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Musikakzent O-Ton Klaus: Na ja, es hat meistens nur so zehn Minuten gedauert bis es eskaliert hat und dann wurde ich schnell ins Bett geschickt. Um nichts zu verpassen, bin ich dann noch draußen im Flur gestanden und hab mir so ein paar Sachen mit angehört, aber wirk- lich viel habe ich bei dem Geschrei nicht mitgekriegt. Man überlegt, was man machen könnte. Doch allein wegen dem Alter und der Größe kann man da sehr wenig tun. Musikende Sprecherin: Zwei Kinder. Zwei Schicksale. Und doch eine Geschichte. Deutschlandweit gelten aktuellen Schätzungen zufolge allein 2,5 Millionen Menschen als alkoholabhängig. Und viele von ihnen haben Kinder. Wenn Eltern alkoholabhängig sind, stehen die Kinder zu Hause unter einer ständigen Hochspannung aus Angst davor, dass aus einer harmlosen Situation plötzlich ein Pulverfass wird. So haben es die heute 8jährige Ricarda Hoch und Klaus Schäfer erlebt. Ricarda versteckte sich im Schrank, als die Auseinandersetzungen wieder begannen. Klaus blieb an der Tür stehen. Und beide fühlten sich schuldig. Musik O-Ton Ricarda: Ich hatte manchmal auch das Gefühl, dass es wegen mir war, dass die sich streiten. Sie haben sich manchmal auch gestritten: der bezahlt das nicht. Die bezahlt das nicht. Und dann habe ich manchmal gedacht, dass ich zu wenig bezahle. Dann habe ich gespart und habe auch meinem Vater und meiner Mutter Geld angeboten, wenn sie keins hatten. Haben sie nicht angenommen, weil's ja mein Geld war. O-Ton Klaus: Ja, ich hab halt meistens gedacht, na ja, meine Eltern streiten wieder. Ich habe heut ne schlechte Note gehabt, oder ich habe nicht gemacht, was meine Mutter gesagt hat. Es ist halt öfter mein Name gefallen und der Name meiner Schwester. Sprecherin: Die ständige Angst, die Sorge und die Schuldgefühle sind für die Kinder aus Familien mit einem Alkoholproblem eine ständige Überforderung. Nach außen sind sie jedoch zum Schweigen verurteilt Alkoholkranken häufig selbst krank. Sylvia Ratzeck von den Guttemplern aus Berlin - Neukölln weiß aus Erfahrung, dass Kinder ungern über die Geschehnisse zu Hause sprechen. O-Ton Frau Ratzeck: Sie lieben ihre Eltern und diese ganze Suchtgeschichte ist ein Familiengeheimnis. Darüber spricht man nicht. Es bleibt eigentlich in der Familie. Wenn dann nachher ein Familienteil ausbricht und zeigt, ich rede darüber, ich hole mir Hilfe, dann hat man auch einen leichten Zugang zu den Kindern. Aber Kinder, es dauert oft sehr, sehr lange bis die Kinder überhaupt über die Sache reden. Sprecherin: Dabei wäre es wichtig, wenn sie das Schweigen durchbrechen könnten. Deutsch- landweit gibt es mittlerweile die verschiedensten Selbsthilfegruppen. Die Guttempler sind eine davon, die sich mit ihrem Angebot an die ganze Familie richten. Al-Anon ist eine andere, an die sich ausschließlich die Angehörigen von Süchtigen wenden kön- nen. Dass das Augenmerk auch auf die Kinder verstärkt gelegt werden muss, darin sind sich alle einig. O-Ton Frau Ratzeck: Und wenn sie bei uns in der Kindergruppe die Erfahrung haben, das sie Sachen erzählen können, die vertrauensvoll behandelt werden. Das heißt die Kinder erzählen etwas und ich renne nicht gleich zu den Eltern und sage, was habt ihr denn da ge- macht. Das geht nicht. Die Kinder, wenn sie mir etwas anvertrauen, oder einer anderen Mitarbeiterin hier im Kreis, dann bleibt das in dem Kreis. Es sei denn, man redet mit dem Kind und sagt, passt auf, ich kann euch helfen, aber da muss ich mit deinen Eltern reden. Sprecherin: Aber genau das ist nicht leicht. Oft sind sie