COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Länderreport / 17.2.2010 Lesezeichen Hildesheim Autorin: Adama Ulrich Redaktion: Claudia Perez 1. O-Ton Köhler 007, 01.05, Der schönste Preis für einen Lyriker ist ja nicht Geld oder ein Büchlein, sondern eine schöne Form der Veröffentlichung zu finden. Autorin Darum hat der Dichter Jo Köhler vom Hildesheimer Forum-Literatur ein ganz besonderes Lyrikprojekt in gestartet: An 16 öffentlichen Orten und Bauwerken ließ er 25 großflächig gedruckte Gedichte zeitgenössischer Autoren aus Deutschland und sechs weiteren Nationen montieren. (O-Ton Köhler 005, 05.36 Ich denke, es ist gerade auch die Kombination von Ort und Wort. Das Wechselspiel zwischen der Gedichtinstallation und der Wahrnehmung des Betrachters. Gerade das gibt ja der Lyrik auch ihre Einmaligkeit zurück, jenseits des Reproduzierten, was zwischen Buchdeckeln verfügbar ist. ... ) Autorin Jo Köhler hat sich fest vorgenommen, Poesie unters Volk zu bringen. Begeben wir uns mit ihm auf einen lyrischen Rundgang durch Hildesheim: 2. O-Ton Köhler 006, 00.05 Jetzt kommen wir zur Andreaskirche. Da hängt eines der größten Gedichtbanner, die wir produziert haben. Das ist etwa viereinhalb Meter hoch. (...) Ich denke, das ist ein Text, der hierher passt. "Worte finden". 01.29 Gedicht: "Worte finden" Worte die nicht brechen können. Worte die groß sind, groß genug. Worte die alles ändern. Worte die schwer wiegen. Worte die etwas gelten. Worte die zu gebrauchen sind. Worte die helfen können. Worte die ausreichen. Worte die für sich selber sprechen. Worte die alles sagen. Worte die wie Orte sind - Orte des Schweigens. Autorin Die St. Andreas Kirche ist das Wahrzeichen von Hildesheim. Ihr 114 Meter hoher Kirchturm ist von überall her gut sichtbar. Sie befindet sich in der Innenstadt, bietet 1000 Personen Platz und hat von den insgesamt neun mittelalterlichen Kirchen die größte Gemeinde. Helmut Aßmann ist der Superintendent der Andreaskirche. 3. O-Ton Aßmann 019, 01.30 Was an unserer Kirche, der Stadtkirche, hier sehr prominent angebracht ist, zeigt, dass wir als Kirche uns als Hüter dieser Worte verstehen. Und wir wollen das auch sein. ... Ob es die Worte der Heiligen Schrift sind oder andere, ist noch gar nicht mal entscheidend. Wichtig ist, dass diese Worte Halt und Gemeinschaft und Wahrheit stiften und wir als Kirchengemeinde sozusagen, diese Verbindung gerne stehen lassen. Autorin Superintendent Aßmann weist auf noch eine Eigenart der Lyrik hin: 4. O-Ton Aßmann 019, 06:19 In unserer kirchlichen Tradition wird, sobald die Dinge feierlich, ernst, tief und groß werden, die Sprache gebunden. Das ist nicht nur in der kirchlichen Tradition so, das ist überall so. Deswegen ist Lyrik die Sonntagsform der Sprache. Wenn man die nicht kennt, kann man keine Sonntage mehr feiern. Dass ist wie der verramschte Sonntag in der normalen Kulturwelt. Autorin (falls neuer Übergang notwendig ist.) Etwas abseits des Stadtzentrums befindet sich das Mehrgenerationenhaus, an das auch ein Gedichtbanner installiert worden ist. 5. O-Ton Dierßen, (die letzten zwei Zeilen unter Autorin ausblenden) 004, 01:05 Blutend sitze ich da Meine Kindheit eindeutig das Paradies ein Ort, an den ich gern zurückdenke doch der Zauber der Welt ist zerstört die Fäden sind zerschnitten der Ballon fliegt davon und ich schlage mit dem Kopf auf den harten Asphalt der Realität (blutend sitze ich da im Herzen das kleine Kind der Kompass versagt ich irre umher weiß nicht in welche Richtung es geht Will ich überhaupt erwachsen sein? Blutend sitze ich da im Herzen das kleine Kind und komme einfach nicht weiter) Autorin Jana Dierßen ist 18 Jahre alt. Das Gedicht hat sie mit 15 geschrieben. Sie hat sich am Hildesheimer Lyrikwettbewerb beteiligt und ist eine von acht Preisträgern. Jetzt ist ihr Gedicht großflächig an die Glasfassade des Mehrgenerationenhauses montiert. 