppen organisieren und die Botschaft der Umwelt- und Naturschützer in die deutschen Fußgängerzonen tragen. Auch das gehört zum erfolgreichen Protest. Neben Becker steht der Anti-Atom-Aktivist Jochen Stay von der Initiative "ausgestrahlt" aus Hamburg. Die funktioniert wie campact über Spenden, feste Mailingslisten und einen gut gepflegten Internetauftritt: es gibt den 5-Minuten-Crashkurs zu den Risiken der Atomkraft und ausführliche Analysen, Informationen über anstehende Aktionen, einen Online-Shop: das drei mal einen Meter große Transparent "Fukushima ist überall" für 25 Euro, die Broschüre "AKW Brokdorf - Nein Danke!" zum Stückpreis von 40 Cent. Stay ist Mitte vierzig, hat krause, schon hellgraue Haare, Vollbart. Das Internet, glaubt Stay, erweitert den Handlungsspielraum, bietet ein neues Werkzeug für Protest. Aber auch ohne das Netz waren und sind Erfolge möglich: OT 20 Stay: Ich war in der Friedensbewegung aktiv und irgendwann wurden diese Atomraketen, gegen die wir jahrelang demonstriert hatten, die wurden abgerüstet. Ich weiß nicht, wie groß unser Anteil daran war am Ende, aber: es ist passiert! Ich hab in den Achtzigerjahren dann viel in Wackersdorf, in Bayern, demonstriert gegen die dortige atomare Wiederaufbereitungsanlage und der Bau wurde gestoppt. Es gab diverse AKW-Projekte, die nicht umgesetzt wurden, wegen den Protesten. Von daher waren Protestbewegungen früher auch sehr erfolgreich! Atmo Pfeifen Stay fährt sich mit der Hand durch den grauen Vollbart. Die wachsende Stärke von sozialen Bewegungen hat erst mal nichts mit Facebook, Twitter, mit neuen Medien zu tun. Vielmehr, analysiert er, zahlt sich die Ausdauer von kritischen Menschen aus, die jahrzehntelange Arbeit und ihre Professionalisierung: OT 21 Stay: Wir haben natürlich inzwischen in jeder Generation einen Anteil - und wenn es nur fünf Prozent sind - die irgendwann in ihrem Leben mal Protesterfahrung gemacht haben. In jeder Alterskohorte gibt es die. ((Und wenn dann ein Thema brennt - sagen wir mal: das, was in Stuttgart passiert ist - dann sind die Leute wieder da. Dann ist die Schwelle nicht so hoch, wieder aktiv zu werden.)) Ich glaub, dass es in den Sechziger-, Siebziger-, Achtzigerjahren gab es ja sehr viele Menschen, für die war das völlig undenkbar, aus politischen Gründen auf die Straße zu gehen! Atmo Pfeifen Stay verabschiedet sich, begrüßt seine Mitstreiter, nickt rüber zu Bautz, sagt Hallo. Der campact-Geschäftsfüher bleibt bis zum Schluss, führt Gespräche mit den Kollegen, spricht sich ab. Er ist zufrieden mit der Aktion: OT 22 Bautz: Es geht auf jeden Fall immer wieder um Bilder. Kraftvolle Bilder, die ein Stück weit illustrieren: was ist unser Anliegen. In dem Fall eben das X, was für einen 35 jährigen Widerstand gegen das Endlager in Gorleben steht. Und das nächste Mal werden wir auch schauen, dass wir den Minister direkt persönlich adressieren. Atmo Abbau Das riesige Aufblas-X steht noch in der Straßenmitte, rechts und links werden die Lautsprecher abgebaut und in Kleintransporter geladen. Voll mit Ausrüstung, mit riesigen Merkel-, Röttgen- und Rösler-Masken an Bord, auf dem Weg zur nächsten Aktion. Die berufliche Zukunft von Bautz und seinem Team - den Missständen sei Dank! - ist gesichert. 2 Die Profi-Protestierer Organisierter Widerstand von der Blaupause zum Flashmob Eine Reportage von Axel Schröder 1