es, die nichts nach außen dringen lassen wollen. Obwohl Alkohol in der Gesellschaft ein gängiges Genussmittel ist, wird dar- über geschwiegen, sobald klar ist, dass regelmäßig bis zur Veränderung der Persön- lichkeit getrunken wird. O -Ton Klaus: Nach außen war die Familie immer eine Standartfamilie, sage ich mal. Aber nie wirk- lich jetzt, dass die Nachbarn wissen, ah der ist Säufer und der macht das und der macht das, sondern es war immer so eine Standartfamilie. Sprecherin: Doch der Weg in eine Selbsthilfegruppe ist oft nicht leicht. Erst wenn die Familie droht nach außen in die Brüche zu gehen, holen sich manche Hilfe. Oft sind es sogar die Kinder selbst, die den Anstoß gegen. So wie bei Ricarda Hoch. O-Ton Ricarda: Wenn ich dann richtig Angst hatte, dass sie sich weiter streiten, dann habe ich es meiner Mutter gesagt und dann habe ich es meinem Vater auch mal gesagt und dann hat sich mein Vater entschlossen, einfach wegzuziehen. Sprecherin: Mit dem Wegzug des Vaters beruhigte sich die Situation deutlich. Inzwischen kann Ricarda ihren Vater wieder regelmäßig sehen, denn seit der Trennung ist er trockener Alkoholiker geworden. Auch für Klaus Schäfer entspannte sich die Situation erst, als seine Mutter mit Konsequenzen drohte. O-Ton Klaus: Ich sag teilweise, dass meine Mutter mir das Leben gerettet hat und meiner Schwes- ter. Weil, ich möchte jetzt nicht unbedingt wissen, wie es mit uns ausschauen würde, wenn mein Vater jetzt noch trinken würde. Meine Mutter hat praktisch meinen Vater, sage ich mal, vom Alkohol weggebracht. Sie hat gesagt, entweder du hörst auf zu trinken oder ich gehe mit den Kindern fort. Also eiskalt. An dem Abend war dann sein letztes Bier und seitdem hat er kein Schluck Alkohol mehr getrunken. Sprecherin: Nicht immer ist die Androhung von Konsequenzen so erfolgreich wie in diesen bei- den Fällen, denn oftmals spielt Gewalt oder deren Androhung in solchen Familien eine große Rolle. Ricardas Mutter und auch die von Klaus Schäfer nutzten in dieser schwierigen Entscheidungssituation das Angebot verschiedener Hilfsgruppen. Hier erst lernten sie, Wege aus dem Teufelskreis der Sucht ihres Partners zu finden. Sie lernten, mit der eigenen Hilflosigkeit umzugehen und sie schafften so für ihre Kinder einen Freiraum, in dem diese erstmals geschützt und ohne Angst über ihre Sorgen und Ängste sprechen konnten. O-Ton Klaus: Sie ist damals durch Bekannte in die Gruppe gekommen und dann hat sie gesagt, komm schau es dir mal an. Die ersten zwei Jahre habe ich in der Gruppe gar nichts gesagt. Bis ich dann irgendwann meinen Mund aufgemacht hab und über meine Probleme zu Hause geredet hab und seitdem ging es eigentlich mit der ganzen Fa- milie bergauf. Musik Sprecherin: Viele Angehörige von Süchtigen bleiben oft Jahre in diesen Selbsthilfegruppen. Sie genießen die vertrauliche und familiäre Atmosphäre. Es ist der Schutzraum, den sie brauchen, um das Vertrauen für sich selbst und für den weiteren Weg wieder zu be- kommen. Ihre Kinder hingegen weichen Gesprächen und möglichen Auseinander- setzungen erst einmal aus. Schließlich haben sie erlebt, dass Streit stets eskalieren kann und demnach nicht friedlich zu lösen ist. Auch haben sie nicht gelernt, sich auf andere hundertprozentig verlassen zu können. Das alles muss aufgebaut werden. Schritt für Schritt. Am besten mit den Eltern gemeinsam. Bei Klaus Schäfer ist es gelungen, nachdem der Vater aufgehört hat zu trinken, ist die Familie wieder zu- sammengerückt. O-Ton Klaus: Seitdem hat er mehr mit der Familie gemacht. Er ist nicht mehr aggressiv. Ich habe ihn nicht