6. O-Ton Dierßen 004, 02:22 Am Anfang war ich so ein bisschen kritisch und dachte, vielleicht sind die Leute gar nicht so interessiert daran. Aber dann habe ich gesehen, dass auch an den Bushaltestellen die Leute einfach stehen bleiben, sich das durchlesen, sich sogar Gedanken machen, vielleicht auch mal lächeln und dann weiter gehen. Ich denke, die Leute nehmen es vielleicht mit in ihren Alltag und beschäftigen sich mit den Gedichten. Oder manche schreiben selber und denken vielleicht daran, auch mal teilzunehmen. Also, es ist eine gute Sache. Autorin Jo Köhler hat viel Zeit und kreatives Potenzial in die Organisation des Lesezeichenprojekts gesteckt. 7. O-Ton Köhler 018, 01.15 Da es sich um sehr viele verschiedene Orte dreht in der Stadt, müssen wahnsinnig viele Anträge gestellt werden. Ob dass das Baurecht ist - das ist ein aktenordnerdicker Bescheid gewesen, um das genehmigt zu bekommen. Und eben die vielen Institutionen: Museum, Theater, die Bahndirektion, das Warenhaus. Alle Einrichtungen müssen ja zustimmen - nicht müssen, sondern wollen. Es sind ja die Hüter der Orte der Lesezeichen und die sollen sich damit identifizieren. Autorin Die Hüter der Lesezeichen davon zu überzeugen, dass Gedichte auf Werbeflächen oder in Schaufenstern nicht unbedingt einen Umsatzverlust bedeuten, sondern sogar potenzielle Kunden anlocken könnten, ist nicht immer einfach. 7.a O-Ton Köhler 018, 08.12 Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Marketinginteressen und künstlerischen Interessen. Die sind nicht deckungsgleich, wenn es um die schöpferische Freiheit geht, darum geht, das Konzept auch in ihrer Dynamik umzusetzen. Ein Projekt wie dieses ist ja nicht so, dass ich am Anfang einen Plan mache und am Ende ist es so, wie es im Plan vorgesehen war. In dem Prozess liegt eine bestimmte Energie, die dazu gehört. Dem muss Raum gegeben werden. Da kann man nicht gefesselt werden durch Vorgaben. Am besten noch, zeigt uns erstmal die Gedichte, ob die konform sind mit irgendwelchen Marketing- oder Verkaufsinteressen. Das kann es nicht sein. Autorin 100.000 Euro hatte Jo Köhler für das Lesezeichen-Projekt veranschlagt. Mit 25.000 Euro musste er sich letztendlich begnügen. Mehr hat er nicht zusammen bekommen. Neben zahlreichen Stiftungen, Kultur- und Kunstvereinen, hat auch die Stadt Hildesheim das Vorhaben unterstützt. 8. O-Ton Ekkehard Pallandt 020, 04.25 Es kann nicht alleine städtische Aufgabe sein, die etablierten Kultureinrichtungen wie Theater oder Museen zu fördern, die sind zugegebenermaßen diejenigen, die am meisten Geld verbrauchen. Das liegt daran, dass da auch viele fest beschäftigte Mitarbeiter tätig sind, sondern wir müssen auch sehen, dass wir Abwechslung haben. Und dazu gehören die Kreativen. Jo Köhler ist einer davon. Autorin Bürgermeister Kurt Machens sitzt in seinem geräumigen, hellen Amtszimmer im Rathaus am Historischen Marktplatz - gleich gegenüber vom Knochenhaueramtshaus. Er kommt ins Schwärmen, wenn er von Hildesheim spricht. 