Deutschlandradio Kultur KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe Literatur Titel der Sendung "18. Open Mike 2010" Wettbewerb junger deutschsprachiger Literatur in der Literaturwerkstatt Berlin Autor Kolja Mensing Redakteurin Dorothea Westphal Sendetermin 21.11.2010 Regie Roswitha Graf Besetzung Autor spricht selbst (Kommentar) diverse O-Töne und Atmos im V-Speicher Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 =========================================================== MANUSKRIPT "18. OPEN MIKE 2010" =========================================================== 21. November 2010, 0.05, DeutschlandRadio Kultur, Sendreihe "Werkstatt" von Kolja Mensing / Redaktion: Dorothea Westphal / Produktion: Roswitha Graf Länge: 53 Minuten =================================================== ANMODERATION: =================================================== Beitrag: Open Mike 2010 Sendeplatz: Werkstatt, Sonntag, 21. November 2010, 0.05 Uhr Autor: Kolja Mensing 20 Autoren, 20 Texte, und das an zwei Tagen: Am 13. und 14. November fand in Berlin zum 18. Mal der Open Mike statt, ein Literatur-und-Lese-Marathon für Nachwuchsautoren. Der Open Mike ist neben dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt der wichtigste Förderpreis im deutschsprachigen Raum - und gilt als Karrieresprungbrett für angehende Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Wer beim Open Mike zu den Gewinnern gehört, hat gute Chancen, mit einem Manuskript bei einem renommierten Verlag unterzukommen. =================================================== EIN FAVORIT =================================================== O-TON 1: "Ich hatte nicht wirklich ne Chance mich vorzubereiten, weil ich recht überrascht war von der Einladung, und ansonsten - wie ich es immer für ne Lesung tue: Ich les schon den Text nochmal durch und versuch mich mit dem Text zu verbinden, und ja, sehr viel mehr kann man auch nicht machen." SPRECHER: Sonntag, früher Nachmittag. In Berlin ist mitten im November noch einmal der Frühling ausgebrochen. Die Sonne scheint, ein leichter Wind weht, und Jan Snela, einer der zwanzig Teilnehmer des diesjährigen Open Mikes, wirkt ausgesprochen entspannt. O-TON 2: "Also, ich habe jetzt auch die Lesung sehr genossen, und auch manche der Texte der anderen, also, es hat mir einfach als Event sehr gut gefallen, ja." SPRECHER: Er hat es fast hinter sich. Jan Snela hat bereits gestern gelesen, am späten Nachmittag. Was er verschweigt: Er ist einer der Favoriten des Wettbewerbs. Er ist den Tag über immer wieder angesprochen worden, von Lektoren, von Journalisten, von älteren Kollegen. O-TON 3: "Es ist schwierig, das nicht so ineinander aufgehen zu lassen, das, was man gesagt bekommt, und die Erwartung, die man in Bezug auf den Preis hegt, und insofern ist das gut, wenn man das einfach kommen und gehen lässt und das Lob genießt, aber sich nichts davon verspricht." SPRECHER: Bis zur Entscheidung der Jury sind es noch gute drei Stunden. Jan Snela blinzelt noch einmal in die Sonne. Mit ein bisschen Glück gehört er dazu, wenn der Zirkus, der auf den Namen Literaturbetrieb hört, am nächsten Morgen wieder die Stadt verlässt. MUSIK: "Salto Mortale" =================================================== "GANZ EIGENE DYNAMIK" =================================================== O-TON 4: "Nun ich denke, das Open Mike ist eine der wichtigsten Plattformen, auf denen sich unpublizierte Autoren präsentieren können. O-TON 5: "Ich genieße es sehr, hier Kontakte zu halten, aufzufrischen, neue Autoren kennen zu lernen und auch ne neue Generation zu erspüren." O-TON 6: "...und im Rahmen des Open Mike haben tatsächlich junge Autoren die Möglichkeit, ihre Texte ins Schaufenster zu stellen, und das ist sehr spannend, und aus diesem Grund bin ich hier angereist." O-TON 7: Alle sind heiß auf Texte, könnte man sagen, jeder will unbedingt die Texte mitkriegen, die Leute werden panisch, wenn sie nicht reinkommen, und dann wirklich ne Lesung verpassen könnten - und dann DEN Autor verpassen könnten, der dann der Gewinner sein wird, der besonders gut ist...." O-TON 8: "Es ist natürlich DER Nachwuchswettbewerb für jüngere Schriftsteller und Schriftstellerinnen..." O-TON 9: "Also, ich meine, es ist ein ganz anderer Wettbewerb als etwa vergleichbar Klagenfurt, nicht?" O-TON 10: "...also Bachmann ist ja doch etwas älter und breiter, und vielleicht auch gesetzter." O-TON 11: "Es ist trotzdem ne sehr interessante Erfahrung da zu sitzen, und man hört zwölf Leute ihre Texte lesen, mehr oder weniger am Stück, und dann schläft man kurz und dann kommen noch mal acht. Das hat ne Ballung, die schon ne ganz eigene Dynamik hat." =================================================== ESSENBONS UND STARTNUMMERN - ES GEHT LOS =================================================== SPRECHER: Ein Tag zuvor: Es ist Samstag, am späten Vormittag. Schauplatz ist die "Wabe" - ein Kulturzentrum im Bezirk Prenzlauer Berg. Hier richtet die Literaturwerkstatt Berlin seit einigen Jahren den Open Mike aus. Breite Stufen führen zu einer abgesenkten Spielfläche, und im ersten Moment hat man das Gefühl, tatsächlich am Rand einer Zirkusarena zu stehen. O-TON 12: "Angst eigentlich noch gar nicht, das wird wahrscheinlich noch kommen, die Aufregung wird wahrscheinlich steigen, wenn's dann irgendwie losgeht, wenn die Lose gezogen sind, aber jetzt gerade ist noch alles in Ordnung irgendwie." SPRECHER: Die ersten Teilnehmer und Teilnehmerinnen treffen ein. Jasmin Seimann hatte es nicht weit, sie lebt in Berlin, kurz nach ihr kommt Andreas Lehmann. Er ist aus Mainz angereist - und hat bereits Erfahrungen in der Manege gesammelt. O-TON 13: "Ehrlich gesagt, ich bin jetzt zum zweiten Mal dabei, letztes Jahr war ich auch schon hier, und insofern ist es... Ich bin jetzt kein abgebrühter Profi, aber ich bin schon weniger aufgeregt, weil ich weiß, wie das abläuft, das Drumherum kenne, ich werde sicherlich bei der Auslosung und wenn ich selbst mit dem Lesen dran bin, sehr aufgeregt sein, aber ansonsten versuche ich es einfach, zu genießen und entspannt zu sein." SPRECHER: Nach und nach treffen auch die anderen ein: Zwanzig junge Autoren und Autorinnen, alle unter 35, keiner von ihnen hat eine eigene Buchveröffentlichung vorzuweisen. Das sind die Startbedingungen. - Jetzt müssen erst einmal die Formalitäten erledigt werden: O-TON 14: "So, es gibt erst einmal einen Vertrag über das Startgeld, was wir zahlen, ein Exemplar ist für Sie, eins ist für uns, die Quittung, dass wir das hier bar erhalten haben, auch ein Exemplar, und eins für uns, das ist das Formular zur Erstattung der Reisekosten, zu Hause ausfüllen, mit je nachdem Bahnticket, Kilometer eintragen, Bankverbindung, und unterschrieben an uns zurück, dann erstatten wir das aufs Konto." - "Das tue ich schon mal hier rein, das bitte unterschreiben." O-TON 15: "Die Autorenmappe mit Ablaufplan, Namensschild, Buch und Essensbons. Also, man kann jeden Tag an der Bar warmes und kaltes Essen und warmes und kaltes Getränk bekommen. - (Teilnehmerin:) Danke schön." SPRECHER: Anschließend dürfen sie zum ersten Mal auf die Bühne. Der Saal ist zwar noch leer, doch der Nervenkitzel hat bereits begonnen. Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt, hat einen Korb mit verschlossenen Briefumschlägen dabei. Die Startnummern werden bestimmt. O-TON 16: "Ich rufe jetzt auf, alphabetisch, jeder möge bitte nach vorne kommen, hier ist die Los- Schale, da kann man wühlen, und dann bitte eine Nummer nur ziehen, aufhalten, hinhalten, laut sagen, das wird notiert, das geht in die Protokolle und so weiter und so fort, das ist dann die Startnummer, bei aller Ungerechtigkeit ist das wahrscheinlich das gerechteste Verfahren. Also, beginnen wir alphabetisch: Isabella Antweiler aus Köln... (Applaus)... Die sechs ist das. - Sechs! Isabella Antweiler, Köln, Nummer sechs." SPRECHER: Es gibt zwei Nummern, die nicht besonders beliebt sind. O-TON 17: "Du kennst das Verfahren, nicht? - Yupp! - Andreas Lehmann aus Mainz hat die 13., ich bin am 13. geboren, das ist ne tolle Zahl. - Gut! - (lacht)" SPRECHER: Die 13, das ist die klassische Unglückszahl. Schlimmer ist eigentlich nur noch die Eins. Als erster will beim Open Mike niemand lesen, und dann trifft es ausgerechnet Stephan Reich, 27 Jahre, Student aus Münster - und Dichter. Und: Er hat noch nie öffentlich gelesen. O-TON 18: "Ich hatte das schon irgendwie geahnt, ich hatte es im Gefühl, aber ist okay, dann haben wir es hinter uns, es ist ja meine erste Lesung, ist besser so, als wenn ich hier zwei Tage warten muss und die ganze Zeit konstant nervös bin. Es wird schon werden." 0:25 / 0:35: "Ich glaube, werde mich einfach hinsetzen und das Publikum begrüßen und dann anfangen zu lesen, ja, (lacht)" MUSIK: "Einmarsch der Gladiatoren" =================================================== JUNGE KLASSIK - DIE ERSTEN LESUNGEN =================================================== O-TON 19: "Also, ich hab eigentlich, ich hab natürlich gewissen Respekt vor der Sache, aber in erster Linie überwiegt die Freude, dass ich dabei bin, also ich seh das ganz sportlich." SPRECHER: 14 Uhr, die Zuschauerreihen sind bis zum Anschlag gefüllt - gebanntes Schweigen, als der Lyriker Stephan Reich auf der Bühne Platz nimmt. Der 18. Open Mike beginnt mit einem Salto Mortale: Verse zum Einstieg, das ist wie ein freier Überschlag am Trapez, ohne Netz und doppelten Boden. O-TON 20: (LESUNG): "& siehe der kleinste partikel muss ein außen ein innen haben was ist dass dir in die lider die innen seite des kopfes geschossen die blitz lichter kommen von außerhalb zittern die blicke in was uns umgibt zwischen bett & dem frühen morgen küsse im zwie licht ein hageres feld hab ich nach innen bestellt der moment einer reflexion der wunsch sich zu häuten, berührt & besetzt & was soll es bedeuten die augen als umschlag punkt als wasteland nach innen wie außen kein fruchtbarer boden ein failed state die blitze & lichter der mangel an frieden & diplomatie." SPRECHER: Keine schlechte Mischung: T. S. Eliot und Gottfried Benn schwingen hier mit in der Zirkuskuppel, und das Publikum belohnt Stephan Reich nach dem letzten Zeilensprung mit einem anständigen Applaus. O-TON 21: (LESUNG) "...scheint mögliches ge borgen liegen offen ideen auf dem tisch vis à vis & blieben sie es, bliebest du? - Vielen Dank! (Applaus)" SPRECHER: Viermal Lyrik gibt es allein am ersten Tag des Open Mike, zusammen mit einer Auswahl an Prosa-Texten. Martina Bögl, Jahrgang 78, Dolmetscherin und Übersetzerin, tritt mit der Startnummer zwei an - und einem Text über eine Begegnung zwischen Mensch und Tier in der Großstadt. O-TON 22: (LESUNG) "Der Tag, an dem Hans Jäger im Hof den Fuchs sah, war der Tag, an dem er sich seinen Füllfederhalter in den Handrücken schlug, war der Tag, an dem er endlich seine Nachbarn kennen lernte. Alles war wie jeden Morgen, der Tag war schon vor ihm da, ungebeten, gellend hell, als er die Augen aufschlug und einige Momente an die Zimmerdecke starrte. Das Kreischen einer Säge drang vom Hinterhof in sein Zimmer. Er wünschte, er könne weiterschlafen, durchschlafen und nie wieder aufwachen, schlafen in einem komplett weißen, sauberen Raum, in dem es mild nach Putzmittel duftete." SPRECHER: Lakonische Sätze, eine klare, einfache Ausgangssituation und gleich am Anfang ein erster, beunruhigender Blick in das Innenleben des Protagonisten. Im deutschsprachigen Raum ist diese Form der Kurzgeschichte seit den fünfziger Jahren ein Dauerbrenner in Anthologien und Erzählbänden, und eigentlich ist es keine Überraschung, dass sie auch diesmal die Prosa-Sektion des Open Mike bestimmt. O-TON 23: (LESUNG) "Herr Peichel stand am Fenster, als sich die Welt draußen veränderte." SPRECHER: Das ist Jasmin Seimann, 27 und im Hauptberuf Journalistin in Berlin - und auch sie schreibt über die Einsamkeit inmitten der großen Stadt. O-TON 24: (LESUNG) "Ganz plötzlich war es auf den Straßen der großen Stadt feierlich und ruhig geworden. Er sah in den dämmerigen Himmel hinauf und spürte ihn lange, bevor er kam. Erwartungsvoll, mit kindlichem Glanz in den Augen, wartete er auf den großen Moment. Es dauerte nicht lange, da sah er ihn seinen leichten Tanz beginnen. Ganz oben in den Wolken und dann langsam in dicken Flocken, immer weiter der Erde zutreiben. Schon bald hatte er die Höhe von Peichels Fenster erreicht, er sah ihn im Schein der Straßenlaternen seidig glitzernd, schweben." SPRECHER: Zwei weitere Kurzgeschichten folgen. Schnee, Stadt, Verlorenheit, sauber durchkomponierte Sätze und Absätze - am Samstag, zum Auftakt des Open Mike, wird die Hohen Schule der Schreibkunst geboten: Strenge Dressurakte, bei denen die Autoren kein großes Risiko eingehen. Zuviel Pflicht, zu wenig Kür: Nach dem zweiten Leseblock ist die Stimmung im Foyer und draußen vor der Wabe dann auch nicht die Beste. MUSIK: "Salto Mortale" =================================================== "ETWAS BRAV" =================================================== O-TON 25: "Ja, also, ich war nicht sehr überzeugt davon..." O-TON 26: "Ich denke, also ein Trend, der erkennbar ist aus den letzten Jahren, ist der, dass Erzählen wieder sehr im Vordergrund steht, das hat sicher auch damit zu tun, dass die Schreibschulen in Hildesheim, in Leipzig, in Biel hier regen Nachwuchs liefern und den Schreibstudenten dort auch wieder mehr das Erzählhandwerk beigebracht wird." O-TON 27: "Durchschnittlich, würde ich sagen, in diesem Jahr." O-TON 28: "Ich fand doch die Texte insgesamt etwas brav, fast die Vermutung, dass es auch eine besondere Textform gibt, die man gerne zu Literaturwettbewerben einschickt, eine gewisse soziale Bewandtnis müssen sie haben, muss aber auch deutlich werden, dass man sein Metier beherrscht, und daraus muss man dann wieder ausbrechen." O-TON: "Ja, ambivalent, wenn ich jetzt ganz ehrlich bin, es ist einerseits, oho, da läuft was ab, und: o, je, da