COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Sendung vom 11.08.2010 Reihe: Urlaub mit dem Länderreport... Sommer auf Balkonien - und die gefälschte Ansichtskarte Autoren: Jens Rosbach (Beitrag 1) Uschi Götz (Beitrag 2) Beitrag 1 Sommer auf Balkonien (Jens Rosbach) MUSIK (Schlager) Wir machen Urlaub, hier auf Balkonien, mit Pizza und Chianti aus Italien. Urlaub zwischen Geranien... OT (Collage, Umfrage) - Ich habe einen Gartenzwerg auf dem Balkon - Dann leg ich mich dahin und genieße die Sonne - Rumschlafen, Betten ausschütteln und so weiter - Meinen extravaganten Liegestuhl aufstellen und mein Knöterich angucken, der nie blühen will - Ich hol mir mal einen Drink und muss nicht an die Bar oder ich geh mich duschen und muss nicht ins Schwimmbad - Da läuft Stimmungsmusik, dann haben wir da Spaß, dann tanzen wir da - Vielleicht sternenklarer Himmel, das ist immer romantisch! - Also ich bin immer auf dem Balkon, wenn es möglich ist. AUTOR Im Lande Balkonien wohnt ein eigentümliches Völkchen. Es lebt nicht drinnen und nicht draußen, es versteckt sich halbnackt hinter Blumen und hat immer nur das eine im Kopf: OT (Umfrage) Einfach nur faul sein. Fünfe gerade sein lassen! AUTOR Die Königin Balkoniens, fährt das volle balkonische Programm ab. Das volle Tu-Nix-Programm. OT (Balkonkönigin) Wenn man dann sitzt, dann kann ja keiner mehr reingucken, sind ja hier oben in der fünften Etage. Und alle anderen sind ja niedriger, also dann kann man hier auch sehr ungestört nackt sonnenbaden. Wie am FKK-Strand. AUTOR Fürs Nacktbaden gibt es natürlich keine Krone. Balkonkönigin wird nur, wer besonders große Geranien, besonders prächtige Petunien, besonders feurige Feuerbohnen und besonders treuen Männertreu großzieht - mit viel Liebe und viel Dünger. OT (Balkonkönigin) Kräuter gibt's auch hier, gleich frisch für die Küche. Also frisches Schnittlauch, schön fürs Rührei. Oder auf die Stulle, lecker! Und dann haben wir hier Weihrauch. Das ist Weihrauch ja. Soll die Blattläuse fernhalten. Der riecht auch sehr stark. Also der stinkt. Das mögen die Insekten nicht. REPORTER Das ist ja hier fast ein kleiner Teich... OT (Balkonkönigin) Das i s t ein kleiner Teich. Ja, also da hab ich mir letztes Jahr so einen schönen Zinkkübel gekauft, reduziert natürlich. Und dieses Jahr haben meine Eltern in ihrem Garten den Gartenteich völlig neu gestaltet und da sind Seerosen übrig geblieben. REPORTER Frösche haben Sie auch schon? OT (Balkonkönigin) Na ich glaube, die ziehen sich nicht in den fünften Stock, so hoch springen die nicht (lacht) MUSIK (Kinder) Ein Urlaub auf Balkonien, der ist so wunderschön. Ein Urlaub auf Balkonien, der ist für uns der Hit... OT (Collage, Umfrage) - Der Vorteil ist ja, dass es keine negativen Überraschungen geben kann, als dass man seine Umgebung bestens kennt - Also ich hab den Stress nicht mit der Reise, dann flieg ich nicht sehr gerne, mag ich nicht, hab ich bissel Platzangstgefühl und ich kann es mir nicht vorstellen, dass so ein Ding fliegt. Also da bin ich immer noch skeptisch, obwohl ich geflogen bin - Ich würde gerne weg fahren - ich war noch nie weg. Tatsächlich, das Geld fehlt. AUTOR Die Wissenschaft hat festgestellt - dass zwei von fünf Deutschen nicht richtig verreisen. Statt Urlaub machen sie Stadturlaub. Erholungsspezialist Ulrich Reinhardt analysiert, warum die Leute ausgerechnet in Balkonien ihre Seele baumeln lassen. OT (Reinhardt) In erster Linie ist natürlich das Finanzielle anzusprechen. Die Leute haben heute in der heutigen Zeit immer weniger Geld und müssen dann bei ihrem Urlaub dann eben sparen. Zusätzlich kommt natürlich noch dazu, dass eine Vielzahl der Bevölkerung, ich denke