9. O-Ton Pallandt 020, 00:48(01:48?) Wir sind eine Stadt der Kultur. Wir haben ein Theater, wir haben ein großes Museum - was eigentlich in einer Stadt von 105.000 Einwohnern sonst nicht zu finden ist. Da ist die ägyptische Sammlung, in Europa nach Berlin und dem Louvre die Nr. 3. Wir sind stolz darauf, aber das erwartet von uns auch einige finanzielle Mühen. Und Hildesheim ist eine Stadt in der die Kleinkunst und Kulturszene eine besondere Bedeutung hat. Das hat damit zu tun, dass die Uni Kulturpädagogen ausbildet, und die suchen sich vor Ort auch immer Arbeit. Das gefällt uns gut - auch wenn wir nicht immer alles finanzieren können. Autorin Der Gesamtetat für sämtliche Aktionen liegt bei 40.000 Euro. Das ist nicht viel Geld in einer Stadt mit so einer vielschichtigen Kulturszene wie Hildesheim sie aufzuweisen hat. 10. O-Ton Pallandt 06.05 Es steht jedes Jahr der gleiche Betrag zur Verfügung. Nur, es gibt unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Da die Beträge, die bspw. für die Lesezeichen aufgewendet wurden, ordentlich gering sind, kann man sie auch nicht weiter kürzen. Es sei denn, man will, dass es nicht mehr stattfindet. Autorin Weiter geht es auf unserem lyrischen Rundgang durch die Hildesheimer Innenstadt. 11. O-Ton Köhler 009, 00:01 Hier ist auch ein Lesezeichen mitten in der Fußgängerzone - passt hier sehr gut hin - von dem Autor Ingo Cesaro: "Qualifikation" heißt das: Kein einziger Mitdenker Konnte sich Als Mitläufer Qualifizieren. Das passt genau in die Fußgängerzone, diesem flüchtigsten Ort der Stadt. Atmo Bushaltestelle 12. O-Ton Köhler 007, 00: 08 Mit den Bushaltestellen, das ist auch ein Novum, weil die ja für Werbeflächen gebraucht werden. Dass die Werbefirma das zugelassen hat, dass war nicht ganz einfach, dass zustande zu bringen. Aber die sind jetzt inzwischen ganz überzeugt davon, dass Lyrik gerade auch an solchen Orten besonders gut kommt. Autorin An der zentralen Bushaltestelle im Zentrum von Hildesheim ist immer viel los. Auch heute stehen die Reisenden eng gedrängt in dem gläsernen Wartehäuschen. Einige vertreiben sich die Zeit damit, das Gedicht zu lesen, das da angebracht wurde, wo sonst schrille Werbetexte zum Konsum auffordern. Es trägt den Titel "Ankunft" und stammt aus der Feder von Jo Köhler. 13. O-Ton Köhler 016, 00:22 Da hab ich dieses Lied gehört das Mutter mir mal am Bett gesungen und mich erst jetzt lange nach ihrem Tod erreicht Autorin Einige Passanten scheinen das Gedicht mehrmals zu lesen, andere werfen nur einen kurzen Blick auf die Zeilen und schütteln den Kopf, wieder andere bleiben in Gedanken versunken stehen. 14. O-Ton Passantin 016, 01.42 Man muss Verständnis dafür haben und so ein bisschen. ... Das zieht die Leute rein und so und dann wird man eingeführt. Da können sie gucken, Leseproben machen und so. Ist doch schön. 02.40 Genau das hier, was hier steht, gefällt mir sehr gut. ... Das man an früher denkt, dass man an seine Mutter denkt. O-Ton Passantin 015, 01.45 Es gefällt mir einfach, dass man durch die Stadt geht, etwas liest, was besinnlich ist und was einen anhält, innezuhalten und darüber nachzudenken. So, jetzt fahre ich nach Hause. Tschüß. Atmo Bus fährt ab 15. O-Ton Köhler 014, 01.40 Das gehört mit zu dem Grundkonzept mit dazu: Der Leser bewegt sich an den Ort, die Literatur stellt sich in den Weg, man liest sie nicht nur, man liest sie auch auf, man entdeckt sie, man wird selbst ein Teil dieses Platzes. Man sieht die Stadt oder die gewohnten Plätze aus einer neuen Perspektive. Autorin Unsere Lyrikwanderung durch Hildesheim führt uns vorbei am Kino Thega, wo ein Gedicht des früh verstorbenen Hildesheimer Dichters Rolf-Dieter Brinkmann angebracht ist, zu einem großen Kaufhaus in der Fußgängerpassage. 