wird's auch manchmal zäh. Das ist leider so, dass man auch manchmal hier sitzt und auch mal denkt, meine Güte, warum?" O-TON 20: "Nein, also die Prosa hat mich bisher nicht wirklich überzeugt, was ich hier hören durfte." =================================================== AN DER NACHTTANKSTELLE - JAN SNELA =================================================== SPRECHER: Doch dann passiert es. Während die Zuschauer noch dabei sind, ihre ersten Eindrücke auszutauschen, betritt Jan Snela die Bühne, der junge Mann, der am nächsten Tag als Favorit gehandelt werden soll. Er ist aus Tübingen angereist, wo er Komparatistik studiert, und in seinem schwarzen Rollkragenpullover kommt er fast ein wenig ernst daher. Irrtum! O-TON 31: (LESUNG) Es war ein Mittwoch und Zeit für mein Milchbad. Aber die kantig verpackte, auf Höfen aus Eutern gesuckte, weiße, ich weiß: von Kühen für Kälber den dauerverdauten im Wind weh'nden Gräsern entschnaubte, geraubte, verrührte, maschinell Molkerei'n zugeführte, von Lastwäg'n in Supermärkte chauffierte Flüssigkeit reichte bei Weitem nicht aus, um damit meine Wanne vollzumachen. Ich holte noch Sahne und Schmand aus der Küche und schüttete sie auf die neunzehn Liter drauf, die Melchior, der Schrank, noch hergegeben hatte. Wie's aussah, würde ich Milch noch kaufen geh'n müssen. Nur wo?! Die Geschäfte hatten alle schon zu. Zur Tankstelle also? Im Grunde konnte ich's mir ja leisten. Hatte ich doch Monate mit dem Weißeln von Wänden verbracht und Geld wie Heu. Ich zog also los. Bevor ich aufbrach, präparierte ich aber noch ein Stirnband. Meine Freundin Karen hatte vor vier Monaten mit mir Schluss gemacht und beim Auszug alles mitgenommen: den Sandwichmaker, das Hochbett, den Vorgänger Melchiors ... Alles außer einer etwa vierzehn Zentimeter langen Messingschraube, mit der das Hochbett an der Wand befestigt gewesen war und mit der ich nun das Stirnband so sehr durchbohrte und mit Isolierband umwickelte, dass dort, wo vorher harmlos "Nike" gestanden hatte, nun ein Horn stand. Ich zog es mir auf und den Parka an und hinaus ging's. Oh, und draußen, da blühten die Linden." O-TON 32: "Der Text ging so los, dass ich dachte, nach den ersten Sätzen, aha, das ist dieses typische "Ich mach mal was ganz Freakiges", "Ich geh mal aus der Norm raus", "Ich erzähl mal ne Geschichte, die surreal ist..." (5:36) - Und ich merkte, dass es immer mehr in Richtung Humor ging - er nahm sich selbst auf die Schippe, ohne unernst zu werden, und unten drunter war er eine ganz große Tiefe, die sich ganz liebevoll ausgebreitet hat, und das fand ich fantastisch, weil es war liebevolle Tiefe, und es war oben drüber dies Funkeln von sich selbst auf die Schippe nehmen und von "Ich möchte unterhalten." O-TON 33: (LESUNG) "Ein zarter Wind lag mir mit strotzendem Benzingeruch in der Nase. Ich musste niesen. Schon von Weitem sah ich, in Blazern und schreienden Hemden, die hinter ihre beatwummernden, türenschlagenden Schlitten geduckten, einander mit Zapfcolts bedroh'nden, Stutzen in seitliche, lackfarbumgrellte Löcher rammenden Kerle herumulkend um die Wette tanken. Vielleicht war's, rasanter, auch nur das Nacheinander rauchend volltankender Spaßpistoleros, aber die Sprache hier, der Erinnerung, ordnet mir alles zu gleißender Gleichzeitigkeit, Assonanz, und ich will sie gewähren lassen, will sie hier, im selben Satz noch, mich, den Spruch "Da geht das letzte Einhorn!" im Rücken, durch eine sanft sich aufschiebende Doppelglastür eintreten lassen lassen, ins Grelle." SPRECHER: Nicht nur die eine Zuschauerin ist deutlich angetan. Es ist ein kleine, feine Clownerie, die Jan Snela hier an der Nachttankstelle in Szene setzt - nur dass sein leicht tölpelhafter Erzähler keine Pappnase trägt, sondern ein Stirnband mit selbstgebasteltem Horn. Darauf haben alle gewartet: Ein charmantes Stück Prosa, verspielt und voller Ironie - das ist die erste Überraschung des Tages. Jetzt hat der Zirkus wirklich begonnen - und die zweite Überraschung lässt nicht lange auf sich warten. MUSIK: Jazz =================================================== DIE SACHE MIT DEM S - LESUNG LEVIN WESTERMANN =================================================== SPRECHER: Ein Dichter sitzt auf der Bühne, kurz geschorene Haare, Trainingshosen und Chucks. Das ist Levin Westermann, Jahrgang 1980, Student am Schweizer Literaturinstitut in Biel. Die lässige Kleidung fällt nicht groß auf - beim Open Mike ist das eher die Regel. Irritiert ist das Publikum erst, als Levin Westermann zu sprechen beginnt.. O-TON 33a: (LESUNG) "Ich lese eine Reihe von zwölf Gedichten, und sie tragen den Titel "unbekannt verzogen". "maschinenzeit; aus den ästen tropft das erste licht des morgens und der wind bringt neue namen für drei dinge, die wir einstmals anders nannten. der stumme winkel den zwei wände bilden, wenn sie sich in deinem rücken treffen, um ein schweigen zu beschliessen..." SPRECHER: Ein Drahtseilakt. Levin Westermann lispelt, deutlich und auffällig, und das ist ungewöhnlich: ein Schriftsteller, ein Dichter mit einem S-Fehler, wagt einen öffentlichen Auftritt. O-TON 33b: "Das Ding ist, ich lese eigentlich nicht gerne, weil ich lispele. Das Ding ist, ich hätte als Kind, ich hätte es abstellen können, und ich hab mich dagegen gewehrt, mit Händen und Füßen, weil ich hab nicht verstanden, warum ich es trainieren soll, nicht zu lispeln, es hat mich nicht gestört, und dann bin ich ans Literaturinstitut, und okay, wir haben Lesung, und da habe ich nie drüber nachgedacht. Ich wusste, ich schreibe Gedichte, ah, aber ich muss ja vorlesen. Aber dann haben mir alle gesagt, bei Lesungen: Man hört es am Anfang. Nach zwei Gedichten sinkt es weg, und dann erinnert man sich an die Gedichte, weil da jemand gelesen hat, der lispelt. Aber gerade bei der Veranstaltung, da saßen ein paar hundert Menschen, und als ich zum ersten Mal s-Laute im Lautsprecher hatte, da dachte ich, okay, jetzt kann ich halt aufhören, oder ich mach einfach weiter." SPRECHER: Die Irritation verliert sich bereits nach wenigen Versen. Gebannt schaut das Publikum nach vorne, wo Levin Westermann in kalten, klaren Worten den Alltag kartographiert. Es ist tatsächlich ein Drahtseilakt - ein Tanz auf einem Seil, das zwischen der Lyrik der klassischen Moderne und einer erinnerungslosen Zukunft gespannt ist: O-TON: (LESUNG) "diese zimmer sind jetzt leer und diese schritte, wie sie hallen, von den nackten wänden; wie die buche und der himmel durch das fenster blicken und den freien platz bewundern, all den raum zwischen parkett und decke; wie die dinge, die jetzt fehlen, ihre schatten hinterlassen und ein jedes seinen umriss wirft mit schwarz; dieses echo, peripher im augenwinkel, von der zeit belichtetes papier aus netzhaut und tapete. (ca. 34:00) MUSIK: "Cirkus Polka" =================================================== WIE ALLES ANFING - THOMAS WOHLFAHRT BLICKT ZURÜCK =================================================== SPRECHER: Drei Tage vorher, der amtierende Zirkusdirektor lädt zum Gespräch. O-TON 34: "Mein Name ist Thomas Wohlfahrt, und ich leite die Literaturwerkstatt Berlin seit ihrer Gründung, also seit 1991." SPRECHER: Ein Rückblick: Die Geschichte des Open Mike reicht zurück bis in die Anfangstage der Literaturwerkstatt, die damals noch hoch im Norden Berlins beheimatet war, in einer Villa in Pankow. Die Neunziger, das war die Boomzeit der deutschen Literaturproduktion, mit Lesebühnen in Ostberliner Bierkneipen, mit Pop-Autoren und Literaturkritikern, die vom so genannten Fräulein-Wunder schwärmten. Und alle die, die bisher nur für die Schublade geschrieben hatten, wollten jetzt dabei sein. O-TON 35: "Der Hintergrund war, dass wir als junge Einrichtung - Hintergrund: 90er Jahre - unglaublich viele Texte zugeschickt bekamen mit der Bitte, doch mal draufzuschauen, kurz: Man war sofort überfordert, so, und es gab Unzufriedenheiten auf beiden Seiten, die jungen Leute, damals, deren Texte wieder nicht angeschaut wurden, und man selber sah nur die Stapel wachsen, und dann war ich in den USA gewesen und erlebte meinen ersten Open Mike in den USA, das war in Deutschland völlig unbekannt, das gab es überhaupt nicht, und ich fand dieses System der Textbewertung eigentlich ganz schön, das heißt, das Instrument, die Stimme des Autors immer dabei zu haben." SPRECHER: Punkt. Seitdem sind fast zwanzig Jahre vergangen. Mittlerweile ist der Open Mike dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung "Crespo Foundation" über sich selbst hinausgewachsen. Der Wettbewerb selbst wird durch eine Lesung am Freitagabend ergänzt, die Gewinner gehen auf Lesereise, sämtliche Prosaautoren kommen ein halbes Jahr später in Frankfurt zu einem Workshop zusammen, und die Lyriker treffen sich in Berlin, um gemeinsam an ihren Texten zu arbeiten. Der Open Mike als Zirkusschule: Nachwuchsförderung wird groß geschrieben. - Über mangelnden Erfolg kann Thomas Wohlfahrt sich nicht beklagen: O-TON 36: "...und es sind ja doch große Namen des heutigen Literaturbetriebs aus dem Open Mike hervorgegangen, und da wären einige zu nennen..." SPRECHER: Bitte schön: Tilman Rammstedt, Kathrin Röggla, Karen Duve... O-TON 37: "...Terezia Mora, Ulf Stolterfoht, Björn Kuhligk, Julia Franck..." SPRECHER: Ariane Grundies, Jochen Schmidt, Zszusa Bánk... Diese Namen kennt man. Viele Preisträger finden sich ein oder zwei Jahre später mit ihrem ersten Roman oder Erzählband in den Literaturbeilagen wieder. Doch bevor das erste Buch erscheint, müssen viele von ihnen die Erfahrung machen, dass der Literaturbetrieb keine Kuschelstube ist, sondern ein Raubtierkäfig. O-TON 38: "Es ist wieder schwer für junge Autoren überhaupt in diesen völlig übersättigten Markt reinzukommen, und wenn er übersättig ist, dann ist jeder Markt natürlich auch gefräßig, genau an dieser Stelle." MUSIK: "Cirkus Polka" =================================================== DORFJUGEND - JANKO MARKLEIN =================================================== O-TON 39 : (LESUNG) "Ole zeigt uns die Tüte mit den toten Fischen. Die hat er im Gebiet aus dem großen Forellenteich geholt. Wasser tropft aus der Tüte auf das Markenzeichen von seiner Jeanshose. Ole erzählt: Alle Fische im großen Forellenteich sind tot. Mit den weißen Bäuchen nach oben treiben sie auf der Oberfläche. Paul sagt, dass Ole diese Fische alleine essen kann." SPRECHER: Samstagabend, der letzte Leseblock, die Agenten und Lektoren haben längst ihre Krallen ausgefahren. Ausgerechnet Janko Marklein muss jetzt lesen: Mit 22 Jahren ist er der Jüngste der Teilnehmer, und wer beim Gruppenfoto am Vormittag dabei war, weiß: Er ist auch der Kleinste. Dafür ist sein Text über eine Jugend auf dem Dorf ein wuchtiger Auftritt. O-TON 40: "Literarisch finde ich das spannend, weil es ein sehr kleiner Raum ist, der ein ganz paar Orte nur hat, und an diesen wenigen Orten sind dann eben diese Figuren und müssen miteinander auskommen, und sie kommen eben nicht aus dem Sozialraum des Dorfes heraus, man kennt sich, also, das ist auch einfacher, als wenn man eine Geschichte erzählt, die erst einmal nicht so klar verortet ist, ja, und insofern macht es mir das einfacher, diesen Ort zu haben. Und dann ist es natürlich nicht zu leugnen, dass ich fünfzehn, sechzehn Jahre auf diesem Dorf gelebt habe und insofern einiges darüber weiß." SPRECHER: "Wir stellen uns nicht dumm an", das ist der Titel seiner Erzählung. Ein Hauptsatz reiht sich an den nächsten, die Bilder sind einfach und kräftig, der Zungenschlag unüberhörbar norddeutsch. Janko Marklein ist in einem Dorf in der Nähe von Bremen aufgewachsen. O-TON 41: (LESUNG) "Hinter dem Dorf gibt es einen Wald, in dem Wald gibt es drei Forellenteiche. Das ist das Gebiet. Es gibt auch einen Hochsitz mit einer Holzleiter, aber die Leiter ist kaputt. Außerdem gibt es eine kleine versteckte Kabine im Gebüsch, die ist so groß, dass nur eine Person hineinpasst. Manchmal sitzt in der Kabine ein Fotograf, stundenlang, und wartet auf schöne Vögel, die er fotografieren kann. Dann ragt aus einem Loch im Holzkasten ein dickes Objektiv. Es gibt auch ein widerliches Plumpsklo ohne Klopapier, aber da geht nur der Fotograf drauf. Als Paul gegangen ist, erzählt mir Ole von seinem Tag im Gebiet. Gleichzeitig frisst er seinen Fisch. Er beißt ihn direkt vom Stock ab, Fett läuft ihm über die Finger. Er sagt: Ich habe im Gebiet ein Mädchen gesehen. Es stand am Steg vor dem großen Teich. Hin und wieder hat es sich an den Beinen oder Armen oder am Kopf gekratzt. Sonst hat es nichts getan. Ole lacht. Ich sage ihm, dass er das Mädchen verjagen muss, wenn er es noch einmal im Gebiet antrifft. Ole hat seinen Fisch ganz aufgegessen, mit Gräten und Kopf. Er nickt." MUSIK: Jazz =================================================== BEUTE MACHEN - AGENTEN UND LEKTOREN =================================================== O-TON 42: "Wenn mich jemand animieren würde, und ich denke, das interessiert mich, und da könnte ich mir vorstellen, dass ich da einfach auch mal näheren Kontakt haben will, ja, dann muss man hinmarschieren und sagen, so, ich heiße soundso, und ich bin Literaturagent und hier haben Sie meine Karte, und ich würde mich freuen, wenn Sie sich mal melden. Das gehört zum Geschäft dazu, und ich meine, die Autoren erwarten das ja auch, ich glaube, die jungen Autoren, die hier lesen, die träumen in der Nacht davor ganz heimlich davon, dass sie heute Abend mit fünf Karten von Literaturagenturen und zehn Karten von irgendwelchen Verlagslektoren nach Hause gehen dürfen." SPRECHER: Der erste Tag ist vorbei. Im Foyer gibt es noch ein Bier oder ein Glas Wein, draußen vor der Wabe werden die letzten Zigaretten angezündet. Und die Raubtiere? Sie haben bereits Witterung aufgenommen. Uwe Held von der Agentur Mohrbooks hat sich während der Lesungen in den Band mit den Texten versenkt, und die Lektoren der großen Publikumsverlage haben diskret Visitenkarten verteilt. Auch