mehr richtig aggressiv erlebt also seit dem Zeitpunkt. Ja, es ist ein ganz an- deres Familienklima. Also es sind nicht mehr allzu große Spannungen im Raum. Ja, es ist einfach freundlicher geworden. Mit meinem Vater spreche ich mittlerweile so ziemlich alle Probleme. Er ist ein sehr guter Freund für mich. Seitdem er nichts mehr trinkt, kann ich mit ihm über alles reden. Sprecherin: Doch nicht für alle Kinder aus Suchfamilien geht das so gut aus. Für viele gibt es keinen Ausweg, keine Hilfe. Niemand ist da, der sie auffängt. Entweder ist die Mutter zu sehr mit der Problematik des trinkenden Partners und/oder mit sich selbst be- schäftigt oder sie greift selbst zur Flasche. Kinder, die in solchen Verhältnissen groß werden, werden kaum Widerstandskraft für ihr Leben aufbauen. Fachleute sprechen hier von Resilienz. Es war die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner, die 1977 in einer Studie an fast 700 Kindern erstmals von der Fähigkeit zur Resilienz sprach. Werner hatte die hawaiianische Kinder untersucht, die unter schwierigen sozialen Bedingungen lebten, Armut und Gewalt ausgesetzt waren. Die Psychologin konnte zeigen, dass sich die Kinder im Durchschnitt zwar negativer entwickelten als Kinder, die keinen solchen Risikofaktoren ausgesetzt waren, aber ein Drittel dieser Kinder entwickelten sich - trotz der Risikofaktoren - zu gesunden Erwachsenen. Mehr noch, sie entwickeln eine große Empathie und Sensibilität für andere Menschen. In der weiteren Resilienzforschung bestätigte das Kinderpsychiatriekolleg 2009 in Köln, dass vor allem eine gute Mutter/Kindbeziehung in den ersten Lebensjahren das Kind stabilisieren und resilient machen kann. Kinder lernen Resilienz also erst dann, wenn sie spüren, dass sie so wie sie sind akzeptiert, gesehen und geliebt werden. Kinder, die mit ihren Ängsten und Gefühlen allein gelassen sind, verzweifeln an der Situation und beginnen unter Umständen selbst mit dem Trinken. So wie Stefan Meyer. Der heute 30jährige fing mit 11 Jahren an zu trinken. O-Ton Stefan Meyer: Ich hatte mich davor kräftig schrecklich geekelt. Ich hatte auch jedes Mal einen Ab- sturz. Ich habe mich jedes Mal übergeben. Nach ein zwei Bier habe ich mich über- geben. Dann bin ich auch noch mit Leuten aus der Siedlung groß geworden, die sind alle vier, fünf Jahre älter als ich.Zu denen habe ich mich hingezogen gefühlt. Ich 11, die natürlich 14, 15, 16. Die haben natürlich schon ihren Sechserpack gehabt und da wollte ich mithalten. So habe ich mir, dass ich das vertrage, angezwungen. Sprecherin: Nicht nur die Jungs aus der Siedlung tranken, auch bei Stefan Meyer zuhause war Alkohol ein ständiger Begleiter. Hier tranken Vater und Mutter. Dadurch, war er sich selbst überlassen und er konnte sozusagen machen, was er wollte. Fernsehen etwa. Niemand achtete auf das Kind. Prügel hat er zwar nie von seinen Eltern bekommen, aber Stefan Meyer war dabei, wenn die Mutter den Vater schlug. O-Ton Stefan Meyer: Die haben ja manche Nächte auch durchgesoffen. Kam ja auch vor.Einmal haben sie sich so heftig gestritten, dass meine Mutter mit einem Küchenmesser auf ihn los woll- te. Da hat er das noch abgewehrt. Und dann hat sie die ganze Couch zerschnitten. Na ja, ich habe geweint und wenn mein Vater in dem Sinne Dresche bekommen hat, dann bin ich zu ihm gegangen und wollte ihn beschützen und habe gesagt: Mama, Mama nein. Dann habe ich mich meist hingelegt im Wohnzimmer auf das Sofa oder auf die Couch oder er hat sich die Matratze aus dem Schlafzimmer geholt und ich bin mit ihm dort eingeschlafen. Sprecherin: Auch ein