16. O-Ton Köhler 010, 00:01 Das ist ja ein Ding, dass das hier jetzt entfernt ist! Das war ja nicht vorgesehen, hier in dem Kaufhaus. Atmo Kaufhaus 012, 05.50 - 06.30 Autorin Neben der Eingangstür, da wo einst ein Gedicht hing, herrscht jetzt gähnende Leere. Jo Köhler hat sofort die Geschäftsführerin des Kaufhauses, Kerstin Meyer, informiert. Die weiß von nichts und ruft erstmal die Deko-Chefin an. 17. O-Ton Meyer 01:10 Hallo Frau ..., haben wir nur eins von den Gedichten aufgehängt? Beide. Da, wo sie vorher auch hingen. Weil, Herr Köhler ist gerade hier und sagt, dass von Imri Matthei würde nicht hängen. Da müssen wir mal schauen. Autorin Etwa 10.000 Menschen laufen täglich durch das Kaufhaus. Jeder von ihnen ist ein potenzieller Lyrik-Rezipient. Jo Köhler hat sich an diesem Ort für zwei Liebesgedichte entschieden. 18. O-Ton Meyer 012, 04.25 Zum einen gibt es unheimlich viele Hildesheimer, die hier ... ihre erste Liebelei hatten, ihren ersten Kuss gekriegt haben. Hier gab es eine ganz tolle Milchbar und da hat man seinen Schwarm ausgeführt. Insofern gibt es da viele Erinnerungen. Und auch heute. Wir haben in verschiedenen Etagen so kleine Sitzecken, wo man sich auch mal so ein bisschen versteckt hinsetzen kann und da sitzen dann auch die jungen Pärchen und Teenager und treffen sich dort, sitzen da und kuscheln ein bisschen. Insofern passt das schon ganz gut. O-Ton Köhler 05.14 Das war ja auch die Herausforderung: Wie schaffen wir es, den richtigen Text mit dem richtigen Ort zusammen zu führen. Gerade die Verortung des Gedichtes ist bei diesem Projekt ein ganz wichtiges Moment, da jeder Ort seinen eigenen Seelenzustand hat. ... So ist es auch beim Lesen oder Auflesen von Gedichten, von Poesie. Autorin Inzwischen ist geklärt, was mit dem fehlenden Gedicht im Eingangsbereich passiert ist. 19. O-Ton Meyer 07.30 Telefonat: Meier, Hallo. Ja wir stehen nämlich gerade davor und es wäre schön, wenn wir das jetzt irgendwie zum hängen kriegen. Es ist wirklich runter gefallen. Also wir stehen vor dem Fenster ... Das ist fantastisch. Danke. Autorin Zehn Minuten später hängt das Liebesgedicht des ungarischen Lyrikers Imre Máté wieder an Ort und Stelle. 20. O-Ton Köhler 013, 00.10 "An meine Geliebte" Dir, in deiner Sprache erzählen zu können, wie ich dich liebe, trennte ich mich von den Liedern meiner Wiege. Das Echo ist verklungen, verstummt der Schall, ich nehme keine Stimme wahr, keinen Widerhall, nur die Klänge deiner Seele. Autorin Etwas abseits vom Zentrum zieht ein moderner, eckiger Bau aus Glas und Beton die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist das Roemer- und Pelizaeus-Museum. Hinter dem Doppelnamen des Hauses stehen die Familiennamen der Begründer des Museums: Hermann Roemer und Wilhelm Pelizaeus, der seiner Heimatstadt 1907 eine bedeutende Sammlung ägyptischer Altertümer schenkte, die 1911 ein eigenes Museum beziehen konnte. Auch hier ist im Eingangsbereich ein großes Gedichtbanner installiert. Zitator (die 2. Strophe unter der Autorin ausblenden) Jedes Jahr kommen sie wieder. Die anderen. Mit dem schmelzenden Schnee im Frühsommer wachsen die Horden. Und sie steigen immer weiter hinauf. Und es werden immer mehr. Nach jedem Gewitter, nach jedem Schneefall kommen sie aus den noch nachtschattigen Tälern gekrochen: Autorin Das Gedicht hat der Extrembergsteiger und Abenteurer Reinhold Messner verfasst. Warum ausgerechnet das Museum als Hüter dieser Zeilen ausgesucht wurde, kann sich die Museumsdirektorin, Katja Lembke, nicht erklären. 