für die Vertreter der kleinen, unabhängigen Verlage fällt Beute ab: O-TON 43a: "In den letzten Jahren, war es immer so, dass uns einige Texte gut gefallen haben und wir dann hinterher mit den Autoren auch Kontakt aufgenommen haben, und die aber ganz oft nicht die Preisträger waren." SPRECHER: ...sagt Daniel Beskos vom Hamburger Mairisch Verlag. O-TON 43b: "Das sind ja auch alles unveröffentlichte Autoren hier - wir machen ja im Verlag auch viele Debüts. Und für viele Autoren ist es vielleicht auch interessant, bei einem Independent Verlag oder einem kleinen Verlag zu sein, weil sie da besser betreut werden, weil es langfristiger angelegt ist, das Ganze. Man kann die einfach gut begleiten bei den ersten Schritten in den Literaturbetrieb." SPRECHER: Warum muss man dafür ausgerechnet nach Berlin zum Open Mike fahren? Die deutschsprachige Literaturszene hat seit den neunziger Jahren eine ungeheure Dynamik entwickelt. Die Schreibschulen in Hildesheim, Leipzig und Biel produzieren jahrgangsweise aufstrebende Nachwuchsschriftsteller, ständig entstehen neue Zeitschriften, dazu kommt das Internet, das mit seinen Blogs zum Abenteuerspielplatz der Literaten von morgen geworden ist. Olaf Petersen, Lektor bei Kiepenheuer & Witsch - und in diesem Jahr an der Vorauswahl zum Open Mike beteiligt: O-TON 44: "Ja, das ist interessant, weil ich den Eindruck hatte, gemessen an dem, was man jetzt zur Verfügung hat, an Quellen für interessante Autoren, nimmt die Bedeutung des Open Mikes tendenziell ab - ist aber nicht der Fall, habe ich hier festgestellt. Es ist immer noch so, dass alle Lektoren kommen, viele Lektoren auch hier Autoren anwerben, und einige Autoren sogar jetzt schon unter Vertrag sind, bevor der Wettbewerb begonnen hat, also, der ist immer noch relevant." SPRECHER: Der Zirkus ist in der Stadt. Und selbst wenn die Lektoren und Agenten die Bedeutung des Open Mike an diesem Abend vor dem Mikrophon herunterspielen - sie alle werden am Morgen wieder hier in der Wabe am Rand der Manege sitzen und auf die nächste Attraktion lauern. MUSIK: "Being for the Benefit of Mr. Kite" =================================================== GESUNDE HÄRTE - CHRISTIAN SCHICH =================================================== O-TON 45: "Ich bin hier jetzt der einzige im Raum, und die leeren Stühle... ich kann mir ja die Leute dazudenken, das passt schon, das geht schon, und ich find's eigentlich ganz angenehm hier. Das Licht ist ganz nett. Ich glaub, das klappt schon!" SPRECHER: Sonntag morgen: Open Mike, Teil zwei. Gegen halb zwölf ist die Wabe noch leer. Christian Schich, der mit seinem blauen Trikot und seiner stämmigen Figur den Gewichtheber in einem Wanderzirkus geben könnte, probiert schon mal Tisch und Stuhl auf der Bühne aus. Er muss heute gleich im ersten Block lesen. O-TON 46: "Also, ich mag's, ich mag meine Texte gerne, und in dem Moment, wo ich mich mit meinem Text, wo ich mich in meinen Text reinfühlen kann, und dem Publikum da was geben kann, also eine Verbindung spüre, das ist eigentlich ein supergeiles Ding." 1:36 O-TON 47: (LESUNG) "Solange man nicht wirklich am Ende ist, gibt es keinen Grund, sich zu beschweren - diese Lektion hatte ich auf dem harten Boden des Boxrings gelernt. Seitdem ich laufen konnte, war ich Boxer. Der Ring hatte schon zu meinem Leben gehört, als ich noch nicht mal in die fünfte Klasse ging. Kämpfen war Alltag, genauso Routine wie Liegestützen, aufgeplatzte Lippen oder angeknackster Stolz. Schwäche zeigen? Aufgeben? Wie geht das? - Kotz ruhig, hatte man zu mir gesagt, wenn ich nicht mehr konnte. - Kotz ruhig, aber stehen bleiben musst du trotzdem. Das ist gesunde Härte, mein Junge..." MUSIK: Surf-Musik =================================================== DIE WELLE REITEN - DIE PROFESSIONALITÄT DER TEILNEHMER =================================================== O-TON 48: "Wenn man surft, dann weiß man, wenn man die Welle einmal getroffen hat, dann weiß man, ob es ne kleine oder ne große ist, oder ob's ne schnelle oder ne langsame ist: Spaß macht's dann immer. Und ich muss sagen, die Welle reitet sich ganz gut." SPRECHER: Natürlich sind sie auch ein bisschen aufgeregt, die jungen Schriftsteller, vor allem dann, wenn sie allein mit ihrem Text vor dem Publikum sitzen. Und trotzdem: Mehr als ein leises Flattern in der Stimme lassen sie sich nicht anmerken. Der Jahrgang von 2010 hat sich ausgesprochen gut unter Kontrolle. O-TON 49: "Ich hatte ganz viel auch dicke fette Egos auf dem Podium, wo ich dachte, ja geht's dir jetzt darum, gehört zu werden oder was zu sagen?" O-TON 50: "Na, ich glaube, es hat sich doch ne ganze Menge verändert, der Open Mike ist größer geworden, und er ist natürlich auch etablierter als Wettbewerb. Der Wettbewerb ist einfach auch wichtig geworden, hat sich im Literaturbetrieb etabliert, und, die Teilnehmer haben sich auch extrem professionalisiert, also die kommen sehr genau vorbereitet her, die wissen ziemlich genau, was sie machen, proben ihre Texte vorher, achten genau auf Wirkungen, gehen an die ganze Sache sehr professionell ran." SPRECHER: Sagt Boris Nitzsche, der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für die Literaturwerkstatt macht und den Open Mike seit mehreren Jahren begleitet. Doch es ist nicht allein der Auftritt auf der Bühne. Auffällig ist, dass die meisten Wettbewerbs-Teilnehmer kein Problem damit haben, zwei Tage gemeinsam mit den Literaturbetriebs-Profis zu verbringen. Martina Bögl, die am Tag zuvor von Hans Jäger und dem Fuchs erzählt hat, fühlt sich im Raubtierkäfig eher wohl: O-TON 51: "Ne, das find ich eigentlich spannend, also, ich hab auch mit ein paar Leuten, bin ich angesprochen worden, und das war ganz toll, und das war auch für mich ein tolles Feedback, und, ja, eigentlich habe ich das sehr positiv gesehen, alles..." SPRECHER: Die jungen Stars in der Manege sind ziemlich selbstbewusst. Auch Martina Bögls Kollege Tom Müller gibt sich demonstrativ gelassen. O-TON 52: "Die Lesesituation war jetzt gar kein Problem für mich, die Lektoren-Situation, die nimmt man jetzt einfach mal so als Schmankerl und weiß, dass nicht jedes Wort und nicht jedes Lob, was hier kommt, jetzt irgendwie eiserne Bedeutung ist und für Ewigkeiten gilt, aber es ist ein schöner Ansporn, weiter an sich zu arbeiten und an sich zu glauben." SPRECHER: Tom Müller ist 29 Jahre alt, hat laut Lebenslauf bereits als Pizzabäcker und im Schlachthof gearbeitet. Er organisiert eine Lesereihe in Berlin und arbeitet als freier Lektor, ist also selbst bereits ein halber Profi. Für ihn ist der Wettbewerb jetzt - in der Pause zwischen den letzten beiden Leseblöcken - im Grunde genommen schon zu Ende. O-TON 53: "Also ich denke, es gibt so etwa sieben Texte, die wirklich so sehr gut sind und eine Chance haben, hier zu gewinnen, und das ist es dann auch... - jeder hat da das verdient, und da jetzt noch den Unterschied auch noch herauszuklamüsern, halte ich für nicht mehr so wichtig. Also, ich