da vor allem an die ältere Generation, die eben auch aus gesundheitlichen Gründen dann eben zu Haus bleibt oder generell nie verreist. AUTOR Das Verwunderliche: Obwohl sie in der Regel viel Zeit haben, fahren im Schnitt drei von fünf Rentnern nicht in der Weltgeschichte herum - und wenn dann höchstens fünf Tage im Jahr. OT (Reinhardt) Wir alle kennen das, denke ich. Man plant ja immer im Rentenalter dann die große Reise durch Amerika mit dem Wohnmobil zu machen - wessen Eltern haben nicht davon geträumt - es setzt wirklich kaum jemand in die Wirklichkeit diese Träume um. Es heißt dann natürlich im Alter eher: zu Hause bleiben, lieber im bekannten Wohnumfeld sich aufzuhalten und dort eben dann die Tage zu verbringen. AUTOR Der Kult um den Balkon begann vor 100 Jahren. Während der Industrialisierung, als das Bürgertum vom Land in die Stadt zog. So Irmela Hannover, stolze Besitzerin von fünf Balkonen und Autorin des Fachbuches "Zwischen Himmel und Erde" - einer Balkon-Bibel. OT (Hannover) Das Bürgertum hatte eben früher auf dem Land hatten die natürlich ihren schönen Garten, das war sozusagen die Verlängerung des Salons, das wurde auch genannt der grüne Salon. Und nun war das in der Stadt natürlich damit vorbei und wurde aber schmerzlich vermisst und was hat man gemacht - man hat sich dann seine kleine Laube auf dem Balkon gezüchtet, ne. Da gab es um die Jahrhundertwende so einen richtigen Balkonhype, insbesondere in Berlin. Und wenn eine Wohnung eben keinen Balkon hatte - wie man das heute auch macht, wurden Balkone angeklebt, der berühmte Klebebalkon. AUTOR Seit den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen schließlich auch die Kellerkinder in den Geranien-Genuss. Fortschrittliche Architekten begannen, die Balkone auch an Mietskasernen anzukleben. OT (Hannover) Also jeder soll eben einen Balkon haben, jeder soll die Möglichkeit haben, dass Licht und Sonne in die Wohnung kommt. Das kommt eigentlich so aus dieser Bewegung der 20er, 30er Jahre, die auch mit einer Hygienebewegung zu tun hatte: man wollte die vielen Krankheiten bekämpfen, die durch zu wenig Luft und Sonne da waren. das war damals eben auch üblich, dass man seinen Urlaub auf Balkonien verbracht hat, weil damals ja noch weniger Geld in den Arbeiterhaushalten als heute. Ja Urlaub auf Balkonien - ich mein, in Zeiten von Hartz-IV ist das natürlich wieder ne Alternative ne. AUTOR Allerdings: heutzutage baden nicht nur besonders arme, sondern auch besonders reiche Leute bevorzugt zu Hause in der Sonne. OT (Reinhardt) Der Anteil von besser verdienenden Managern ist höher als der Anteil von Arbeitslosen, die nicht in den Urlaub fahren. Weil die natürlich wieder ganz andere Zeitprobleme haben und deswegen nicht in den Urlaub fahren und vielleicht geschäftlich schon so viel unterwegs sind. da fängt das Zeitkontingent dann wirklich an den Urlaub stark einzuschränken und dazu zu sorgen, dass diese Gruppe eben auch zu Hause bleibt. AUTOR Nicht nur im Urlaub, auch im Alltag war Balkonien stets ein beliebtes Ausflugsziel. Die Autorin Irmela Hannover berichtet, dass früher - im Krieg - der Balkon sogar das tägliche Überleben gesichert hat. OT (Hannover) Ja, es gibt ja diesen Begriff des Balkonschweins. Ich denk mal, das war so ein Euphemismus für das Kaninchen, das man sich auf dem Balkon gehalten hat. Und dass man dann ne Notration Fleisch hatte in harten Zeiten und ähnlich hat man das auch mit Gemüse gemacht. Also in den damaligen Gartenzeitschriften gibt es richtig Artikel zu diesem Thema, wie man jetzt in diesen harten Zeiten auch diesen Balkon auch nutzen kann, um alle möglichen nützlichen Pflanzen da anzupflanzen. OT (Balkonkönigin) Und