21. O-Ton Lembke 005, 02:35 ...Reinhold Messner hätte ich nicht unbedingt mit unserem Haus in Verbindung gebracht. Der hat ja seine Großtaten im Himalaja absolviert. (...)Unser Schwerpunkt liegt auf der Ägyptensammlung - auch wenn unsere Ethnologika auch sehr bedeutend sind. 03.25 O-Ton Köhler Na gut, dass der Bergsteiger Messner noch keine Pyramiden erklettert hat, ist für mich kein Grund das hier auszuschließen. Im Gegenteil, dieser Ort, das Römer- und Pelizeaus-Museum, empfinde ich als einen sehr poetischen Ort. Wenn wir das Thema des Gedichtes von Herrn Messner nehmen, wo es um Besuchergruppen geht, die versuchen, Berge des Wissens oder der Kultur zu ersteigen, finde ich es durchaus sinnig platziert hier in dem Eingangsbereich des Museums. 04.10 O-Ton Lembke Passt vielleicht dann auch ganz gut zu unserer Architektur. Jeder der unser Haus kennt, weiß, dass wir über eine schöne, monumentale Treppe verfügen. Insofern ist damit ein gewisses Bergsteigen hier im Haus verknüpft. Aber selbstverständlich kann man auch den Fahrstuhl nehmen. Autorin Weiter geht's. Unser lyrischer Rundgang endet auf dem Hildesheimer Hauptbahnhof. Atmo Bahnhof 021, 00:20; 01.:19 Ansage, 01:36 Ansage Autorin In der zugigen Eingangshalle muss man erst eine Weile den Blick schweifen lassen, bis man ein Lesezeichen entdeckt. Detlef Krusche, Leiter des Bahnhofsmanagements, findet die Positionierung ideal. 22. O-Ton Krusche 022, 01: 55 ... Weil, zur Abfahrtstafel gucken alle hin. Da wird auch ein zweiter und dritter Blick hingerichtet und dann nimmt man das Lesezeichen auch wahr. Wenn ich meine persönlichen Empfindungen reflektier, ich gucke da auch öfter hin und jedes Mal nehme ich etwas mehr wahr und ich glaube, so geht es anderen auch. Autorin Das Gedicht ist über der Abfahrtstafel installiert. Es heißt "Reisegepäck" und stammt aus der Feder von Manfred Hausin. 23. O-Ton Hausin 003, 00.50 Reisegepäck In zwei großen Koffern Und einer Reisetasche Habe ich meine Hoffnungen Verstaut Ich sehe Dass sich viele Mit noch mehr Gepäck Abmühen Den Gepäckträger Der mir behilflich sein will Weise ich höflich Aber bestimmt ab: Meine Hoffnungen Gebe ich Nicht Aus der Hand Autorin Der 59jährige Hildesheimer Autor Manfred Hausin hat das Gedicht geschrieben als er 16 Jahre alt war. Nachzulesen ist es, außer im Bahnhofsgebäude, auch in dem Gedichtbändchen "Vorsicht an der Bahnsteigkante", das bereits 1972 erschienen ist, inzwischen aber mehrfach überarbeitet und wiederaufgelegt wurde. Dass der Hauptbahnhof für dieses Gedicht der passende Ort ist, liegt auf der Hand. Manfred Hausin freut sich vor allem über die Reaktionen. 24. O-Ton Hausin 003, 02.12 Einige Leute haben mich angerufen, einige, die ich lange nicht gesehen habe, sind über die Aushängung des Textes hier und über den Namen wieder auf mich gestoßen. Ansonsten ist es etwas, was Reisende mitnehmen in die fernen Städte in die sie reisen. Atmo Bahnhof Ansage 2 Autorin Zum Abschied schlägt Jo Köhler, immer auf der Suche nach neuen literarischen Herausforderungen, dem Bahnhofsmanager Krusche vor, die Zugansagen doch künftig lyrisch zu gestalten. 25. O-Ton Krusche/Köhler 022, 05.38 Wir müssen uns auch besinnen, dass wir nicht zu viel ansagen. Nachher wird es nicht mehr richtig wahrgenommen. Daher konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Köhler: Eben, das tut der Lyriker ja auch. Gerade wenn es um die Ansage einer Verspätung geht, da könnte eine lyrische Zeile sehr tröstlich sein. (Lachen) 1