denke, die Veranstaltung spricht schon für sich, und die guten von den weniger starken Texten zu trennen, das reicht schon, ob man das gewinnt oder nicht, ist nicht ausschlaggebend." SPRECHER: Tom Müller ist durchaus von sich selbst überzeugt. Die Vorstellung, das Schreiben zum Beruf zu machen, hat er allerdings trotzdem längst über Bord geworfen - zu unsicher: O-TON 54: "Natürlich kann das super laufen, klar, und als junger Autor hat man es auch noch leichter, man kriegt Förderung und so, aber langfristig steht man dann doch wie ein Fußballer dann doch mal da, so mit Ende dreißig, vierzig, und wenn man dann mit dem dritten Buch fertig ist oder dem vierten und nicht mehr so spritzig ist, und hat dann nichts mehr im schlechtesten Fall - und deswegen will ich eigentlich schon in den Literaturbetrieb selber rein oder jetzt promovieren und dann meine universitäre Laufbahn weiter verfolgen." MUSIK: "Salto Mortale" =================================================== "NICHT ZU VIEL ATMEN" =================================================== O-TON 55: "Es sind entschieden mehr Leute da, also wir sind hier, also der Raum, die Wabe ist wirklich am Rande der Kapazitäten, und man kann nur hoffen, dass sie nicht zu viel atmen, die ganzen Menschen." O-TON 56: "Na, es ist sehr gemischt, die Leute sind, glaube ich, teilweise sehr begeistert, und aber man merkt auch, wenn es ihnen nicht so gefällt, das finde ich sehr spannend, aber es ist wirklich anstrengend, weil es wirklich voll ist und wir bis jetzt auf dem Boden sitzen mussten, das war sehr anstrengend." O-TON 57: "Ja, also in diesem Jahr ist es wirklich besonders viel Publikum, habe ich auch den Eindruck, es ist zwar in jedem Jahr sehr voll, aber gestern war es einfach so voll, dass wir die Türen schließen mussten und über fünfzig Leute erst mal nicht reinlassen konnten, glücklicherweise konnten wir sie dann zum zweiten Leseblock doch noch einlassen, und alle haben was gesehen." =================================================== AM RAND DER MANEGE - DAS PUBLIKUM =================================================== SPRECHER: Knapp 500 Menschen drängen sich in der Wabe, wer keinen Stuhl mehr bekommen hat, sitzt auf den Treppenstufen oder auf den Heizkörpern. 20 Lesungen in zwei Tagen, Angstschweiß und Testosteron und wenig Sauerstoff - wer tut sich das eigentlich an? O-TON 58: "Das Publikum setzt sich zusammen aus ganz verschiedenen Arten von Leuten, es gibt sehr viele aus dem Literaturbetrieb, natürlich, Lektoren, Agenten, auch viele Journalisten, die immer da sind, die Kollegen treffen, die junge Autoren entdecken wollen. Es gibt sehr viele auch schreibende junge Autoren, die einerseits ihre Freunde sehen wollen, andererseits aber auch einfach gucken wollen, was für Texte gehen hier an den Start, womit könnte ich vielleicht dabei sein, und dann gibt es auch einfach sehr viel junges Publikum, es gibt gleich mehrere Gruppen von Studenten von unterschiedlichen Universitäten, die dann ganze Exkursionen machen, die Seminare hier machen, sogar in Berlin vor Ort, die aus Essen anreisen, aus Hildesheim, aus Leipzig, ja." SPRECHER: Ein großer Teil des Publikums kommt also vom Fach, einige arbeiten sogar während der Lesungen. In der letzten Reihe sitzen drei junge Frauen mit Laptops. Sie schreiben für Goldmag.de, ein Literaturblog, und sammeln auf dem Open Mike Eindrücke, die sie noch am gleichen Tag ins Netz stellen: Liveberichterstattung. O-TON 59: "Da sind ganz andere Formate möglich, also, wir haben letztes Jahr sehr viel mit Textschnipseln gearbeitet, das sind sehr assoziative Textformen, das ist natürlich ne Kürze, das ist kein zusammenhängender Text, sondern wir haben wirklich zu jedem Lesenden einen kleinen, eigenen Artikel, das ginge gar nicht in der Zeitung, wo ich Anfang, Ende und Mitte haben muss und die ganze Veranstaltung aufbereiten." SPRECHER: Es ist gar nicht so leicht, jemanden zu finden, der nicht selbst zum Literaturbetriebs-Zirkus gehört - oder gerne dabei wäre. O-TON 60: "Ja ich schreibe selber und überlege, mich zu bewerben, und hoffe, dass ich nächstes Jahr hier dabei sein kann. Also, ich würde mich hier auf jeden Fall gut aufgehoben fühlen, aber das Ding ist ja, ob man reinkommt, aber man kann es ja auf jeden Fall mal probieren." SPRECHER: Silke Kruse und Gerd Engel sind nur zum Zuhören gekommen, sie aus Berlin, er von der Mosel. O-TON 61: "Wir sind leider zu spät gekommen, wir sind jetzt beim zweiten Block erst drin, ne, ich kann das ganz gut, so lange zuhören. - (Er:) Also, ich find's auch nicht anstrengend. - (Sie) Ja, ein bisschen heiß, aber sonst geht's ganz gut - (Er:) Also, ich find, man muss sich konzentrieren, aber das ist doch gut, das es solche Orte gibt, wo man sich konzentrieren muss. Weil mir fällt auf: Es wird immer weniger Konzentration verlangt, immer weniger Konzentration aufgebracht, und ich find's gut, wenn man sie fordert." SPRECHER: Den beiden - sie sind Anfang fünfzig - geht es nicht um den Rummel, der rund um den Literaturzirkus stattfindet. Sie wollen einfach nur einmal dicht an der Manege stehen, wo es nach Sägemehl riecht und die Wortartisten und Sprachakrobaten zum Greifen nahe sind. O-TON 62: "Ich find's einfach sehr sympathisch, wenn ich jemanden sehe, ganz persönlich, und der liest das vor, was er persönlich geschrieben hat. Das finde ich wirklich ein ganz spezielles Erlebnis, ganz toll, dass das stattfindet. Kein Medium dazwischen, kein Fernseher, kein gar nichts, sondern ganz direkt dieser Mensch, der das liest, was er geschrieben hat." SPRECHER: Ihre Favoriten hat Silke Kruse übrigens auch schon ausgemacht. O-TON 63: "Ja, bei diesem ersten, bei dem Janko Marklein, da fand ich gerade diese Kargheit, die fand ich wirklich ganz großartig, das fand ich wirklich am beeindruckendsten, weil der wirklich keinen Firlefanz gemacht hat, ganz karg, ganz rein die Sprach...und der, der so ein bisschen einen amerikanischen Akzent hatte, der Polmans, also, das wären meine Lieblinge." MUSIK: "Ryders on the Storm" =================================================== SCHWARZE NONNEN - SEBASTIAN POLMANS =================================================== O-TON 64: (LESUNG) "Shit, denk ich. Das ist nicht gut. Noch fünfzehn Minuten bis die 3 kommt. Das ist nicht gut, weil ich mir, wenn ich warten muss, immer vorkomme wie der letzte Mensch auf der Welt. Und diese Welt mit mir als allerletztem Menschen kommt mir dann irgendwie winzig vor, wie eine Erbse. So ist das bei mir. Und dann dieser endlose Regen und diese Hitze. Und bis auf das grell scheinende Licht in der Haltestelle ist alles so megadunkel, dabei ist es viertel nach drei, p. m. Und sowieso denk ich mir gerade, das sei nie anders gewesen, als wär das hier mein fucking Zuhause. Home is where the hatred is ... Nur, dass ich nicht allein bin. Da ist nämlich diese Frau neben mir. Ihr Gesicht fast schwarz, viel schwärzer als meins, und sie ist klein und ziemlich dick. Sie