typisches Verhalten dieser Kinder. Sie stellen sich vor den Schwächeren, versuchen ihn zu schützen ihn. Damit übernehmen sie eine Rolle, der sie nicht ge- wachsen sind. Für Stefan Meyer wird der Vater trotz alledem zu seiner Vertrauens- person. Als er elf Jahre alt ist, stirbt der jedoch Vater und das ist der Zeitpunkt, wo der Sohn selbst zur Flasche greift. Den Verlust des Vaters kann er nicht überwinden. O-Ton Stefan Meyer: Es war auch viel Wut, denke ich von mir. Manche Tage bin ich heute noch wütend auf ihn. Weil ich denke, er hätte es verhindern können. Heute sage ich, oder damals habe ich zu meiner Mutter gesagt, Vater hat sich ja tot gesoffen. Sagt sie, nein. Aber ich denke, wäre er zum Arzt gegangen, dann würde er jetzt vielleicht noch leben. Auf jeden Fall hätte er dann länger gelebt. Deshalb gebe ich ihm auch die Schuld. Sprecherin: Seine Mutter trinkt auch nach dem Tod des Vaters weiter. Hilfe bekommt das Kind lange keine. Er beginnt neben dem Alkohol auch Drogen zu nehmen, wird strafffällig und hat letztendlich Glück. Er wird nicht zu einer Haftstrafe, sondern zu einer Thera- pie verurteilt. Seit zwei Jahren ist er nun trockener Alkoholiker. Drogen nimmt er be- reits seit fast zehn Jahren nicht mehr. Während der Therapie lernte Stefan Meyer seine jetzige Frau kennen. Mit ihr hat er heute zwei kleine Kinder, um die er sich für- sorglich kümmert. Seine Frau meint, einen besseren Vater als ihn, könne sie sich für ihre Kinder nicht vorstellen. O-Ton Stefan Meyer: Ganz selten erinnert mich irgendeine Situation an damals, weil, ich habe damit ab- geschlossen. Ich habe einfach gesagt zu mir. Klar sollte man, so habe ich es in der Guttempler Gemeinschaft gehört, dass man bestimmte Dinge nicht verdrängen soll- te, die damals passiert sind. Aber ich habe gesagt für mich, ich hab ein neues Leben und ich will das, was damals war, nicht noch einmal erleben. Ich habe das ab- geschlossen und ich will das meinen Kindern nicht antun, das zu erleben, was ich erlebt habe. Und deswegen gibt es hier keinen Alkohol. Sprecherin: Auch Stefan Meyer besucht heute noch regelmäßig eine Selbsthilfegruppe. Hier, unter Gleichgesinnten hat er gelernt, über seine Probleme zu reden. Dass die Kinder anfangen können über ihre Situation zu sprechen ist also eine wich- tige Voraussetzung dafür, dass sie die Situation zu Hause verarbeiten können. Das meint auch Henning Mielke, Gründer und Leiter von "Nacoa Deutschland". O-Ton Henning Mielke: Was die Gruppen anbieten, sind meistens Spielangebote. Dass die Kinder eine Mög- lichkeit haben, aus dieser überverantwortlichen Haltung, die sie zu Hause einnehmen und einen Raum haben, wo sie einfach nur Kinder sein dürfen. Wo sie keine Ver- antwortung übernehmen müssen. Wo sie nicht für Erwachsene irgendetwas managen müssen. Sondern wo sie wirklich spielen, ausgelassen sind. Und dass wenn ihnen was auf der Seele liegt, mit einem geschulten Pädagogen darüber sprechen können. Sprecherin: Ursprünglich entstand Nacoa in den USA als eine Reaktion auf die immer größer werdende Zahl von Selbsthilfegruppen für erwachsene Kinder von süchtigen Eltern. 