hier haben wir noch ne kleine Tomate. Es gibt neue Züchtungen, speziell für Balkone, das sind so kleine Zwergtomaten. ja, hab schon ordentlich geerntet, ist schon alles abgeerntet jetzt. Hab schon zwei Hände voll gehabt. REPORTER Grillen Sie hier auch auf dem Balkon? OT (Balkonkönigin) Also ich hab hier draußen kein Grill, weil die Wohnungsbaugesellschaft es eigentlich nicht gestattet. Aber es gibt ja viele Nachbarn, die grillen auch draußen, was man ab und zu mal riecht. REPORTER Und das zieht dann hier hoch? OT (Balkonkönigin) Und das riecht dann so lecker! Und dann kriegt man so einen Hunger. Ist ganz schlimm! AUTOR Schlimm, schlimm - sagen auch die Vermieter. Oder Nachbarn, die nach Streit hungern. OT (Ropertz) Ja, den meisten Ärger gibt es in Mietshäusern und auch in Wohnungseigentumsanlagen, wenn es um Krach, Lärm und so weiter geht bei der Benutzung des Balkons, aber natürlich auch wenn es qualmt, das heißt im Klartext, wenn gegrillt wird. AUTOR Ulrich Ropertz vom Deutschen Mieterbund kennt die Fehden, die viele Balkonier mit Gießkanne und Schaufel in der Hand über die Brüstung hinweg miteinander ausfechten. Denn wer viel draußen abhängt, hat auch viel Zeit, sich über die lieben Nachbarn aufzuregen - und sie bei der Polizei anzuschwärzen. OT (Ropertz) Es gibt hier Kompromissformeln, die hier die Gerichte gefunden haben, um die Interessen der Nachbarn miteinander in Übereinklang zu bringen. Da wird zum Beispiel gesagt: Man sollte das Grillen 48 Stunden vorher anmelden oder man dürfe in den Sommermonaten einmal im Monat und so was alles. Aber das sind Einzelfälle, die hier geregelt worden sind: also Vorsicht bei der Übertragbarkeit. Das Wichtigste ist, dass Mieter wissen, es darf nicht in die Nachbarwohnungen qualmen. MUSIK (Schlager) Wir machen Urlaub, hier auf Balkonien... AUTOR Besonders bizarr: die Balkonnutzung bei Reihen- und Mehrfamilienhäusern. Hier darf nichts dem Zufall überlassen bleiben, hier wird nach DIN-Norm geurlaubt. OT (Ropertz) Bei Wohnungseigentumsanlagen kann es über die Eigentümerversammlung auch die Vorgabe geben, dass schon aus optischen Gründen die Balkonbepflanzung einheitlich vorgenommen wird, dass heißt einheitlich Geranien oder einheitlich Rosen, einheitlich weiß-rot oder einheitlich weiß-blau. Also insbesondere im hochpreisigen Segment wird eigentlich erwartet, dass einheitlich vorgegangen wird. AUTOR Ansonsten gilt: Alles, was nicht im Mietvertrag schwarz auf weiß geregelt ist und den Nachbarn nicht zur Weißglut bringt, ist erlaubt. In Balkonien herrscht Freiheit. OT (Ropertz) Sie dürfen ohne weiteres züchten auf dem Balkon - insbesondere zum Beispiel Tomaten. Schwierig wird es, wenn sie Cannabis anpflanzen wollen. Da gibt es wiederum eine Reihe von Urteilen, die sagen: Cannabis anpflanzen verboten! AUTOR Balkonien ist kein Abenteuerland. "Action" heißt hier in der Regel: Sonnenbanden und Blattläuse sammeln. OT (Balkonkönigin) Man hat immer was zu tun. Wenn man Langeweile hat, dann kann man wieder anfangen dat Verblühte abzuzupfen - und da es ja hier genug Blumen gibt, da kommt keene Langeweile auf. MUSIK (Rock) Ein Blick gegenüber auf den Balkon gegenüber. Vielleicht ist jemand gestorben / Vielleicht ist er dreißig geworden: Doch eins ist klar: ich hab sie lang nicht mehr gesehen... AUTOR Balkon-Freaks, die sich tatsächlich einmal langweilen, haben immer noch eine Notlösung parat: Kopfkissen auf die Brüstung und ein Griff zur Sehhilfe. Vielleicht ist ja gegenüber was los. OT (Ropertz) Also es gibt kein mietrechtliches Urteil, was es verbietet, von seinem Balkon aus, seine Nachbarn zu beobachten. Wer allerdings sich hier als Spanner entpuppt, der muss möglicherweise