trägt so ein Nonnenoutfit, die Farbe ist eins zu eins Vanille, auf ihrer Nase eine Sonnenbrille. Und an einer langen Kette um ihren Hals hängt ein geschnitzter, ziemlich großer Jesus am Kreuz und das Kreuz da auf ihrem Bauch, wie mit Prittstift festgeklebt, und hinter der Holzbirne von diesem Jesus ein bierdeckelgroßer, neongelber Heiligenschein, der im Dunkeln leuchtet. Bling, bling..." SPRECHER: Und noch eine akustische Irritation: ein Akzent, der zunächst nur schwer einzuordnen ist. Sebastian Polmans - er liest am Sonntag als einer der letzten Teilnehmer des Wettbewerbs - ist kein Amerikaner, wie Silke Kruse meint. Er ist Deutscher, aber er ist in der Nähe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sein Text - "Über Peanuts, mich und andere Sachen" - erzählt von einer Begegnung an einer Bushaltestelle, zwischen einer schwarzen Nonne und einem jungen Mann, der sich über seine eigene Hautfarbe nicht so ganz im Klaren ist. O-TON 65: "Also, ich hab mich eigentlich mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt, und bin dann darauf gestoßen, dass quasi die vierte Generation, meine Großmutter väterlicherseits, dass das Afrikaner waren, und in der Grundschule wurde ich hin und wieder so darauf angesprochen, dass ich so eine dunkle Hautfarbe hätte, und zwar besonders im Sommer, wenn ich im Urlaub, war ich immer sehr dunkelhäutig." O-TON 66: "Jetzt leg ich das Kinn aber auf meiner Schulter ab und blick auf diese beiden gelben Hartschalen. Die Tags "Johnny is a homo" und "fuckyoutwice" und "PENG" kann ich lesen, drumherum ist ein fettes Herz in die Schale geritzt, und etliche weiße und pinke Kaugummis kleben auf den Sitzflächen. Pfefferminz und Himbeer, perfekte Kaugummimische für den Sommer, denk ich mir. Ich stell mir auch den Geschmack vor und dabei fängt mein Mund an zu kribbeln und dann kribbelt es plötzlich überall, so ganz unangenehm. Ich dreh mich also wieder um, nach vorn, die Augen lass ich auf. Der Regen bleibt heftig. Und jetzt bekomm ich auch wieder so ein Schiss, dass der Regen meine Haut weiß wäscht. MUSIK: "Ryders on the Storm" =================================================== RADIKALE VORLIEBEN - DIE JURY =================================================== O-TON 67: "Wenn man mal ganz ehrlich ist, dann macht es natürlich Spaß, dass man das Recht hat, mitzureden, ja, man wird gefragt, und man kann seine Meinung äußern, und die Meinung zählt was. Das ist, glaube ich, eine ganz klassische Sache von einer Frage von Machtlust, die man bremsen muss, in dem Moment, in man sich sagt, aber ich muss wirklich versuchen, dem Texten gerecht zu werden, und ich habe hier auch ne Verantwortung." SPRECHER: Anja Utler, Jahrgang 73, gehört zur Jury. Sie ist Lyrikerin, hat selbst zahlreiche Preise bekommen und muss jetzt zusammen mit Hanns-Josef Ortheil und Ilja Trojanow ein Urteil fällen. Es ist Sonntag, später Nachmittag, der letzte Leseblock ist gerade zu Ende gegangen, und die Juroren ziehen sich zur Beratung zurück. 20 Texte: Klassische Kurzgeschichten und Gedichte, Ironie und Innerlichkeit, Füchse, Nonnen und Tankstellen, Dörfer und große Städte - wo setzt man den Hebel an? O-TON 68: "Ach, das ist gar nicht so schwierig, weil man sich verabschieden muss von irgendeiner Illusion, dass es eine objektive Bewertung gibt, sondern man muss (...) auch letztendlich dazu stehen, dass Literatur sehr viel mit Sympathie, mit Berührung, mit Verzauberung, mit Entführung zu tun hat, und die Sachen kann man letztendlich weder rational begründen, noch ausdiskutieren." SPRECHER: Sagt Ilja Trojanow, Weltreisender, Schriftsteller und Essayist. Auch sein Kollege Hanns- Josef Ortheil, der nicht nur extrem erfolgreiche Romane schreibt, sondern darüber hinaus in Hildesheim auch Kreatives Schreiben unterrichtet, pflichtet ihm bei. O-TON 69: "...weil sie jetzt alle so verschieden sind, entscheidet dann natürlich auch wirklich die radikale Vorliebe." SPRECHER: Und dann sind sie auch schon verschwunden. Jetzt heißt es warten - Zeit für einen letzten Zwischenstand. MUSIK: "Salto Mortale" =================================================== "ABSOLUT ORDENTLICH" =================================================== O-TON 70: "Ich fand die Geschichten heute besser, ich fand die inhaltlich spannender, und ich fand auch den Vortrag heute lebendiger." O-TON 71: "Ich könnte mir vorstellen, dass Jan Snela gewinnt, mit Milchgesicht, mein Favorit ist aber auch Jan Polmanns mit "Über Peanuts, mich und andere Sachen", weil dieser Text so völlig unabhängig von seinem Autor steht und er da in einer ganz, ganz kleinen konzentrierten Situation wirklich extrem Flow geschaffen hat, also, ganz toller Text." O-TON 72: "Ich fand die Qualität absolut ordentlich." O-TON 73: "Es gab ein, zwei Erzählungen, die mir gut gefallen haben, und es gab auch einen Lyriker, den ich sehr gut gefunden habe, den ich schon durchaus den Preis geben würde...von dem Levin Westermann, den fand ich wirklich sehr, sehr gut." O-TON 74: "Lassen wir uns überraschen, ich will dem nicht vorweggreifen!" =================================================== ZARTE LAUTE DER ZUKUNFT - DIE PREISVERLEIHUNG =================================================== O-TON 75: "Im Moment fühl ich noch gar nichts oder alles, aber ja, das nehme ich auch an, ich werde mich bestärkt fühlen, und ich fühle mich bestärkt, und ich werde da weitermachen, auf jeden Fall." O-TON 76: "Die Kacheln und der Hall, weil ich war der einzige mit Kacheln, die hallen, von daher: Da wusste ichs. Aber ich habs noch nicht geglaubt und hab nur angefangen zu schwitzen, wie blöd, aber sonst, da wusst ichs." O-TON 77: "Hab ich nen Ton? Ja. Ein bisschen, einige wenige Minuten noch, die Jury ist zu einem Ergebnis, die Jurys sind zu Ergebnissen gekommen, wir warten jetzt nur noch, dass die Jury jetzt wirklich eintrifft, alle Augen gucken da rüber... Also, es geht in wenigen Minuten los, versprochen..." SPRECHER: Es hat sich hingezogen. Es ist bereits nach 17 Uhr, das Finale steht bevor, und der Saal brummt. Dann geht es endlich los. Drei Preise werden vergeben, zweimal Prosa, einmal Lyrik, insgesamt dotiert mit 7500 Euro - und dazu der Publikumspreis in Zusammenarbeit mit der taz. Damit beginnt es: Sebastian Polmanns - er hatte von der seltsame Begegnung mit der schwarzen Nonne erzählt - bekommt den ersten Applaus. O-TON 78: (Applaus, Jubel) SPRECHER: Der Publikumspreis ist nicht dotiert - dafür winkt ein Abdruck des Textes in der taz. Sebastian Polmans steht noch einige Zeit etwas verloren auf der Bühne herum. Denn jetzt wird noch einmal ordentlich Spannung gemacht. Reden, Dankesworte, Lob in alle Richtungen - es dauert, bis endlich Anja Utler die Bühne betritt. Sie hat den Lyrikpreis zu vergeben - und auch sie holt noch einmal weit aus. O-TON 79: "Wir haben ja dank der Autoren und Autorinnen viele gute Gedichte gehört, und wir haben aber auch Gedichte vorgelesen bekommen, bei denen wir das Gefühl hatten, dass