2004 gründete Henning Mielke "Nacoa" in Deutschland. Das Ziel: Frühzeitig auf die Kinder in Suchtfamilien aufmerksam zu machen. Deshalb veranstaltet Nacoa auch dieses Jahr gemeinsam mit dem Düsseldorfer Verein "Kunst gegen Sucht" und "Such(t) und Wendepunkt in Hamburg" die bundesweite "Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien". O-Ton Henning Mielke: Also, unsere wichtigsten Verbündeten sind zum Beispiel Menschen, die in Projekten arbeiten für Kinder aus Suchtfamilien arbeiten. Die kriegen von uns über den E-Mail Verteiler die Information, es ist Aktionswoche. Und die sitzen dann teilweise auch schon in den Startlöchern. Und die sehen das natürlich als eine große Chance, in dieser Woche im Februar auf ihre Angebote aufmerksam zu machen. Sprecherin: Henning Mielke hat mit Nacoa Deutschland ein Forum gegründet, das sich aus- schließlich damit beschäftigt, bundesweit mit Angeboten und Programmen Ver- antwortliche in Schulen, Kindergärten und in Arztpraxen für die Situation dieser Kinder zu sensibilisieren. Zeitgleich mit den Kollegen in Florida organisiert er nun schon das zweite Jahr diese bundesweite Aktionswoche. Auch über das Internet laufen Aktionen. Zum Beispiel über Schüler VZ oder Studi VZ. O-Ton Henning Mielke: Da gibt es ein richtiges Streetworking-Team, die halt mitkriegen, wie es den Schülern so geht. Und da wird viel erzählt über Essstörungen, selbst verletzendes Verhalten, über Depressionen, über Selbstmordabsichten. Und sie haben recht gut verstanden, dass in vielen dieser Fälle Suchtprobleme der Eltern der Subtext sein können. Sprecherin: Auf der Website von Nacoa wurde sogar eine extra Kinderseite eingerichtet. Hier erfahren Kinder nicht nur viel über "Alkoholismus", sondern sie lernen auch, dass sie nicht verantwortlich sind für ihre Eltern. Es gibt den Hinweis auf die Nummer des Kindernotrufes, wo Kinder rund um die Uhr kostenlos sich Rat und Hilfe holen kön- nen. Erste Schritte. Doch Henning Mielke weiß aus seiner 18jährigen Erfahrung in Selbsthilfegruppen sehr genau, dass Vertrauen die erste Grundlage für ein Gespräch mit Kindern ist. Eine Webseite kann nur die Richtung angeben, gefragt ist das Um- feld der Kinder: die Verwandten, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Leh- rer, Nachbarn, Ärzte und das Jugendamt. Musik Sprecherin: Der ärztliche Leiter der Potsdamer Heinrich-Heine-Klinik für Psychosomatik, Martin Lotze, trifft auf diese Kinder, erst wenn sie erwachsen sind und keine Vertrauens- person gefunden haben. O-Ton Martin Lotze: Man merkt das häufig schon im Rahmen des ersten Kontakts, im Rahmen des ersten Gesprächs. Der Patient erzählt, er hätte ein Burnout und schildert dann eine negative Symptomatik mit Freudlosigkeit, mit Grübelneigung, mit Antriebsschwäche, mit Konzentrationsstörung, Schlafstörung. Vielleicht auch begleitend Schmerzen. Und im Rahmen des ersten Gesprächs bespricht man mit dem Patienten die allgemeine Lebenssituation. Da gehört natürlich neben der beruflichen, die familiäre, partner- schaftliche Beziehung dazu. Und da kriegt man auch häufig relativ schnell einen Ein- druck, dass da auch auffällige Beziehungsmuster, zum Beispiel in der Partnerschaft vorhanden sind so im Sinne einer Ko-Abhängkeit zum Beispiel. Das sind eben häufig auch Biografien, die eben auch in der Kindheit, in der Jugend, schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dass eins der Elternteile zum Beispiel alkoholkrank war. Und dann fast wie eine Wiederholung bestimmte Be- ziehungsmuster sich im erwachsenen Alter wiederholen. Also das, was sie als Kind erlebt haben mit einem alkoholkranken Vater zum Beispiel sich eben, wenn sie er- wachsen sind, einen ähnlichen Partner aussuchen. O-Ton Henning Mielke: Das ist wie tanzen lernen. Also in der Suchtfamilie lernt man, wie man Walzer tanzt. Das geht immer eins zwei drei eins zwei drei. Und die Kinder lernen, wenn man tanzt, dann geht das eins zwei drei eins zwei drei. Und dann kommen die Kinder raus aus der Familie, sind in der Schule, oder in der Ausbildungsgruppe oder