mit Polizei- und ordnungsrechtlichen Maßnahmen rechnen, insbesondere wenn er mit Fernstecher und ich-weiß-nicht-was arbeitet. OT (Balkonkönigin) Ja, nee, also das ist bei mir noch nicht vorgekommen! REPORTER Wenn Sie sich so rüberlehnen, könne sie die Nachbarn, doch kann man was sehen ne? OT (Balkonkönigin) Na, schlecht. Also mehr so in die Richtung rüber, an der Seite geht's besser REPORTER Dann luschern Sie schon ab und zu mal? OT (Balkonkönigin) Nö! Nein! ....Nee, das macht man nicht.... Nein! Ach! Nee, achwo... Nee nee. -ENDE 1 - Beitrag 2 Auftrag: Ansichtskarte (Uschi Götz) MUSIK/ATMO (Japanische Musik / Geräusch auf Blatt wird geschrieben) AUTORIN Lieber Claus, gestern bin ich nach wirklich anstrengenden Tagen wieder in Tokyo angekommen. Ich habe den Kumotoriyama bestiegen, dann war ich noch kurz auf dem Mt. Nanatsuiishiyama - vom Minotomookubire Pass ging mein Weg direkt in die Thermalbäder von Tabayama Onsen... Also, hör endlich auf, allen zu erzählen, mein Horizont würde nur bis zum Feldberg reichen!! Liebste Grüße von deiner Stuttgarter Kollegin - Uschi ATMO (Eule ruft: uhh uhhh, Schritte, Geräusch: Briefkasten wird geöffnet/ wieder geschlossen) AUTORIN Und ab geht die Post, nach Berlin zu Claus direkt auf seinen - nicht mehr als solchen erkennbaren Schreibtisch. MUSIK (New York, Rio, Tokyo) AUTORIN Maiers, Müllers und auch Herr Tietz - alle haben es in diesem Jahr geschafft: Alle sind sie weit weg in den Urlaub verreist. Maiers in die Karibik, Müllers nach Kapstadt und Herrn Tietz zog es nach Las Vegas. Den Beweis für einen wunderschönen Aufenthalt fand die frühere Arbeitgeberin von Herrn Tietz in Form einer Postkarte eines Tages in ihrem Briefkasten: OT Ja, also wir haben die Karte schon für echt gehalten und haben ihm auch gegönnt, dass er dort seinen Urlaub verbringt. Und dann haben wir gesagt: wau! der hat es weit gebracht (lacht) MUSIK (Fly, fly away) AUTORIN Wer in diesen Tagen eine Postkarte von wem auch immer im Briefkasten findet, sollte genau hinschauen. Weniger auf die Karte - die ist echt. Eher, ob Maiers oder Müllers bei ihrer Rückkehr tatsächlich den Bräunegrad aufweisen, den das eigentliche Urlaubsziel hergibt. OT 50% wollen sicher den Kartenempfänger neidisch machen. Wir haben Kunde, die sind nur von Flugangst geplagt, die trauen sich in kein Flugzeug hinein, möchten einfach zum Spaß dem Empfänger nur mitteilen: schau her, ich bin doch geflogen. Oder viele versenden auch Liebesgrüße, wir hatten auch schon Heiratsanträge auf Postkarten. AUTORIN Nehmen wir als Beispiel Claus, einen durchaus hochgeschätzten Kollegen. Das Motiv wäre in diesem Fall Neid und Rache. Claus wäre Ihnen, sagen wir mal, höchstens 15 Euro wert: OT Also für 14,99 können sie Claus zum Beispiel ein Alibi aus Mauritius senden oder aus Los Angeles ATMO (Startendes Flugzeug) AUTORIN Im Fall von Claus muss die japanische Metropole Tokyo reichen. Je nach Budget lässt sich der Neid natürlich noch steigern. Ab 12 000 Flugmeilen aufwärts wird's ein bisschen teurer, Dafür kommt die Karte dann auch von Neuseeland, aus Sydney oder direkt aus der Südsee. OT Also wir fliegen teilweise selbst, wir werden teilweise auch von Mitarbeitern von Fluglinien unterstützt. Wenn die für uns fliegen, geben wir ihnen das natürlich auch sehr gerne mit. AUTORIN Das Urlaubsziel wird in der Regel im Internet ausgesucht und gleich per Kreditkarte bezahlt. Der Besteller bekommt dann eine einschlägige Motiv-Postkarte aus dem Land der fiktiven Träume, bereits mit einer länderspezifischen Briefmarke frankiert. Nur schreiben muss der Besteller noch am heimatlichen Küchentisch selber. Es gilt sich vorzustellen wie es beispielsweise auf