diese Gedichte eigentlich der Lyrik den Fehdehandschuh hinwerfen. Und je weiter der Vortrag dieser Texte gegangen ist, desto tiefer hatten wir das Gefühl, schickt er die Zuhörer und Zuhörerinnen in ein Labyrinth aus leeren Räumen, aus Fremdheit, aus gekacheltem Widerhall, und so hatten wir den Eindruck, spielen diese Texte den Ball an die Zuhörer und Zuhörerinnen zurück, in dem sie hinter kalter Abwesenheit einen Hunger zu Bewusstsein bringen, eine Art Sehnsuchtsgewissheit, für den die Jury den Lyrikpreis des Open Mike 2010 verleiht und zwar an Levin Westermann." SPRECHER: Blumen, schnell noch ein Gedicht - und dann geht es schon weiter. Anja Utlers Jury- Kollegen fassen sich kürzer - und plötzlich kommt richtig Schwung in die Sache. O-TON 80: "Das Phantastische bringt das Dichtbare zum Klingen und Scheinen. Selbst sprechend, raunend und schillernd schauen die Dinge zurück, und ab geht ein Flug, dass man als Leser schon mittun und miterfinden möchte, um eine Tankstelle und ein Einhorn zusammentreffen zu sehen. Der Preis für Prosa geht an Jan Snela." SPRECHER: Noch ein Blumenstrauß - ein Lächeln, halb verlegen, halb ungläubig - und dann wird der letzte Preisträger bekanntgegeben. Als im Publikum ein Baby schreit, nutzt Ilja Trojanow die Gelegenheit für einen kleinen selbstironischen Schlenker: O-TON 81: "Für einen Text der Gesellschaft abzubilden versucht, in ihrem kleinsten Nukleus - (ein Baby schreit!) - für einen Text der die zarten Laute der Zukunft hinausschreit - für einen Text der Macht und Ohnmacht jenseits eines penetranten Koordinatensystems thematisiert, der stets die Balance zwischen Empathie und Gewalt hält, für eine Sprache, die Pflöcke einschlägt, ohne Zäune zu errichten und dafür dem Leser erlaubt, zwischen den Sätzen hineinzuschlüpfen - verleihen wir den Open Mike Preis 2010 an Janko Marklein." SPRECHER: Und der ist mit seinen 22 Jahren wirklich ganz schön jung. O-TON 82: (LESUNG) "Wir sitzen im Gras neben der Güllegrube. Es stinkt kaum, das liegt am Wind. Hinter uns, im Innenhof, picken die Hühner wie blöde auf die Steinplatten. Die Grube ist bis zur Hälfte gefüllt. Man kann eine Leiter hinaufklettern und hineingucken. Die Gülle ist an der Oberfläche getrocknet, eine Kruste hat sich gebildet, aber wenn man einen großen Stein hineinwirft, zerbricht sie. Vor drei Jahren, in den Sommerferien, hat Paul den Lenkdrachen von Ole in die Güllegrube gesteuert. Ole hat ein bisschen geweint, ist aber nicht hinterhergesprungen." MUSIK: Jazz =================================================== GELD & RUHM - DIE PREISTRÄGER =================================================== SPRECHER: Und das war es: zarte Ironie, knochentrockene Dorfprosa und eine poetische Kampfansage. Schön erzählen, das war gestern: Die Jury hat beim 18. Open Mike die Anti-Texte aufs Podest gehoben. Im Bistro knallen die Sektkorken, Jan Snela ist bereits irgendwo in der Menge verschwunden, und Janko Marklein und Levin Westermann müssen die erste Pressekonferenz ihres Lebens zu zweit geben. O-TON 83: "Ja, also, mir fehlen die Worte, auch wenn alles abgedroschen klingt, ich weiß nicht, was ich sagen soll, und, äh, habe das nicht erwartet, und bin voller... ich bin ohne Worte..." SPRECHER: Die kommen sicher bald wieder. Sie MÜSSEN wiederkommen. Mit dem Open Mike fängt es schließlich erst an. O-TON 84: "Also, die Idee ist im Moment, ein Prosaprojekt um dieses Dorf zu bauen, und eventuell mit mehreren Erzählern, eventuell, mit diesem einen Erzähler, eine Collage eventuell um dieses Dorf herum zu entwickeln." SPRECHER: Doch jetzt heißt es erst einmal: die Eltern und die Freunde benachrichtigen. Und sich überlegen, was man mit dem Preisgeld anfangen will: 2500 Euro sind es für jeden der Gewinner. O-TON 85: "Mit dem Geld, äh... leben. Leben und Schreiben. Also, wenn man schreibt, ist Geld immer willkommen." SPRECHER: Und der Ruhm? - Jetzt sind für die Open-Mike-Gewinner die Mikrophone der Reporter offen. Levin Westermann nutzt die Gelegenheit, um kräftig Werbung zu machen - für Gedichte: O-TON 86: "Ich hab in Frankfurt mit Kindern gearbeitet, und irgendwann haben die gefragt, was ich so mache, und ich habe gesagt, dass ich Gedichte schreibe. Und alle haben gesagt: uää, was soll das denn? Und das liegt meiner Meinung nach am Schulsystem, wenn man nur alte Schinken vorgelegt bekommt, dann hat man erstmal keinen Bock mehr, dann muss man sie metrisch analysieren, das macht auch keinen Spaß. Ich habe den Schülern Gedichte junger Dichter mitgebracht, Almut Sandig, Nora Bossong, und die haben alle nicht geglaubt, dass das Gedichte sind. Sie haben gesagt: Oh, das ist ja schön! Und ich habe gesagt: Ja, Gedichte sind eigentlich schön. Aber das wissen die, die den Lehrplan machen noch nicht." SPRECHER: Unten im Foyer ist die Lyrik bereits vergessen. Die Profis - die Agenten, Lektoren und Journalisten - verabreden sich bereits für die nächsten Zirkusveranstaltungen - bis zur Leipziger Buchmesse ist es schließlich gar nicht mehr so lange hin. Mal sehen, wer von den Nachwuchs-Stars dabei sein wird. O-TON 87: "Ich habe das noch nie gemacht, ist das okay so? (lacht, leise:) Scheiße." MUSIK: "Salto Mortale" =================================================== "BYE, BYE" =================================================== O-TON 88: ",Der Open Mike, ich glaube, da muss man gar nicht so viel machen, es passiert mit ihm." O-TON 89: "Die Atmosphäre fand ich sehr, sehr angenehm, ich war vor allem sehr überrascht und angetan, dass tatsächlich diese Wabe ein toller Ort, ein toller Raum ist, gefüllt war, zwei Tage lang, ich weiß nicht, wie viele Leute da reinpassen, vierhundert, fünfhundert Leute, tatsächlich zwei Tage lang konzentriert wildfremden Leute zugehört haben, von denen ich einer war, und das habe ich tatsächlich genossen und toll gefunden." O-TON 90: "Also, es war so etwas Kribbelndes, Nervöses, ja, wer liest jetzt...? " O-TON 91: "Weißt du, das wirklich Schöne ist: Das eine ist der Open Mike und die Preisverleihung, aber das andere ist, und das ist mindestens genauso schön und das dauert länger, das ist dieses, was wird aus den Leuten, also, das einfach zu beobachten, und toll, jetzt kommt das erste Buch, und toll, da hat es geklappt, und dann guckt man das erste Buch an, und dann kriegt man das, und dann kann man das lesen, und das macht richtig Freude! O-TON: (LESUNG) " Shit. Bye, bye, blackbird... Und that's it." =================================================== ENDE =================================================== =================================================== ABMODERATION =================================================== Das Buch zum Wettbewerb ist bereits im Handel: Der Allitera Verlag bietet im Internet ein Book- on-Demand mit allen Texten vom Open Mike 2010 an - www.buchmedia.de. Und wer sich für das nächste Jahr als Autor bewerben will, der wendet sich einfach an die Literaturwerkstatt Berlin, unter mail@literaturwerkstatt.org. 2 1