in der Uni- versität, oder später in einem Betrieb, im Sportverein, wo auch immer und sie stellen fest, draußen tanzen die Menschen auch. Die tanzen alles Mögliche. Die haben mehrere Tänze im Repertoire. Die tanzen zu Beispiel Discofox, Salsa, Tango, oder weiß der Himmel was alles und das verwirrt die, denn sie können nur eins zwei drei, eins zwei drei. Die können mit den anderen nicht so richtig was Vernünftiges an- fangen. Und dann sehen sie da hinten in der Ecke, da ist noch einer der tanzt auch nur eins zwei drei. Der beschränkt sich auch nur auf das eins zwei drei, eins zwei drei. Na klar, da gehen sie natürlich hin, weil das sehr vertraut ist. Das heißt, sie suchen sich das was ihnen vertraut ist, auch wenn das Vertraute für sie schmerzhaft ist. Sprecherin: Das heißt aus Angst vor dem Ungewissen bleiben Kinder aus Suchfamilien in Be- ziehungen, die sie unglücklich machen. Oder sie beenden die eine Beziehung, suchen sich aber eine neue mit der gleichen Struktur. Martin Lotze: O-Ton Martin Lotze: Das ist relativ häufig so, dass solche Strukturen, solche Beziehungsmuster, solche Verhaltensmuster häufig erst einmal gar nicht klar sind. Und häufig erst dann in der 4. - 5. Lebensdekade eigentlich erst zu dem Dekompensieren kommt. Bis dahin haben sie es geschafft, ihr Leben irgendwie auch zu leben und irgendwann dann so mit Anfang 40, 50, oder 60 geht's dann nicht mehr. Sprecherin: Viele erwachsene Kinder verdrängen ihre Erfahrung mit den alkoholkranken Eltern erfolgreich, oft über Jahre. So wie Eva Coblenz. Erst jetzt mit fünfzig, nach dem Tod ihrer Mutter, ist ihr der Einfluss des alkoholkranken Vaters auf sie und ihr Leben be- wusst geworden. O-Ton Eva Coblenz: Ich wusste, dass mein Vater Alkoholiker war, aber ich habe das nicht übereinander gekriegt, was das eigentlich mit mir zu tun hat. Welche Prägung ich davon hab. Keine Ahnung... Ich habe mich damit auch nicht beschäftigt, leider nicht. Sprecherin: Die Erinnerung an ihre Gefühle von damals scheint ausgelöscht. O-Ton Eva Coblenz: Das ist ein Riesenthema. Ein Riesenproblem. Weil die Erinnerung ist ja an Gefühle geknüpft und was man nicht fühlt, erinnert man auch nicht. Und ich erinnere ganz wenig. Wenn Kinder in einer dysfunktionalen Familie aufwachsen, dann erleben sie auch Schmerz. Also jetzt nicht unbedingt im Sinne von Gewalt, im Sinne von Weggeschuppst werden, ich sag mal so eine emotionale Vernachlässigung. Und um diesen Schmerz nicht zu fühlen, stellen die einfach ihre Gefühle ab und damit auch gleichzeitig die Erinnerung. Und das muss ich offensichtlich gemacht haben. Sprecherin: Erst jetzt beginnt sie zu verstehen, was damals mit ihr geschehen ist. Auch damit ist Eva Coblenz kein Einzelfall. Martin Lotze. O-Ton Martin Lotze: Erst einmal ist das natürlich auch ein Versuch, des Ichs, des Selbst irgendwo zu schützen. Ich kann ja als Kind unter Umständen, wenn ich solche traumatischen Er- fahrungen mache, damit gar nicht umgehen. Ich kann das gar nicht bewältigen. Ich drohe daran zu zerbrechen als Person, als Mensch und dann ist das eigentlich ein Selbstschutz, diese Dinge dann regelrecht abzuspalten. Insofern ist das auch ver- stehbar und hat eine gewisse Funktion. Und es ist schon so, auch im Rahmen einer Behandlung, in dem Moment, wo man sich dem zuwendet und solche Erinnerungen wieder auftauchen, geht es häufig mit einer dramatischen Verschlechterung des Zustandes der Patienten einher. Wo natürlich schwere psychische Krisen dann ent- stehen können und dass es eben dann Aufgabe der Therapie ist, diese Menschen in dieser Phase dann auch zu begleiten. Und