Mauritius so ist: AUTORIN (und SPRECHER aus dem off) - 29 Grad (selbstverständlich stehen die vor Ort Temperaturen auch im Internet) - das Meer liegt vor mir (soviel sollte dem Autor alleine einfallen) - Das Hotel ist Top und die Menschen freundlich (Standard - das hat noch jeder drauf - aber) - Hier ist einfach alles Zucker. Soweit das Auge sehen kann. Überall wird Zuckerrohr, der wichtigste Exportartikel, angebaut (wau! Insiderwissen!) AUTORIN Spätestens hier sei die Frage erlaubt: wie krank der eigene Nachbar oder der Kollege eigentlich sein muss, wenn er Karten schreibt von Orten an denen er nie war? Diese Frage muss kurz tiefenpsychologisch abgehandelt werden. GERÄUSCH (Klingel, Ding dong) AUTORIN Ist der Nachbar ein Fall für die Couch? Ein klares Jein von Psychoanalytikern Blanche von Conta: OT Ich nehme an, das ist jemand, der sich eigentlich klein fühlt und Unterlegenheitsgefühle hat und sich auf diese Weise eine Größenfantasie erfüllt. Der tut dann so, als wäre er an Orten, die er erreichen kann, obwohl er die eigentlich nie erreichen kann und baut sich eine Scheinwelt auf. Und ein Auftrumpfen, so eine Triumphgefühl, auch über den Nachbarn also sozusagen aus dem Kleinheitsgefühl mit einem Salto in eine Überlegenheitsposition. AUTORIN Ein erhellendes Psychogramm über das Wesen des Nachbarn. Doch es sind nicht nur Menschen mit Größenfantasien, die Karten in Auftrag geben; der eingetrudelte Gruß aus Paris könnte auch ablenken vom eigentlichen Aufenthalt des Absenders: OT Ja ich vermute mal, dass die ihr Wochenende mit jemand anders sonst wo verbringen möchten und ein Alibi für die Zeit haben. MUSIK (Tatort - Titelmusik) OT Es gibt natürlich verschiedene Steigerungen, aber es ist natürlich alles kurios. Es fängt einmal an beim einfachen Alibi, dann bis zu einer Geschäftsfrau, die vor gibt Geschäftsfrau zu sein ... die schreibt regelmäßig Karten aus New York schickt an ihre Bekanntschaft oder Verwandtschaft. GERÄUSCH (Klingel, Ding dong) AUTORIN Hier muss noch einmal die Analytikern ans Werk: OT Neid ist leider angewachsen - an alle. Und ich glaube, dass das auch in die Irre führt, wenn man das versucht zu bewerten oder als Pathologisch einzustufen; das ist etwas, womit wir alle leben müssen, ob wir das wollen oder nicht. Jeder hat irgendwann irgendeinen Neid gegen irgendjemanden. Und man muss dann gucken, wie groß ist der und wie verbreitet ist der und wie eingestrickt in das Leben des Einzelnen. Wenn der dadurch wirklich unglücklich wird muss man was tun. Dann muss man kucken, was hat den gemacht, dass er sich immer so unterlegen fühlt... AUTORIN Und so wird für viele die Karte, die nie geschrieben wurde auch zum Ventil - zur Therapie für das angeknackste Selbstwertgefühl. Es gibt weitaus schlimmere Kompensationsmechanismen für scheinbare Defizite. Ein Trost vielleicht: Auch die Japaner leiden zunehmend unter gesellschaftlichen Zwängen. Für viele ist die Reise zum Heidelberger Schloss unbezahlbar. Auch wenn man es vor Ort kaum glauben mag, dass nicht doch alle mit ihren Fotoapparaten angereist sind: OT Wir sind zurzeit sehr stark in Japan aktiv, weil wir großen Markt für uns sehen ... weil sehr viele Japaner haben ja diesen Druck, diesen sozialen Druck, ne' Europareise zu machen. Und wir haben auch schon Bestellungen aus Japan diesbezüglich. AUTORIN Ein multikultureller Postkartenaustausch scheint sich da anzubahnen... Karte aus Kapstadt ist angekommen, schrieb neulich ein beglückter Kunde ins Gästebuch: Der Empfänger hat sich bei mir gemeldet und er hatte keine Zweifel, dass ich selbst nie in Kapstadt war. Am Ende hatte ich selbst schon fast vergessen, dass ich nie dort war. -ENDE SENDUNG - 1