auch zu vermitteln, dass obwohl es so schlimme Erfahrungen sind, dass man damit umgehen kann. Wenn man sich dem stellt, wenn man sich dem stellt und nicht nur verdrängt. Sprecherin: Eva Coblenz ist seit 25 Jahren verheiratet und obwohl ihr Mann alles getan hat, da- mit es ihr gut geht, fühlte sie sich stets unglücklich. O-Ton Eva Coblenz: In seiner Hilflosigkeit hat er eine unglaubliche Fürsorge entwickelt. Er war einkaufen. Der hat mir immer den Kaffee ans Bett gebracht. Der hat alles Mögliche getan für mich. Aber das was ich wirklich gebraucht habe, das konnte er mir aus der Über- forderung heraus nicht geben. Der Punkt ist, ich bin nicht richtig. Ich werde nicht ge- liebt. Ich muss was leisten, damit ich geliebt werde. Ich werde nicht gesehen. Und das sind die Sachen, die sind damals entstanden. Sprecherin: Die Problematik des trinkenden Vaters wurde Eva Coblenz immer bewusster, doch machte sie ihn nie dafür verantwortlich. O-Ton Eva Coblenz: Ich war nie sauer auf meinen Vater, dass er Alkoholiker war. Komischerweise war ich auf meine Mutter immer sauer. Total sauer und zwar, weil sie uns nicht gerettet hat. Sie ist in der Beziehung mit dem Mann geblieben. Also das geht meiner Schwester auch so. Sie war ja älter und sie hat gesagt, komm Mama wir gehen, lass doch den. Wo sie halt alt genug war. Das schaffen wir schon. Aber meine Mutter hat einfach totale Angst gehabt alleine. Sprecherin: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wirft ihre Schatten. Eva Coblenz er- leidet einen Nervenzusammenbruch. Sie lässt sich in einer Klinik für Psychosomatik behandeln. Seitdem sie entlassen ist, besucht sie regelmäßig e ine Selbsthilfe- gesprächsgruppe. Auch für sie ist der Dialog mit Gleichgesinnten wichtig. So hätte sie gelernt, Schwäche zu zulassen und Hilfe anzunehmen. O-Ton Eva Coblenz: Ich war ne totale Kämpfernatur. Ich kämpfe heute nicht mehr. Ich setz mich schon ein für mich, aber ich muss nicht mehr Leuten über den Mund fahren. Ich muss nicht mehr Hauptsache ich. Mach ich nicht mehr. Ich kann auch heute sagen, OK! Das ist wie es ist. Es muss nicht mehr rot sein, wenn es kein rot gibt. Dann ist eben grün. Sprecherin: Auch erwachsene Kinder haben noch eine Chance ihre eingebrannten Bilder zu mo- dellieren. Besser aber ist es Kinder im Kindesalter mit Vertrauen und Zuversicht in ihren Handlungen zu stärken, so dass sie auch mit scheinbar unlösbaren Situationen umgehen lernen. Wichtig ist dabei, einen Menschen zu finden, dem sie vertrauen können. Einen Menschen, der ihnen zuhört und mit ihnen spricht. Nichts habe ihm mehr geholfen, sagt auch Klaus Schäfer. O-Ton Klaus: Am besten wäre natürlich reden. Das ist fast das Einzige, was hilft in dem Moment. Einfach über die Probleme, die zu Hause sind, reden. Ansonsten geht man kaputt. Das muss ich echt sagen, weil, man wird dann immer ruhiger, wenn man nicht über die Probleme redet. Man ist dann praktisch ja in der eigenen Welt und kommt nicht mehr raus. Musik Sprecherin: Erwachsene für die Situation der Kinder in Suchtfamilien zu sensibilisieren, das sollte nicht nur das Anliegen einer Aktionswoche sein. Es sollte alltägliche Praxis in den Familien selbst und in deren Umfeld sein. Erwachsene müssen hinschauen. Sie dürfen nicht über diese Kinder hinwegsehen, sondern sie akzeptieren, ihnen zuhören und falls möglich Wegweiser sein. So dass die Kinder, deren Eltern süchtig sind, ler- nen, es gibt am Ende des Tunnels ein Licht. Nur so lässt sich der ewige Teufelskreis aus Sucht und Co-Abhängigkeit durchbrechen. Nur so werden Kinder stark. Musikausklang ENDE 1